Prüfungen

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Die Tür kracht ins Schloss. Herr K hat seinen Sohn zum letzten Mal lebend gesehen. Aber das weiß er nicht. Außer Kontrolle geraten schlägt er einen Kunstbildband (die Zeichnungen von Max Ernst) mehrmals auf den Tisch und das kracht mindestens ebenso laut wie die Tür, die sein Sohn eben hinter sich zu geschlagen hat. Dieser letzte Streit hat ein Maß an Aggression erreicht, das selbst ihn bestürzt.
Er ist volljährig! Er ist volljährig! Er ist volljährig“ hämmert es in seinem Kopf. Er muss wissen, was er tut. Sein Sohn weiß es nicht, doch das unterschätzt Herr K, der noch mit Pferdle und Äffle groß geworden ist.
Tim ist ein intelligenter 18-Jähriger, ein bisschen eigenbrötlerisch, gewiss, durch falsche Freunde verdreht, von denen K ihm stets gesagt hat, wie wenig er von ihnen hält. Doch dem Kind fehlt ja die Mutter. Gedanken, die K schon ´zig mal wiedergekäut hat in Stunden des Selbstzweifels. Er hört noch ein weiteres Türenschlagen, dieses Mal weiter entfernt. Draußen im Garten jubeln die Vögel und sonnt sich das Blattwerk an Baum und Strauch mit dem Gesicht nach oben.

Tim schließt sich in seinem Zimmer ein und fährt den PC hoch. Sein Gesicht ist so ausdruckslos, als habe er keinesfalls eben seinem Vater gestanden, dass er von der Schule geflogen ist - - verwiesen wurde. .. von einem Monster, das sich Direktorin schimpft, jedoch eine Mutantin aus alten Nazi-Stasi-Zeiten ist, die alles vernichtet, was nicht die Hand zum Hitlergruß hebt. Leider hat er in ihrer Gegenwart einen – ähem – Witz gemacht, den sie nicht hätte hören dürfen. Dann brauchte nur noch der Schwindel mit dem falschen Attest aufzufliegen, mit dem er sich letzte Woche krank gemeldet hat, und Frau Direktor hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihren Erzfeind entsorgt – in eine ungewisse Zukunft.

Der Alte hat ganz schön am Rad gedreht. He he. Aber der hat ja auch `ne Menge zu verlieren mit seinem Pöstchen als Sparkassenvorstand, fick dich, da kann er mit einem Sohn, der kurz vor dem Abi von der Schule fliegt, keinen Staat machen. Der mit seiner Paranoia wegen dem vermeintlichen Gerede der Leute. Gekifft wird auf allen Erdteilen. Tim verzieht sein Gesicht zu einer zynischen Fratze und stellt sich vor, wie die Leute mit Fingern auf seinen Vater zeigen und wie man sich dann aus betrieblichen Gründen von ihm trennt. Doch auch dieser Triumph ist nicht stark genug gegen das explosive Material in seinem Bauch. Scheiße Scheiße Scheiße, repetiert es in seinem Hirn wie eine Pump Gun, während der Bildschirm betriebsbereit aufleuchtet und seine Homepage sich öffnet. Er zwingt sich, nicht daran zu denken, keinen Gedanken darauf zu verschwenden. Er klickt auf die Fotogalerie und beruhigt sich an seinen Selbstportraits, die ihn zeigen, wie er wirklich ist, und wovon sein Alter nicht den leisesten Schimmer hat. Im Netz.

K läuft im Wohnzimmer auf und ab, versucht, sich zu beruhigen. Er würde die Direktorin anrufen, er würde mit ihr reden, er würde ihr vielleicht Geld anbieten, damit sie seinem Sohn das Abitur ermöglicht, er würde… was er alles würde…, dann klingelt sein Handy. Mechanisch meldet er sich und sofort ist seine Stimme gefasst und geschäftlich und er geht unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Durch die weit geöffneten Balkonfenster fällt sommerliches Licht auf das geräumige Zimmer mit den Flötotto Möbeln und dem teuren Teppich, in den er die Zehen gräbt. Schließlich war er auch mal jung, denkt er, während er mit dem Geschäftskunden wegen eines Investitionsdarlehens spricht. Er fährt sein Notebook hoch und prüft seinen Kalender. Er muss heute Nachmittag zwei Kunden besuchen und einen Vertragsentwurf durchsehen. Sein Zeitplan ist minutiös und erlaubt keine Verzögerungen. Zerstreut fährt er sich durchs Haar. Ja… ja… natürlich, die Due Diligence Prüfung muss abgewartet werden, vorher können wir nichts tun. Wir werden Sie dann entsprechend zu einem Termin… einladen…selbstverständlich… natürlich… wie? … nein, oh nein…kein Abschluss? Das hab ich nicht gesagt.
Er ist nicht bei der Sache. Sein frisch erworbenes Wissen um die Tatsache, dass sein Sohn demnächst ohne Schulabschluss ins Leben tritt, hat ihm heute Morgen das Rückgrat gebrochen. Warum? Warum hat die Schule ihn nicht informiert, dass er nicht erschienen ist? Er hätte mit Tim reden können, nun ja, er hätte es wenigstens versucht nicht wahr, aber doch nicht so, aber doch um Himmels willen nicht so. Seine brodelnden Hirnzellen kreisen um mögliche Lösungen, er malt sich Szenarios aus, wie sein Ruf und der seines Sohnes zu retten sei, er sieht Lösungen, für die er keine Zeit haben würde, denn heute Abend ist ein Geschäftsessen mit Vertretern des Sparkassenverbandes. Vielleicht bleibt seine Filiale erhalten, vielleicht nicht, vielleicht wird es eine Fusion geben, vielleicht nicht, wichtige Fragen, existenziell wichtige Fragen für Herrn K. Er nimmt sich vor, nichts zu trinken heute Abend, gar nichts zu trinken, nicht heute, nicht bei diesem Termin. Vielleicht sollte er, um dies zu vermeiden, gar zu Hause bleiben und sehen, was Tim macht, den er nicht mehr aufgehoben weiß in der Schule. Er hat den Wunsch, den Jungen von nun an strengstens zu kontrollieren, ihn einzusperren. Er hat sich immer darauf verlassen, dass mit Tim alles in Ordnung ist. Es ist ja nie etwas gewesen. Er hat ja immer ganz gut funktioniert, auch wenn seine Leistungen durchschnittlich waren. Aber so ganz ohne Mutter nicht wahr… Und jetzt, so kurz vor dem Abitur… er denkt zurück an seine eigene Schulzeit und lächelt. Halb so schlimm. Er hat das auch durch gestanden, sagt er sich und verlässt das Haus, schließt die Tür hinter sich ab und steigt in den BMW, der ihn leis und sicher zur Sparkasse rollt.

Die Uhr des Evangelischen Kirchspiels Erfurt Südost schlägt neun. Jetzt sind Mathe-Prüfungen. Tim betritt seelenruhig den Chatroom. Er ist jetzt sein eigener Herr. Er zwingt sich, nicht nachzudenken. Doch die Angst pfeift durch seine Eingeweide wie ein Polarwind. Er zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Es weiß genau, wer jetzt über den Abiprüfungen schwitzt. Er weiß, dass Robert ein Mikrofon im Schal versteckt hat und Hanno einen Receiver und er weiß, dass Hanno’s Prüfungsergebnisse nicht schlecht sein werden dank technischer Unterstützung. Es geht eben nichts über Teamwork. Er selbst hat Pech gehabt. Die Grese ist schuld, die ihn schon immer auf dem Kicker hatte. Abgesehen von dem Witz, den er zur falschen Zeit am falschen Ort gemacht hat, kann er nichts dafür, dass diesem Haken von einer Frau seine Nase nicht gefällt.

Geile Fotos, meldet ihm Sniper im Chatroom zurück, wo hast du den Flashbang her? Schützenverein, mailt er zurück. Bist `ne Glatze? Fragt Sniper zurück und Tims Finger antworten: Command & Conquer – 3Kanes Rache.
Aaargh- der totale Loser – cool… antwortet Sniper
Nee, Counter Strike - Und was läuft bei dir so? gibt Tim den Ball zurück, doch der Netzbürger meldet sich ab und verschwindet grußlos im Orbit.
Tim zündet sich eine Zigarette an und schließt die Jalousien seines mit Postern tapezierten Jugendzimmers. Dann klickt er seine Fotogalerie an und blättert durch. Es ist drückend still. Mit der Fernbedienung setzt er eine CD in Gang, nicht zu laut, denn er fühlt sich nicht sicher genug um diese Tageszeit.
Er klickt durch die Diashow seiner selbst gemachten Fotos: Tim im Tarnanzug mit geschwärztem Gesicht und Gewehr. Tim, den Gewehrlauf im Anschlag auf die Kamera. Tim im Ledermantel und Sonnenbrille, Gewehr auf die Hüfte gestemmt, den Finger am Abzug. Er raucht eine zweite Zigarette, schreibt noch ein paar Mails und sieht auf die Uhr.
9 Uhr 15. Zeit zur Schule zu gehen. Er öffnet den Schrank im Flur, nimmt die Mossberg 590 mit 20-Zoll-Lauf, Munition, Maske und Gurt, packt alles in seine Sporttasche und steigt in den Smart vor der Haustür, den ihm sein Alter zum 18. Geburtstag geschenkt hat. Er ist ruhig wie ein Manager mit 20 Jahren Berufserfahrung. Wenig später steht er vor der Schule, in der er 13 Jahre abgesessen hat – und raucht, steht breitbeinig da und genießt den Augenblick absoluter Macht. Es ist genug, murmelt er. Jetzt ist genug, und marschiert ins Gebäude und zieht sich in den Toiletten die Maske über. Dann holt er tief Luft, lädt das Gewehr und geht Stracks auf Zimmer 105 zu. Dieses Foto wird er nicht mehr ins Netz stellen können.

Es ist 11:30 Uhr. Herr K wischt sich den Schweiß von der Stirn mit einem Taschentuch. Sein Gegenüber ist einer dieser Geschäftspartner, die endlos reden und einen nicht zu Wort kommen lassen. Gerade überlegt er, ob es - im Hinblick auf das mögliche Millionengeschäft –unhöflich wäre, ihn zu unterbrechen, als auf seinem Telefon eine SMS mit der Bitte um Rückruf aufleuchtet, die er beiläufig wahrnimmt…. Er nimmt einen Schluck Kaffee.
 
K

Kasper Grimm

Gast
Guter, aktueller Text, wo die Autorin um das Beschriebene Bescheid weiß. Ich hätte den Vater vielleicht nicht Herr K genannt: erinnert an Kafka.
Aber sonst...
Und doch schade: jatzt, wo's spannend wird, bricht er ab - vielleicht aber besser so.
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Daphne,

gefällt mir gut, die Geschichte. Vielleicht könnte man ein paar Einzelheiten schon vorher ansprechen, um die Geschichte stimmiger zu machen. Warum z.B. Raum 105, woher kommt die Waffe? Der Übergang von Gewaltspielen zu Wehrübungen ist doch nicht ganz zwingend, warum aber gerade für den Protagonisten doch? Hier hätte ich mir den "politischen" Konflikt mit der Welt des Vaters noch deutlicher gewünscht. Ich persönlich hätte die Tatsache, dass Herr K seinen Sohn nicht mehr lebend sehen wird, viel später in die Geschichte eingeführt, um am Ende einen stärkeren Überraschungseffekt zu erzielen.

Aber das sind eher Kleinigkeiten.


Gerne gelesen.

LG

Herbert
 



 
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