Pünktlich

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Der Bus kam pünktlich. Axel stieg ein und fand im vorderen Abteil einen freien Platz hinter einer, wie er aus den Augenwinkeln flüchtig konstatierte, schwarzhaarigen jungen Frau. Er setzte sich, zückte sein Handy und wollte sich gerade ins Internet vertiefen, als ihm auffiel, dass die junge Frau nach vorne gesunken war und eine merkwürdige Sitzposition eingenommen hatte. Ihr Kopf war gegen den Vordersitz gelehnt, und sie schaute permanent nach unten. Wobei Axel nicht sicher war, ob das Verb „schauen" wirklich zutraf. „Man könnte eher sagen, sie hängt in den Seilen", dachte er flüchtig. Schlief sie? Aber dazu sah ihre Position viel zu verkrampft aus. War ihr schlecht? Hoffentlich kotzte sie nicht in den Bus. Etwas noch Schrecklicheres fiel ihm ein. War sie etwa tot? Sie bewegte sich kein bisschen, und ob sie atmete oder nicht, konnte er auch nicht feststellen. Noch schlimmer: Wenn sie bewusstlos war und erste Hilfe benötigte? Vielleicht war sie unterzuckert? Sollte er den Rettungsdienst rufen? Sollte er selbst erste Hilfe leisten?
Die anderen Fahrgäste schienen nichts bemerkt zu haben, jedenfalls achtete keiner auf die zusammengesunkene Person. Ein wenig empört sah Axel sich um. Die meisten Fahrgäste lasen in ihren Handys, von weiter hinten drang ein Gespräch an sein Ohr, was aber, so weit er es beurteilen konnte, nichts mit der jungen Frau zu tun hatte. Axel fluchte im Stillen. Wieso musste sie ausgerechnet ihm auffallen? Entspannt im Handy zu stöbern, war nun nicht mehr drin. Er würde keine Ruhe haben, ehe die Schwarzhaarige nicht ihre Sitzposition gewechselt hatte bzw. durch irgendein Zeichen zu erkennen gab, dass sie nicht tot oder bewusstlos war. Und wenn sie tatsächlich eines von beidem war - das hieß, Rettungsdienst oder Polizei müssten kommen, der Bus würde nicht weiterfahren können, und er selbst käme zu spät zur Arbeit.

Ein neuer Gedanke kam ihm. Vielleicht war sie betrunken? Das war die harmloseste Variante. Sollte er sie ansprechen? Von hinten auf die Schulter tippen? Was sollte er sagen?
„Entschuldigen Sie bitte, alles in Ordnung?" So sprach er manchmal Obdachlose an, die in der Bank schliefen. Die schauten dann meist kurz und verwundert hoch und nickten, und Axel war beruhigt. Aber da gab es nie jemand anderen, den das interessierte. Obwohl - hier interessierte eine betrunkene, bewusstlose oder womöglich tote Frau ja auch niemanden. Was dachten sich die Leute eigentlich? Heutzutage war jeder jedem egal. Trotzdem konnte er sich nicht entschließen, sie anzusprechen. Wenn sie wirklich nur schlief und ungehalten reagieren würde? Dann hätte er sich vor ihr und allen Fahrgästen zum Trottel gemacht. Andererseits - er konnte diese leblose Frau auch nicht ignorieren.
„Tust du doch die ganze Zeit", sagte eine Stimme in seinem Kopf. „Oder hast du bis jetzt vielleicht etwas gemacht? Du bist auch nicht besser als die anderen."
Er musste zugeben, dass er bis jetzt nichts gemacht hatte, außer in Gedanken durchzuspielen, was sein könnte. Was aber niemandem nutzte, der Frau am allerwenigsten. Die Stimme in seinem Kopf hatte recht. Er beugte sich vor, zögerte kurz und wollte der Frau gerade auf den Rücken klopfen - an ihre Schulter kam er von seinem Platz aus und bei ihrer nach vorne gesunkenen Haltung nicht - als er davon abgelenkt wurde, dass der Bus bremste und ein neuer Fahrgast einstieg.
Und - oh Wunder - die Frau richtete sich auf, sah etwas verwirrt um sich und setzte sich in eine normale Position.

Axel atmete auf. Er hatte alles richtig gemacht.
 
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lietzensee

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Hallo SilberneDelfine,
mir gefällt der Text sehr. Aus diesem Alltagsproblem hast du geschickt die Dramatik herausgearbeitet. Mir mag auch die Auflösung. Er entscheidet sich endlich zum Eingreifen, da bewegt sie sich doch von alleine. Das Drama findet so ganz in seinem Kopf statt.

Ein paar Kleinigkeiten:

Er würde keine Ruhe haben, ehe die Schwarzhaarige nicht ihre Sitzposition gewechselt hatte bzw. durch irgendein Zeichen zu erkennen gab, dass sie nicht tot oder bewusstlos war.
Den Satz finde ich sehr lang und etwas umständlich formuliert.


Er hatte alles richtig gemacht. Und kam pünktlich zur Arbeit.
Das ist eigentlich ein Satz, oder?

Den Aspekt, ob er pünktlich zur Arbeit kommt, finde ich noch nicht ganz ausbalanciert. Der Titel und der Schlusssatz verweisen auf ihn. Aber im Text scheint eine Verspätung nicht die Hauptsorge von Axel zu sein. Ich würde den Aspekt entweder noch aufbohren oder ganz weglassen. Ohne ihn würde der Text für mich genau so stark wirken.


Nach meinem Gefühl könntest du konsequenter aus Axels Innenperspektive erzählen. Die Geschichte bietet sich dazu an, weil sie ja zum großen Teil in seinem Kopf stattfindet.
Ich versuche, an zwei Beispielen zu erklären:
Noch schlimmer: Wenn sie bewusstlos war und erste Hilfe benötigte? Vielleicht war sie unterzuckert? Sollte er den Rettungsdienst rufen? Sollte er selbst erste Hilfe leisten?
Das liest sich wie die unmittelbaren Gedanken von Axel. Als Leser reißt mich das mit und versetzt mich in seine Situation.
„Hoffentlich kotzt sie nicht in den Bus", dachte er, und danach kam ihm ein noch schrecklicherer Gedanke. War sie tot?
Das klingt weniger unmittelbar. Durch das "dachte er" und "schrecklicher Gedanke" bekommt man Axels Denken quasi von einem Dritten vermittelt.

Viele Grüße
lietzensee
 
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Hallo lietzensee,

danke für deinen Kommentar! Den letzten Satz habe ich gestrichen - du hast recht, der Text gewinnt dadurch.

Den anderen (umständlichen) Satz habe ich mal so gelassen - sonst müsste ich zu viel danach auch ändern.

Nach meinem Gefühl könntest du konsequenter aus Axels Innenperspektive erzählen. Die Geschichte bietet sich dazu an, weil sie ja zum großen Teil in seinem Kopf stattfindet.
Das klingt weniger unmittelbar. Durch das "dachte er" und "schrecklicher Gedanke" bekommt man Axels Denken quasi von einem Dritten vermittelt.
Da hast du recht. Einen Teil habe ich jetzt geändert:

War ihr schlecht? Hoffentlich kotzte sie nicht in den Bus. Etwas noch Schrecklicheres fiel ihm ein. War sie etwa tot? Sie bewegte sich kein bisschen, und ob sie atmete oder nicht, konnte er auch nicht feststellen.
Freut mich, dass dir der Text gefällt!

LG SilberneDelfine
 
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petrasmiles

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Mitten aus dem Leben!
Ich finde das sehr schön, wenn man jemandem in den Kopf schauen kann. Das sind so Erlebnisse, die einen für einen Moment stark beschäftigen, aber dann doch schnell in den großen Strom des Vergessens geraten. Kaum anzunehmen, dass er das einem Arbeitskollegen erzählen würde, zu intim, und zu Hause dann ist schon wieder so viel Neues passiert, nein. Dabei sind solche Situationen so aufschlussreich darüber, wer man ist.
Gut, dass Du diese 'Erinnerung' gerettet hast.

Liebe Grüße
Petra
 

Aniella

Mitglied
Hallo @SilberneDelfine,

diese unangenehme (für Axel) Momentaufnahme gefällt mir ausgesprochen gut. Für Axel spricht, dass er es a) überhaupt bemerkt und b) sich darüber Gedanken macht.
In solchen Situationen zeigt sich schon, wie man miteinander umgeht. Dabei gibt es ein einfaches Mittel, sich zu entscheiden. Die Frage, was würde ich wollen, wenn ich diese Person wäre?
Gern gelesen!

LG Aniella
 



 
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