Markus Veith
Mitglied
Quadratischer Raum, ca. 6 x 6m. Höhe ca. 2,5m. Wände tapeziert, weiße Raufaser. Möbel aus Holz, hell, unbehandelt, schlicht gezimmert: Schrank, Kommode, langer Tisch, 2 Stühle an den Schmalseiten. An einer Wand: 2 Bilder. Teppich weiß u. weich. Tür u. Fenster fehlen.
Jemand muss hier gelebt haben, unübersehbar -> Sämtliche Flächen sind mit Worten beschrieben. Alle Ebenen voll mit Zeilen, hektische Schrift. Das Zimmer ist ein einziger Brief. Nirgends mehr Platz. Man kann nur lesen.
Auffällig --> 4 große Buchstaben, N, W, S + O. Windrosenanordnung, Wandmitte, direkt unter Decke gemalt
--> Wände wurden zwar (meist) von links nach rechts beschriftet, Texte passen aber nicht zeitlich hintereinander. Schreiber wechselte von Ort zu Ort)
--> Text an linker NWand wurde offenbar zu allererst geschrieben.
Plan: Rekonstruktion der Texte in chronologischer Reihenfolge
Warum? - Weiß nicht.
Wo bin ich?
Ich wachte auf und war hier. Das ist schon einige Zeit her. Tage oder Wochen? Ich weiß es so wenig, wie ich weiß, wie ich hier hereingekommen bin sein muss. Es gibt hier keine Zeit. Es gibt keine Lampe, dennoch ist es nicht dunkel. Keine Ahnung, woher das Licht kommt, doch es ist stetig. Ich kann nicht sagen, ob Tag ist oder Nacht. Die Müdigkeit kommt, wann sie will.
Als Erstes habe ich gerufen, aber niemand antwortete. Ich begann zu brüllen, tobte, schlug und trommelte gegen die Mauern - keine Reaktion. Nicht das geringste Anzeichen von Leben um mich rum. Erschöpft gab ich mein Toben auf, legte mein Ohr an die Wände, an das Holz des Schrankes, an die Kommode, in der Hoffnung, Resonanzen aus einem Dahinter zu vernehmen. Stimmen, Geräusche, wenigstens das Nagen oder Kratzen von Tieren. Aber nichts. Nur die Stille ist hier und atmet mit mir im gleichen Takt. Ich saß stundenlang am Tisch. Mag sein auch Tage, wenn es Tage in der mir bekannten Form noch gibt. Ich wartete, wusste aber nicht, auf was. Vielleicht darauf, dass sich in den verdammten Wänden eine Öffnung bildet. Vielleicht darauf, dass ich plötzlich etwas entdecke, das mir vorher entgangen ist.
Ich durchmaß mein Gefängnis mit Blicken. Bis ich jede Handbreit, die Entfernungen, die einzelnen Punkte in und auswendig kannte. Doch jetzt kann ich nicht mehr nichts tun. Das Nichts wird mir zur Qual.
In der Kommode fand ich fünf Bleistifte und einen Anspitzer. Und eine volle Schachtel mit Kerzen und einem Feuerzeug. Als würde erwartet, dass in diesem Zimmer einmal die Nacht hereinbricht. Sonst fand ich nichts. Keine Kleider. Keine Bücher. Nie! Die Schränke sind und bleiben leer. Und es gibt keine Hinweise darauf, dass hier vor mir jemand gelebt haben könnte.
Aus einem seltsam irrationalen Antrieb heraus habe ich das Zimmer in Himmelsrichtungen eingeteilt. Sentimental, mag sein. Doch weiß ich schon nicht, wie lange ich hier sein werde und was das alles soll, so möchte ich wenigstens einen Hauch Weltlichkeit spüren. Papier habe ich nirgends gefunden. Drum schreibe ich auf den Wänden. Wenn niemand hier ist, dem ich zuhören kann, so lasse ich eben die Mauern sprechen. Die Kunst des Mangels ist Akzeptanz.
Schrankwand, innen:
Ich darf nicht so viel nachdenken. Mein Kopf ist ein Durcheinander von all diesen Fragen, die sich mir völlig ungeordnet stellen; stumm-verbale Gedanken, die ständig auf mich einprügeln. Ständig habe ich das Gefühl, im nächsten Moment wird irgend etwas geschehen, auftauchen und wieder verschwinden wie die Elemente eines verrückten Bilderrätsels.
Ich habe noch einmal alles durchsucht und nichts gefunden. Mir wäre lieber, es würde endlich etwas geschehen. Meinetwegen etwas, das ich nicht verstehe. Wundern ist besser als warten.
Wofür stehen hier Schrank und Kommode, wenn es nichts zu verstauen gibt? Ich schreibe auf ihnen, um ihnen einen Grund zu geben. Vielleicht kann ich mein Durcheinander in ihnen verstauen.
Gegenüber:
Ich muss Notiz von mir nehmen. Mich notieren.
Es geht mehr schlecht als recht. Das Holz ist ein sperriges Papier und die Tapete grob. Ich gebe mir Mühe, klein zu schreiben, um Bleistiftmiene zu sparen.
Mein Kopf muss sich erst daran gewöhnen, die Gedanken einzeln auf Bügel zu hängen und hintereinander zu ordnen. Die Pausen zwischen den Sätzen sind lang. Ich überlege, ob das, was ich hier schmiere, verständlich sein wird für jene, die es möglicherweise nie zu lesen bekommen. Was soll man von mir denken, wenn alles so unordentlich an den Schränken steht? Ungebügelt und zerknittert. Ich sollte aussortieren, Unnützes verwerfen.
Aber ich hänge an meinen altvertrauten, gammeligen Gedanken, auch wenn ich sie nicht mehr brauche und sie nur Platz wegnehmen.
Ich muss den Müll unterbringen. Irgendwie!!
Eine Wand werde ich frei lassen. Den Süden. Der Süden soll schön sein.
NWand:
Was soll ich über mich schreiben? Ich weiß nichts. MEIN GOTT, ICH WEISS NICHTS ÜBER MICH!
WWand:
Ich weiß nicht, wie alt ich bin!
Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich hatte es nie für wichtig gehalten, darüber nachzudenken. Kann nicht jeder davon ausgehen zu wissen, wer man selbst ist. Aber meine Erinnerung besteht nur aus Ruinen. Als hätte ich mein Leben geträumt, sei erwacht und versuche nun, den zerrieselnden Traum zusammen zu puzzeln. Mir scheint nur so, als sei noch etwas gewesen, bevor ich hier erwachte. Sicher bin ich mir nicht.
Aber es muss doch etwas gewesen sein. Ich kann nicht erst in dem Moment zu leben begonnen haben, als ich die Augen aufschlug. Ich muss mir meinen körperlichen Zustand doch irgendwie erwachsen haben. Aber so sehr ich auch grüble, die Erinnerung an eine Kindheit kommt mir einfach nicht in den Sinn.
Ich kann alles, was ich in diesem Zimmer sehe, benennen und mit allem etwas anfangen. Und ich weiß, dass ich noch mehr weiß. Ich kann reden. Wenn auch nur mit mir selbst, der ich sowieso weiß, was ich sagen will. Ich kann schreiben und kenne die Bedeutung jedes Wortes. Ich weiß, was Müdigkeit, was Schmerz, was Tag und Nacht ist. Auch mit abstrakten Begriffen - Liebe, Hass, Neid, Gier - kann ich etwas anfangen. Ich weiß, was Türen und Fenster sind und dass sie hier fehlen. Dass sie etwas mit einer Außenwelt zu tun haben, die ich kennen sollte. Oder gekannt habe. Aber ob diese Bilder und Informationen in meinem Kopf tatsächlich stimmen ...?
Ob sie nun stimmen oder nicht: Wer hat es mir beigebracht?! Und weshalb, wenn ich sie hier nicht gebrauchen kann, verdammt?!?!
WWand:
Ich habe lange gegrübelt, in der Hoffnung, dass mir eine Erklärung für meine Unwissenheit einfällt. Aber es will mir nicht gelingen. Meine Fragen stehen wie Monumente in diesem Raum, nehmen allen Platz ein und atmen so heftig, dass mir die Luft wegbleibt.
Meine Kleidung besteht aus schlichtem Leinen. Da es keinen Spiegel gibt, kann ich mein Alter nur erahnen. Mein Gesicht ist weich und ohne Falten. Mein Haaransatz ragt recht hoch in die Stirn, die Haare, die ich mir aus den Schläfen zupfe, sind blond und zeigen Nuancen von Grau. Meine Hände sind groß, ohne Absonderlichkeiten. Meine Brust ist spärlich behaart und mein Bauch eben. - Ich schätze mich auf Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Keine Ahnung, ob das stimmt. Vielleicht wissen es die Wände.
Meine Finger können mein Gesicht nur ungenügend betrachten. Welche Farbe haben meine Augen? Ich rieche nach etwas, aber ist es mein Geruch oder der des Raumes? - Was bin ich, dass ich sagen kann: "Ich"?
Offenbar später:
Ich habe mich geirrt. Ich weiß zwar, was Hunger und Durst sind und kenne diese Bedürfnisse, verspüre aber weder das eine noch das andere. Ich gebe mir wirklich Mühe, mir den Mangel und das Erleiden in Erinnerung zu rufen, aber es will mir nicht gelingen. Ich bin ständig gesättigt und kann nie Mir fehlen die Worte.
Ich sollte froh sein. Es gibt keine Lebensmittel. Das Fehlen eines Abortes macht Sinn.
Tisch, OEnde:
Ich fürchte Ja! fürchte, ich mache mir immer mehr Gedanken. Über mich selbst. Über das, was ich über mich vermute. - Was ich selbst befürchte, tatsächlich zu sein. Ich denke. Ich bin. Aber bin ich einer oder der Einzige? Bin ich der Erste in dieser Gefangenschaft, oder ein weiterer? Vielleicht war alles vor mir, nur um mich zu erschaffen. Oder alle anderen sind fort, und ich soll jetzt die Lichter ausmachen, deren Schalter ich nicht finde?
übergroß, mehr graviert als geschrieben:
Wer bin ich ?
Meine Hand. Der blöde Stift. Nur noch ein Stummel.
Weiterhin Tisch, OEnde, aber offenbar später:
Mein Verstand will mir von Menschen erzählen, die es außer mir gibt oder gegeben hat. Viele. Andere. Warum bin dann aber ausgerechnet ich hier? Soll diese Einzelhaft Strafe sein oder sogar Erleichterung? Vielleicht war mein Leben so gut, dass ich es nicht wert war. Wenn das Sünde ist, bin ich mir ihr nicht bewusst. Welchem Sünder nutzt eine Strafe, wenn er seine Sünde nicht kennt und nicht weiß, was er zu büßen hat? Wenn ich der Schmetterling war, dessen Flügelschlag einen Orkan auslöste, wo stürmt dieser jetzt? Wo sind die Reste von meinem Leben? Mein Wissen, meine Eigenarten - ich bin mir ihrer bewusst, aber wie habe ich sie erlangt? Wie konnte ich mich "bilden"?
Schließt mit Tischecke rechts unten ab:
Der Tisch ist gedeckt. Mahlzeiten, zubereitet aus Fragen, deren Lösungen immer neue Fragen auftischen werden. Nahrung bis in alle Ewigkeit.
WWand:
Ich will, dass mir meine Zeit vor dem ‚Hier' endlich als Ganzes erscheint. Was auch immer ich sein werde, ich muss mich vollenden. Denn obwohl ich nichts über ein Leben vor dieser Zimmerhaft weiß und nicht die geringste Ahnung habe, wer oder was ich war, so habe ich doch eine genaue Vorstellung darüber, wie ich gewesen sein muss, wenn ich immer war, wie ich jetzt bin. Schlimmer noch: Wenn ich immer war, wie ich befürchte zu sein, so zeigen sich mir unerträgliche Erkenntnisse über mich.
Ich weiß, dass ich niemals aus eigenem Antrieb gelernt hätte, auf eigenen Füßen zu stehen oder mit ihnen zu laufen. Wie ein Welpe hätte ich aus dem Napf der großen Hunde gekostet und überall meine Häufchen gemacht. Ich wäre von einem Schneeloch ins nächste gesprungen, ohne in meiner Zierlichkeit zu bemerken, dass ich mich in den Eindrücken meiner großen Vorläufer bewegte. Mühevolle Sprünge von einer Spur in die folgende, in jeder halshoch versinkend. Selbst hätte ich keine Spur hinterlassen können. Meine Spur wäre nicht einmal unter mir geschmolzen.
Alles, was ich sagte, wäre nachgeplappert gewesen. Ich hätte mich an Rockzipfeln aufgehangen und von fremden Tellern gegessen, mit Löffeln, die für meine Augen zu klein, für meinen Hals aber viel zu groß gewesen wären. - Doch hätte ich so gleich geklungen, so leicht gehangen, so wenig gegessen, und wäre trotzdem an den Bissen erstickt.
Kein Mehr, nur ein Weniger. Wenn ich vor dem Einlass in diesen Raum den Kopfweltträgern in die Fänge geraten bin, so endete ich auf dem Minimalschafott. Als Heckenschütze des Geltungsbedarfs angeklagt.
Es ist paradox: Ich könnte stolz darauf sein, mit dieser Feststellung einigen Zeitgenossen einen Schritt voraus zu sein, wenn ich wüsste, dass es Zeitgenossen gibt.
NWand:
Ich habe geträumt!! Ich kann träumen und mich an meine Träume erinnern!! Und ich träume nicht von diesem Raum!! Oh, nicht existierender Himmel!! Mein Bewusstsein jubelt!!
Ich befand mich auf einem großen Platz. Menschen standen dichtgedrängt, ich mittendrin. Aber keiner von ihnen besaß ein Gesicht. Eine fleischfarbene Fläche überzog ihre Kopffront, eine Maske aus Regungslosigkeit. Trotzdem wusste ich, wenn sie Augen hätten, würden alle Formen des Hasses aus ihnen blitzen. Dazu brauchten sie weder Blicke noch Stimme. Unwirsche Gesten, Rempeleien, Schroffheiten. Böse fuchtelnde Gebärdenmonologe über die anderen, den Platz, den Himmel, über die Welt im gemeinen Zorn um des Zornes Willen. Sie alle glichen gespannten Katapulten.
Und ich stand mitten unter ihnen und schwieg meine Fremdartigkeit in mich hinein, merkte aber bei jedem Anrempeln, wie ein Quentchen Wut auch in mich hineinschwappte. Meine Zornespfütze wuchs, ein ungeheurer Drang mitzufluchen, zurückzustoßen, zu schlagen und zu prügeln. Ich spürte, dass jeder kurz davor war, die letzte Hürde zur Gewalt zu nehmen, aber keiner wagte den Sprung. Die Luft vibrierte wie über einem brennenden Espenwald. Irgendwann musste ein Zorndamm brechen. Nur ein Haarriss, und sofort würde eine Wunde auseinanderklaffen, die eine Sintflut der Brutalität über uns herschwappen ließe.
Da flog plötzlich ein Vogel über unsere Köpfe hinweg. Eine Taube. Und unter dem Flug des Vogels preschte alles panikartig auseinander, flüchtete vor dem doch so friedvollen Tier. Als der Vogel zur Landung ansetzte, wich sofort ein Furchtkreis auseinander. Einige stürzten, und es wurde auf ihnen herumgetrampelt. Von all dem völlig unbeeindruckt setzte die Taube auf, gurrte leise, und pickte Zorneskrumen vom Kopfsteinpflaster. Die stumm-blinden Gesichtsfassaden verfolgten zitternd jede ihrer Bewegungen.
Doch plötzlich flog die Taube wieder auf, stürzte sich auf einen der Umstehenden und hieb ihren Schnabel in dessen Maske, zerfetzte die Haut, riss sie in Lappen herunter. So schnell und überraschend, dass niemand zu einer Verteidigung fähig war, überfiel der Vogel noch einen Weiteren und einen Dritten und siehe da: Unter den zerrissenen Fassaden kamen menschliche Züge zum Vorschein.
Daraufhin ließ sich die Taube auf meiner Schulter nieder und gurrte leise in mein Ohr. "Nun sieh, kleiner Denker, was passieren wird, wenn man ihre Nasen ins Offenbare drückt."
Die Befreiten blinzelten mit ihren hellblauen Augen, als müssten sie sich erst aus ihrer Erstarrung lösen und sich an die neue Wahrnehmung gewöhnen. Zaghaft betasteten sie die hängenden Fetzen, zupften sie von ihren Gesichtern und starrten auf die Reste in ihren Händen. Sie schauten in die frischen Antlitze der anderen, ganz verdutzt und verwirrt, als hätte jemand einen Witz erzählt, dessen Pointe sie nicht verstanden hatten.
Da begann endlich der Erste: Zuerst war es nur ein Zucken, das um seine Mundwinkel kroch. Die anderen glotzten ihn fassungslos an, als das Zucken zu einem Grinsen und immer weiter auseinander wuchs und schließlich ein schallendes Gelächter aus ihm herausplatzte. Und als hätte er ein längst fälliges Grünlicht gezündet, stimmten auch die anderen beiden mit in das Lachen ein.
Mir erschien diese Freude seltsam verkrampft. Unlustig. Als werde nur gelacht, weil sich jemand getraut hatte, die Zähne zu zeigen. Das war keine Freude. Das war Belustigung.
Die sich inzwischen vor haltlosem Geiern Krümmenden wandten sich den Flachgesichtern zu, zeigten mit den Fingern auf sie, prusteten und brachen in noch lauteres Hohngelächter aus. Die blinden Gesichter der Leute schauten verwirrt umher, ohne zu merken, dass sie selbst der Grund zur Erheiterung waren, was zu wild johlendem Nachgeäffe führte. Da rissen die Grölenden einigen Vermummten die Haut vom Kopf. Der Vorgang wiederholte sich und die Folge war ein euphorisches Massaker. Hautfetzen wirbelten durch die Luft und segelten zu Boden. Befreite Augen blinzelten und gafften. Mäuler stemmten sich auseinander zu einem impulsiven Gelächter, das wie eine Kettenreaktion weiterwucherte und bald den ganzen Platz mit albernem Gegacker erfüllte.
Ich sah zu und nickte zufrieden. Da stupste mich die Taube mit ihrem Schnabel an und gurrte: "Bist Du nun froh darüber, erblicken zu dürfen, was Du in den sicheren Wänden Deines Zimmers zu vermissen glaubst? - Ja, alle lachen. Aber worüber? - Willkommen im Leben, kleiner Denker! Dein Traum bringt es auf den Punkt."
Die Taube hatte Recht. Das Gelächter veränderte sich und eine Verwandlung rauschte durch die Menge:
Die Einen verstanden das Lachen der Anderen als Hohn, fühlten sich beleidigt und provoziert. In der Überzeugung, über die Anderen richten zu dürfen, die später zur Erkenntnis gelangt waren, forderten die Einen entsprechende Achtung. Die Anderen wiederum forderten von den Einen Respekt dafür, so schnell gelernt zu haben. Ohne sie, die Anderen, hätten sie, die Einen, es niemals geschafft, überhaupt zur Erkenntnis zu gelangen.
Alle Kläger klagten alle Angeklagten vor allen Richtern an. Sie begannen wieder zu rüpeln und Unfreundlichkeiten zu knurren. Und bald konnte ich beobachten, wie erneut Unmut über die Gesichter zog. Wie eine formlose Hautschicht, die alles verdeckte und stumm und blind machte ...
Und die Taube auf meiner Schulter sagte: "!?"
Ich weiß nicht genau, wie sie es ausdrückte, aber diese Zeichen waren ihre Worte.
Darunter (in Klammern):
(Taube - Vogel ohne Falschheit - Symbol des Friedens - Frau - Geliebte - Bild schöpferischer Gedanken - Sinnbild geistiger Höhenflüge - Heizrohrgurrer - Geist? - Oder nicht weichen wollender Dämon? - Tauben - Wenn sie am Boden sind, fressen sie einem aus der Hand - Fliegen sie empor, bescheißen sie einen ...
Das soll mir eine Lehre sein? Das soll mir eine Leere sein. Was ist wirklich wirklich? Wo ist ein Licht am Ende dieses Zimmers? Hätte ich doch einige Brotkrumen. Ich könnte mir eine Fährte legen, die mich aus dem Dickicht dieses Gedankenwaldes führt. Brotkrumen. Giftgetränkt.
Soll'n sie's fressen und krepieren, diese Biester!!)
An OWand hängen jene 2 Bilder, schlichte Rahmen, exakt gleiche Augenhöhe: Schwindel erregendes, o-förmiges Muster, schlierige Farben: schwarz, blau, braun, beige, von innen nach außen heller, einander spiegelverkehrte Kopie, Mittelpunkte leicht nach innen.
Folgender Text auf Stuhlsitzfläche:
Lange Zeit habe ich vor diesen Bildern gesessen. Sobald ich sie anschaue, saugen diese Kreise meine Blicke in sich auf. Wenn ich den Blick durchs Zimmer schweifen lasse, kann ich nicht umhin, ihn in diesen Kreisen zu baden verweilen zu lassen.
Baden? - Wie kam ich darauf? Es gleicht tatsächlich einem unfreiwilligen Bad in einem unergründlichen Tümpel. Ein Morast, den man durchqueren muss, um weiterzukommen.
Nun habe ich mich diesen Gemälden gestellt. Unvoreingenommen und objektiv. Wie man Bilder betrachten muss, wenn man erkennen will, was der unbekannte Künstler mit seinem provozierenden Werke auszudrücken gedachte. (Ha!Ha!Ha!) Ich habe meinen Sitz direkt vor sie gestellt, der zweite Stuhl dient als Schreibunterlage, der Bleistift ist gespitzt. Wenn diese Bilder schon so aufdringlich in meinen Verstand dringen wollen, so sollen sie es nun tun. Aber deutlich und gerade heraus, wenn sie den Schneid dazu haben.
Westliches Tischende, letzte Worte schwer zu entziffern. Schreibfehler.
Will nicht wissen, wer sie gemalt hat! Sie sind schrecklich! Und doch genial. Diese Farben, kräftig und verschwenderisch aufgetragen, verwaschen - sie wirr sie wirken so verweint. Je langer ich den Blick auf den Kurven verharen lasse, um so runder, deutlicher, ... lebendiger werden sie. Sie verändern irre Form, schleichen ummeinander rum, um zu verschmeltzen, stulpen sich nach innen, nach hinten, wie ein Tunmel in die Wand hinein ein Loch ein Apgrund Schacht eine bodenlose Vertifung in die man hineinzuschlüpfen fahig wirt. Bei allen was mir wert ist - ich würde nicht selbst wenn ich konnte. Das sind keine Locker sind dies Nein sint Rachen Schlunde geifernde Kifer öfnen sie sich Sperangelweit schlingbereit nemen die ganze Breite der Wand ein und noch mehr und sei es nicht genuch krichen sie über die Decke den Boden zu mir verschluken den Raum reiben sich an meinen Körper manteln betten mich liebkoosen verbrennen umgaarn zerkwetschen mich zugleich Locken Apstoßen Schlagen Streicheln Lecken Verrrenken Wiegen Beschwören Schweigen Lachen Weinen. Ich muss zu ihnen ich muss zurük Weiterkucken ...
Kommodenoberfläche:
ES SIND AUGEN !!
DIESE STARRER
BLINZELTEN MICH AN !!
Schrank, innen, zittrig:
Mein Kopf schmerzt. Ich musste mich zwingen gegen die Wand zu rennen.
Ich habe versucht, diese grauenhaften Dinger zu entfernen, näherte mich ihnen mit zugekniffenen Augen, um nicht noch einmal einen Blick zu riskieren. Meine Hände zittern. Nur noch meine Hände; Herz und Atem haben sich beruhigt. Einigermaßen.
Ich wollte sie irgendwo verstauen. Endlich, so dachte ich, hätte der Schrank eine sinnvolle Aufgabe. Als Kerker für dieses Teufelswerk.
Aber es geht nicht. Sie sind in den Wänden. Ich habe versucht, den Schrank davorzurücken. - - - - - Er ist fest!! SÄMTLICHE MÖBEL SIND MIT DEM TEPPICH VERWACHSEN!!! Ich versuchte, den Stuhl - den ich schon so oft verschoben habe!! - gegen sie zu schmettern! Nichts!! Als würden sie sich gegenseitig schützen. Weder mein Hemd noch meine Hose halten an den Rahmenkanten, sie rutschen immer wieder ab! Was ich auch vorhabe, das Zimmer scheint es zu erraten und dem entgegenzuwirken.
Ich habe mich in den Schrank geräumt. In meinen Schutzbunker vor dem Blitzblickgewitter da draußen im Zimmer.
Sie wissen, dass ich um sie weiß. Ich weiß, dass sie das wissen.
WWand:
NEIN! Der Wahn soll mich nicht kriegen! So schnell bekommen mich Leinwand, Farbe und Holz nicht klein.
Sie gaffen mich an. Es stört sie nicht im Geringsten, dass ich ihnen den Rücken zuwende.
Aber ich habe den Osten aus meinem Kompasszimmer verbannt. Ich werde nur noch durch den Drei-Viertel-Horizont schleichen, sorgfältig auf Zonenblindheit achten.
Macht euch zu!!
Geht schlafen!!
WWand:
Geduld. Nur Geduld.
Warten verlängert nur die Zeit.
Grübeln ist reine Nervensache.
Gedanken fahren Schnellstraße. Doch entweder auf der Überholspur oder auf dem Seitenstreifen. Kommen sie erst in die Gänge, werden Abfahrten zu Möbiusschleifen.
Ruhe. Nur die Ruhe, lieber leibeigener Freund. Jeder kann warten. Geduld muss man üben. Heute ist alle Tage. Ich muss diese Leere nur begreifen und lernen, Unendlichkeit einzuteilen? Jede Zeit muss mal ein Heute gewesen sein.
Muss meine Nerven beisammen halten. Meine Gedanken sprinten mir davon.
Gleich darunter, offenbar später:
Es könnte funktionieren. Ich fand es beim Starren heraus, aus reinem Zeitvertreib:
Ich muss meine Sinne in den Süden schicken, wo es schön ist und warm. Dazu muss ich aber erst zur Ruhe kommen. Erst die Ruhe bringt mich dort hin. Ich habe sie bereits gespürt. Sie ist hier. In diesem Raum. Sie versteckt sich nur meistens. Hinter der Stille. Ich muss die Stille erst durchqueren. Wie man einen Weg gehen muss, um an ein Ziel zu gelangen, muss ich zunächst all die wirren Gedanken in meinem Kopf loswerden. Wohin sie schweifen ist egal. Hauptsache, sie sind nicht mehr bei mir in diesem Augenzimmer. Würde mich jemand fragen: "Worüber denkst du nach?", darf ich es nicht beantworten können.
Es könnte funktionieren. Ich war ganz nah dran, an der Ruhe des Südens.
WWand, letzter Text:
Ich habe ihn gefunden: Meinen rettenden Fixpunkt. Ich finde ihn immer wieder, kann ihn anschauen, seinen Inhalt, seine Umgebung studieren. Er ist nichts weiter als ein weißer Punkt auf einer weißen Tapete, kein sichtbarer Fleck, nur berührbare Leere. Aber hinter ihm liegt der Süden.
Ich fühle das Zimmer dort nicht mehr. Als sei ich auf links und meine Blicke zu Schwalben gefaltet, und ich schicke sie durch die kleine Punktöffnung in eine Welt, die mit diesem Albtraum nichts gemeinsam hat. Ich sehe... Land. Berge und Seen, Wälder aus sattem Grün, mit Tieren, die nur ihren Trieben folgen und sich um nichts weniger kümmern dürfen. Himmel mit Wolken, weiß und wattig. Städte voller Menschen, strebsame Seelen, die miteinander sprechen, etwas Sinnvolles zu tun haben, leben und lieben. Die Kraft ihrer Herzschläge erschlug mich fast. Ich spürte sie durch meinen vereinsamten Körper pulsieren. Jedes einzelne Herz pochte mir zu.
Dabei ist es nur ein Punkt, eine Stelle auf einer schweigsamen Wand.
Und ich gab ihm einen Namen: Eden
Ich darf meine Hand auf diesen Punkt legen und weiß: Dort liegt mein Reich. - Und ich spüre, ja: Meine Königin herrscht über ihn, schön und mächtig und gnädig. Sie verspricht mir, mich jederzeit Willkommen zu heißen.
Ich habe Zeit. Ich kann den Südpunkt noch oft besuchen.
Schriftänderung. Vorher fahrig, wellig, langgezogen, jetzt sachlich und hart. (Eingeschlafen und plötzlich aufgewacht?)
Zeit - was ist das? Warum klammere ich mich an ein Wort, für das ich in diesen Wänden keine Bestätigung finde? Zeit ist hier nichts weiter als ein Begriff für Ewigkeitssekunden.
Diese Mauer hat den Sinn erfüllt.
NWand, Schrift ungelenk und bröckelig:
Der zweite Bleistift ist verbraucht: Etliche Male habe ich ihn angespitzt, doch erst jetzt bemerkt, was es mit dem Spitzer auf sich hat.
Es ist ein kleiner abschraubbarer Behälter aus grünem Plastik. Mich wunderte, dass er nie voll wird, warum man nichts hört, wenn man ihn schüttelt. - Es ist nichts drin. Die Späne verschwinden.
Ich habe versucht, den Griffel ohne den angeschraubten Behälter in der Klingenkapsel zu spitzen. Aber so lässt er sich nicht drehen. Irgendein seltsamer Mechanismus, der nur funktioniert, wenn das Gerät zusammenmontiert ist. - Teufelsding! - Verschraubt ist es ein Schwarzes Loch, in dem alles verschwindet und keinerlei Reste hinterlässt.
Ich versuchte, meine Kleidung zu zerreißen, zerrte an meinen Hosenbeinen, bemühte mich, sie auseinanderzurupfen, zu zerfransen, stellte mich drauf und zog, nahm eine Schrankecke zur Hilfe, hängte mich mit ganzem Gewicht an den dünnen Stoff. - Eher könnte ich die Wände zu Kurven lutschen.
Desgleichen mit dem Mobiliar: Kein Holzspan lässt sich absplittern, keine Kerze zerbrechen. Als ich vorhatte, die Stühle zu zertrümmern, ließen sie sich nicht einmal bewegen. Nur wenn ich sie ohne Bedacht anstoße, verrücken sie.
Es ist, als wüssten die Dinge über meine Wut Bescheid. Wie kriege ich einen Stuhl zu packen, der so etwas ahnen kann? Ich könnte ihn nur aufnehmen, wenn ich seine Zerstörung nicht geplant habe, um erst dann auf die Idee zu kommen, ihn zu zerschlagen, wenn ich ihn in der Hand halte, ihn von seinen Augenzimmerfreunden getrennt habe. - Wie soll ich das denn machen?
Noch etwas ist mir aufgefallen. Ich glaube, mich eigentlich rasieren zu müssen. Aber ich kann es nicht. Mein Kinn ist und bleibt glatt wie die Haut eines neugeborenen Kindes. (WIE EINES NEUGEBORENEN KINDES!! DAS IST KOMISCH! DAS IST WIRKLICH KOMISCH, NICHT WAHR?!?!) (Nerven. Ich muss meine Nerven behalten.) Kein einziges Haar von mir wächst. Ich habe versucht, sie mir aus der Kopfhaut, aus den Achselhöhlen und aus dem Schambereich zu reißen. Doch keine einzige Strähne, kein Flaum, keine drahtige Borste will sich rupfen lassen. Und ich habe so lange so fest gezogen, dass Sterne in diesem Zimmer tanzten. Auch meine Nägel wachsen nicht. Nicht einmal ein Span lässt sich abknabbern.
Es erscheint unmöglich, Spuren zu hinterlassen. Offenbar soll ich alles mitnehmen, was ich hab und bin. - Restlos. Und so lange ich keine Nahrung zu mir nehme, nehmen kann!, kann ich auch keine Exkremente ausscheiden.
NWand, an anderer Stelle:
Ich nagte gedankenverloren am dritten Bleistift, als er plötzlich unter meinem Biss zerbrach. Einmal entzwei, zerbricht offenbar auch die Unzerstörbarkeit. Da überkam es mich einfach.
Grafit und Holz schmecken nicht, trotzdem aß ich auch noch die beiden ersten; die Reststummel waren so klein, dass ich sie schlucken konnte.
In meinem Bauch rumort es. - Aber ich bin gespannt, was nun geschieht.
NWand, offenbar später:
Nichts. Vorbei. Resultat negativ. Keine Spuren möglich.
Ich kann diesen gottverdammten Ort nicht einmal bescheißen!!
Dito:
Ich laufe unsichtbar und unbemerkt an allem vorbei. Wenn es ein ‚früher' gibt, habe ich dort Spuren hinterlassen?
Ich brauche eine Erinnerung von mir an mich. Etwas, woran sich nicht nur die stumme Zeit erinnert, sondern auch Menschen. Und seien es die Einen oder die Anderen. Ich will, dass jemand von mir sagen wird: "Ja, den kannte ich" oder wenigstens "Doch, der Name sagt mir was." Und wenn sie ein "Glaub' ich jedenfalls" hinzufügen, will ich auch zufrieden sein.
Ich muß Spuren legen. Ich muss. Ohne Spuren ... was bleibt da? - Leergespülter Sinn. Hoher, ungestört gefallener Staub. Mit mir bröckeln Krumen vom Gebirge. Ich bin ein Spurenelement! Ein Puzzleteil aus dem wolkenlosen Himmel eines Bildes. Zur Not wird man meine Stelle blau ausmalen.
Aber Spuren ... Woher mit ihnen? Wann ist der Zeitpunkt, eine Spur zu legen? Legt man Spuren früher oder später? Frühe vertrocknen. Späte laufen Gefahr, nie entdeckt zu werden. - Und für was? Erinnerungen? Erinnerungen sind auswendig gelerntes Leben. Was nützt Auswendiggelerntes, wenn niemand es abfragt? Meine Lebenszensur in diesem Ein-Schüler-Klassenzimmer wird ‚ungenügend' sein. 6 plus. Knapp am ‚mangelhaft' vorbei. Von ‚befriedigend' weit entfernt. Durchgefallen.
- Meine einzigen Spuren sind meine Wandworte. Aber ich fürchte, bisher lassen sie nur Wünsche übrig. Sie zerschreiben sich zwischen meinen Händen.
Meine Finger tun so weh.
NWand, knapp überm Boden:
Wer sagt, dass gute Erinnerung länger währt als mangelhafte? Vielleicht sind schlechte Spuren viel deutlicher zu legen ...
Von Sprechblase eingefasst:
Ich piss eure Schneestapfenspurenlöcher gelb, ihr Scheisser !!!
Darunter:
Niemand kann behaupten, ich hätte es nicht versucht.
(Letztes Ausrufezeichen wurde offenbar ‚nachbearbeitet', fast eingraviert.) Weiterhin NWand:
Ein weiterer Triumph! Ich habe noch einen Stift zerbrechen können. Eigentlich ein Versehen. Die Mine brach. - Der Bann ist gebrochen! Sein Tabu dahin! Ich habe diesen Bastard zerbröselt! Auf den Tisch gerammt! (Kein Kratzer auf der Fläche.) Ihn zu einem jämmerlichen Häuflein zusammengefegt! Ein ergötzlicher Anblick!
Bald wird er brennen! Brennen soll er!! BRENNEN!!!
(Fortsetzung folgt)
Jemand muss hier gelebt haben, unübersehbar -> Sämtliche Flächen sind mit Worten beschrieben. Alle Ebenen voll mit Zeilen, hektische Schrift. Das Zimmer ist ein einziger Brief. Nirgends mehr Platz. Man kann nur lesen.
Auffällig --> 4 große Buchstaben, N, W, S + O. Windrosenanordnung, Wandmitte, direkt unter Decke gemalt
--> Wände wurden zwar (meist) von links nach rechts beschriftet, Texte passen aber nicht zeitlich hintereinander. Schreiber wechselte von Ort zu Ort)
--> Text an linker NWand wurde offenbar zu allererst geschrieben.
Plan: Rekonstruktion der Texte in chronologischer Reihenfolge
Warum? - Weiß nicht.
Wo bin ich?
Ich wachte auf und war hier. Das ist schon einige Zeit her. Tage oder Wochen? Ich weiß es so wenig, wie ich weiß, wie ich hier hereingekommen bin sein muss. Es gibt hier keine Zeit. Es gibt keine Lampe, dennoch ist es nicht dunkel. Keine Ahnung, woher das Licht kommt, doch es ist stetig. Ich kann nicht sagen, ob Tag ist oder Nacht. Die Müdigkeit kommt, wann sie will.
Als Erstes habe ich gerufen, aber niemand antwortete. Ich begann zu brüllen, tobte, schlug und trommelte gegen die Mauern - keine Reaktion. Nicht das geringste Anzeichen von Leben um mich rum. Erschöpft gab ich mein Toben auf, legte mein Ohr an die Wände, an das Holz des Schrankes, an die Kommode, in der Hoffnung, Resonanzen aus einem Dahinter zu vernehmen. Stimmen, Geräusche, wenigstens das Nagen oder Kratzen von Tieren. Aber nichts. Nur die Stille ist hier und atmet mit mir im gleichen Takt. Ich saß stundenlang am Tisch. Mag sein auch Tage, wenn es Tage in der mir bekannten Form noch gibt. Ich wartete, wusste aber nicht, auf was. Vielleicht darauf, dass sich in den verdammten Wänden eine Öffnung bildet. Vielleicht darauf, dass ich plötzlich etwas entdecke, das mir vorher entgangen ist.
Ich durchmaß mein Gefängnis mit Blicken. Bis ich jede Handbreit, die Entfernungen, die einzelnen Punkte in und auswendig kannte. Doch jetzt kann ich nicht mehr nichts tun. Das Nichts wird mir zur Qual.
In der Kommode fand ich fünf Bleistifte und einen Anspitzer. Und eine volle Schachtel mit Kerzen und einem Feuerzeug. Als würde erwartet, dass in diesem Zimmer einmal die Nacht hereinbricht. Sonst fand ich nichts. Keine Kleider. Keine Bücher. Nie! Die Schränke sind und bleiben leer. Und es gibt keine Hinweise darauf, dass hier vor mir jemand gelebt haben könnte.
Aus einem seltsam irrationalen Antrieb heraus habe ich das Zimmer in Himmelsrichtungen eingeteilt. Sentimental, mag sein. Doch weiß ich schon nicht, wie lange ich hier sein werde und was das alles soll, so möchte ich wenigstens einen Hauch Weltlichkeit spüren. Papier habe ich nirgends gefunden. Drum schreibe ich auf den Wänden. Wenn niemand hier ist, dem ich zuhören kann, so lasse ich eben die Mauern sprechen. Die Kunst des Mangels ist Akzeptanz.
Schrankwand, innen:
Ich darf nicht so viel nachdenken. Mein Kopf ist ein Durcheinander von all diesen Fragen, die sich mir völlig ungeordnet stellen; stumm-verbale Gedanken, die ständig auf mich einprügeln. Ständig habe ich das Gefühl, im nächsten Moment wird irgend etwas geschehen, auftauchen und wieder verschwinden wie die Elemente eines verrückten Bilderrätsels.
Ich habe noch einmal alles durchsucht und nichts gefunden. Mir wäre lieber, es würde endlich etwas geschehen. Meinetwegen etwas, das ich nicht verstehe. Wundern ist besser als warten.
Wofür stehen hier Schrank und Kommode, wenn es nichts zu verstauen gibt? Ich schreibe auf ihnen, um ihnen einen Grund zu geben. Vielleicht kann ich mein Durcheinander in ihnen verstauen.
Gegenüber:
Ich muss Notiz von mir nehmen. Mich notieren.
Es geht mehr schlecht als recht. Das Holz ist ein sperriges Papier und die Tapete grob. Ich gebe mir Mühe, klein zu schreiben, um Bleistiftmiene zu sparen.
Mein Kopf muss sich erst daran gewöhnen, die Gedanken einzeln auf Bügel zu hängen und hintereinander zu ordnen. Die Pausen zwischen den Sätzen sind lang. Ich überlege, ob das, was ich hier schmiere, verständlich sein wird für jene, die es möglicherweise nie zu lesen bekommen. Was soll man von mir denken, wenn alles so unordentlich an den Schränken steht? Ungebügelt und zerknittert. Ich sollte aussortieren, Unnützes verwerfen.
Aber ich hänge an meinen altvertrauten, gammeligen Gedanken, auch wenn ich sie nicht mehr brauche und sie nur Platz wegnehmen.
Ich muss den Müll unterbringen. Irgendwie!!
Eine Wand werde ich frei lassen. Den Süden. Der Süden soll schön sein.
NWand:
Was soll ich über mich schreiben? Ich weiß nichts. MEIN GOTT, ICH WEISS NICHTS ÜBER MICH!
WWand:
Ich weiß nicht, wie alt ich bin!
Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich hatte es nie für wichtig gehalten, darüber nachzudenken. Kann nicht jeder davon ausgehen zu wissen, wer man selbst ist. Aber meine Erinnerung besteht nur aus Ruinen. Als hätte ich mein Leben geträumt, sei erwacht und versuche nun, den zerrieselnden Traum zusammen zu puzzeln. Mir scheint nur so, als sei noch etwas gewesen, bevor ich hier erwachte. Sicher bin ich mir nicht.
Aber es muss doch etwas gewesen sein. Ich kann nicht erst in dem Moment zu leben begonnen haben, als ich die Augen aufschlug. Ich muss mir meinen körperlichen Zustand doch irgendwie erwachsen haben. Aber so sehr ich auch grüble, die Erinnerung an eine Kindheit kommt mir einfach nicht in den Sinn.
Ich kann alles, was ich in diesem Zimmer sehe, benennen und mit allem etwas anfangen. Und ich weiß, dass ich noch mehr weiß. Ich kann reden. Wenn auch nur mit mir selbst, der ich sowieso weiß, was ich sagen will. Ich kann schreiben und kenne die Bedeutung jedes Wortes. Ich weiß, was Müdigkeit, was Schmerz, was Tag und Nacht ist. Auch mit abstrakten Begriffen - Liebe, Hass, Neid, Gier - kann ich etwas anfangen. Ich weiß, was Türen und Fenster sind und dass sie hier fehlen. Dass sie etwas mit einer Außenwelt zu tun haben, die ich kennen sollte. Oder gekannt habe. Aber ob diese Bilder und Informationen in meinem Kopf tatsächlich stimmen ...?
Ob sie nun stimmen oder nicht: Wer hat es mir beigebracht?! Und weshalb, wenn ich sie hier nicht gebrauchen kann, verdammt?!?!
WWand:
Ich habe lange gegrübelt, in der Hoffnung, dass mir eine Erklärung für meine Unwissenheit einfällt. Aber es will mir nicht gelingen. Meine Fragen stehen wie Monumente in diesem Raum, nehmen allen Platz ein und atmen so heftig, dass mir die Luft wegbleibt.
Meine Kleidung besteht aus schlichtem Leinen. Da es keinen Spiegel gibt, kann ich mein Alter nur erahnen. Mein Gesicht ist weich und ohne Falten. Mein Haaransatz ragt recht hoch in die Stirn, die Haare, die ich mir aus den Schläfen zupfe, sind blond und zeigen Nuancen von Grau. Meine Hände sind groß, ohne Absonderlichkeiten. Meine Brust ist spärlich behaart und mein Bauch eben. - Ich schätze mich auf Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Keine Ahnung, ob das stimmt. Vielleicht wissen es die Wände.
Meine Finger können mein Gesicht nur ungenügend betrachten. Welche Farbe haben meine Augen? Ich rieche nach etwas, aber ist es mein Geruch oder der des Raumes? - Was bin ich, dass ich sagen kann: "Ich"?
Offenbar später:
Ich habe mich geirrt. Ich weiß zwar, was Hunger und Durst sind und kenne diese Bedürfnisse, verspüre aber weder das eine noch das andere. Ich gebe mir wirklich Mühe, mir den Mangel und das Erleiden in Erinnerung zu rufen, aber es will mir nicht gelingen. Ich bin ständig gesättigt und kann nie Mir fehlen die Worte.
Ich sollte froh sein. Es gibt keine Lebensmittel. Das Fehlen eines Abortes macht Sinn.
Tisch, OEnde:
Ich fürchte Ja! fürchte, ich mache mir immer mehr Gedanken. Über mich selbst. Über das, was ich über mich vermute. - Was ich selbst befürchte, tatsächlich zu sein. Ich denke. Ich bin. Aber bin ich einer oder der Einzige? Bin ich der Erste in dieser Gefangenschaft, oder ein weiterer? Vielleicht war alles vor mir, nur um mich zu erschaffen. Oder alle anderen sind fort, und ich soll jetzt die Lichter ausmachen, deren Schalter ich nicht finde?
übergroß, mehr graviert als geschrieben:
Wer bin ich ?
Meine Hand. Der blöde Stift. Nur noch ein Stummel.
Weiterhin Tisch, OEnde, aber offenbar später:
Mein Verstand will mir von Menschen erzählen, die es außer mir gibt oder gegeben hat. Viele. Andere. Warum bin dann aber ausgerechnet ich hier? Soll diese Einzelhaft Strafe sein oder sogar Erleichterung? Vielleicht war mein Leben so gut, dass ich es nicht wert war. Wenn das Sünde ist, bin ich mir ihr nicht bewusst. Welchem Sünder nutzt eine Strafe, wenn er seine Sünde nicht kennt und nicht weiß, was er zu büßen hat? Wenn ich der Schmetterling war, dessen Flügelschlag einen Orkan auslöste, wo stürmt dieser jetzt? Wo sind die Reste von meinem Leben? Mein Wissen, meine Eigenarten - ich bin mir ihrer bewusst, aber wie habe ich sie erlangt? Wie konnte ich mich "bilden"?
Schließt mit Tischecke rechts unten ab:
Der Tisch ist gedeckt. Mahlzeiten, zubereitet aus Fragen, deren Lösungen immer neue Fragen auftischen werden. Nahrung bis in alle Ewigkeit.
WWand:
Ich will, dass mir meine Zeit vor dem ‚Hier' endlich als Ganzes erscheint. Was auch immer ich sein werde, ich muss mich vollenden. Denn obwohl ich nichts über ein Leben vor dieser Zimmerhaft weiß und nicht die geringste Ahnung habe, wer oder was ich war, so habe ich doch eine genaue Vorstellung darüber, wie ich gewesen sein muss, wenn ich immer war, wie ich jetzt bin. Schlimmer noch: Wenn ich immer war, wie ich befürchte zu sein, so zeigen sich mir unerträgliche Erkenntnisse über mich.
Ich weiß, dass ich niemals aus eigenem Antrieb gelernt hätte, auf eigenen Füßen zu stehen oder mit ihnen zu laufen. Wie ein Welpe hätte ich aus dem Napf der großen Hunde gekostet und überall meine Häufchen gemacht. Ich wäre von einem Schneeloch ins nächste gesprungen, ohne in meiner Zierlichkeit zu bemerken, dass ich mich in den Eindrücken meiner großen Vorläufer bewegte. Mühevolle Sprünge von einer Spur in die folgende, in jeder halshoch versinkend. Selbst hätte ich keine Spur hinterlassen können. Meine Spur wäre nicht einmal unter mir geschmolzen.
Alles, was ich sagte, wäre nachgeplappert gewesen. Ich hätte mich an Rockzipfeln aufgehangen und von fremden Tellern gegessen, mit Löffeln, die für meine Augen zu klein, für meinen Hals aber viel zu groß gewesen wären. - Doch hätte ich so gleich geklungen, so leicht gehangen, so wenig gegessen, und wäre trotzdem an den Bissen erstickt.
Kein Mehr, nur ein Weniger. Wenn ich vor dem Einlass in diesen Raum den Kopfweltträgern in die Fänge geraten bin, so endete ich auf dem Minimalschafott. Als Heckenschütze des Geltungsbedarfs angeklagt.
Es ist paradox: Ich könnte stolz darauf sein, mit dieser Feststellung einigen Zeitgenossen einen Schritt voraus zu sein, wenn ich wüsste, dass es Zeitgenossen gibt.
NWand:
Ich habe geträumt!! Ich kann träumen und mich an meine Träume erinnern!! Und ich träume nicht von diesem Raum!! Oh, nicht existierender Himmel!! Mein Bewusstsein jubelt!!
Ich befand mich auf einem großen Platz. Menschen standen dichtgedrängt, ich mittendrin. Aber keiner von ihnen besaß ein Gesicht. Eine fleischfarbene Fläche überzog ihre Kopffront, eine Maske aus Regungslosigkeit. Trotzdem wusste ich, wenn sie Augen hätten, würden alle Formen des Hasses aus ihnen blitzen. Dazu brauchten sie weder Blicke noch Stimme. Unwirsche Gesten, Rempeleien, Schroffheiten. Böse fuchtelnde Gebärdenmonologe über die anderen, den Platz, den Himmel, über die Welt im gemeinen Zorn um des Zornes Willen. Sie alle glichen gespannten Katapulten.
Und ich stand mitten unter ihnen und schwieg meine Fremdartigkeit in mich hinein, merkte aber bei jedem Anrempeln, wie ein Quentchen Wut auch in mich hineinschwappte. Meine Zornespfütze wuchs, ein ungeheurer Drang mitzufluchen, zurückzustoßen, zu schlagen und zu prügeln. Ich spürte, dass jeder kurz davor war, die letzte Hürde zur Gewalt zu nehmen, aber keiner wagte den Sprung. Die Luft vibrierte wie über einem brennenden Espenwald. Irgendwann musste ein Zorndamm brechen. Nur ein Haarriss, und sofort würde eine Wunde auseinanderklaffen, die eine Sintflut der Brutalität über uns herschwappen ließe.
Da flog plötzlich ein Vogel über unsere Köpfe hinweg. Eine Taube. Und unter dem Flug des Vogels preschte alles panikartig auseinander, flüchtete vor dem doch so friedvollen Tier. Als der Vogel zur Landung ansetzte, wich sofort ein Furchtkreis auseinander. Einige stürzten, und es wurde auf ihnen herumgetrampelt. Von all dem völlig unbeeindruckt setzte die Taube auf, gurrte leise, und pickte Zorneskrumen vom Kopfsteinpflaster. Die stumm-blinden Gesichtsfassaden verfolgten zitternd jede ihrer Bewegungen.
Doch plötzlich flog die Taube wieder auf, stürzte sich auf einen der Umstehenden und hieb ihren Schnabel in dessen Maske, zerfetzte die Haut, riss sie in Lappen herunter. So schnell und überraschend, dass niemand zu einer Verteidigung fähig war, überfiel der Vogel noch einen Weiteren und einen Dritten und siehe da: Unter den zerrissenen Fassaden kamen menschliche Züge zum Vorschein.
Daraufhin ließ sich die Taube auf meiner Schulter nieder und gurrte leise in mein Ohr. "Nun sieh, kleiner Denker, was passieren wird, wenn man ihre Nasen ins Offenbare drückt."
Die Befreiten blinzelten mit ihren hellblauen Augen, als müssten sie sich erst aus ihrer Erstarrung lösen und sich an die neue Wahrnehmung gewöhnen. Zaghaft betasteten sie die hängenden Fetzen, zupften sie von ihren Gesichtern und starrten auf die Reste in ihren Händen. Sie schauten in die frischen Antlitze der anderen, ganz verdutzt und verwirrt, als hätte jemand einen Witz erzählt, dessen Pointe sie nicht verstanden hatten.
Da begann endlich der Erste: Zuerst war es nur ein Zucken, das um seine Mundwinkel kroch. Die anderen glotzten ihn fassungslos an, als das Zucken zu einem Grinsen und immer weiter auseinander wuchs und schließlich ein schallendes Gelächter aus ihm herausplatzte. Und als hätte er ein längst fälliges Grünlicht gezündet, stimmten auch die anderen beiden mit in das Lachen ein.
Mir erschien diese Freude seltsam verkrampft. Unlustig. Als werde nur gelacht, weil sich jemand getraut hatte, die Zähne zu zeigen. Das war keine Freude. Das war Belustigung.
Die sich inzwischen vor haltlosem Geiern Krümmenden wandten sich den Flachgesichtern zu, zeigten mit den Fingern auf sie, prusteten und brachen in noch lauteres Hohngelächter aus. Die blinden Gesichter der Leute schauten verwirrt umher, ohne zu merken, dass sie selbst der Grund zur Erheiterung waren, was zu wild johlendem Nachgeäffe führte. Da rissen die Grölenden einigen Vermummten die Haut vom Kopf. Der Vorgang wiederholte sich und die Folge war ein euphorisches Massaker. Hautfetzen wirbelten durch die Luft und segelten zu Boden. Befreite Augen blinzelten und gafften. Mäuler stemmten sich auseinander zu einem impulsiven Gelächter, das wie eine Kettenreaktion weiterwucherte und bald den ganzen Platz mit albernem Gegacker erfüllte.
Ich sah zu und nickte zufrieden. Da stupste mich die Taube mit ihrem Schnabel an und gurrte: "Bist Du nun froh darüber, erblicken zu dürfen, was Du in den sicheren Wänden Deines Zimmers zu vermissen glaubst? - Ja, alle lachen. Aber worüber? - Willkommen im Leben, kleiner Denker! Dein Traum bringt es auf den Punkt."
Die Taube hatte Recht. Das Gelächter veränderte sich und eine Verwandlung rauschte durch die Menge:
Die Einen verstanden das Lachen der Anderen als Hohn, fühlten sich beleidigt und provoziert. In der Überzeugung, über die Anderen richten zu dürfen, die später zur Erkenntnis gelangt waren, forderten die Einen entsprechende Achtung. Die Anderen wiederum forderten von den Einen Respekt dafür, so schnell gelernt zu haben. Ohne sie, die Anderen, hätten sie, die Einen, es niemals geschafft, überhaupt zur Erkenntnis zu gelangen.
Alle Kläger klagten alle Angeklagten vor allen Richtern an. Sie begannen wieder zu rüpeln und Unfreundlichkeiten zu knurren. Und bald konnte ich beobachten, wie erneut Unmut über die Gesichter zog. Wie eine formlose Hautschicht, die alles verdeckte und stumm und blind machte ...
Und die Taube auf meiner Schulter sagte: "!?"
Ich weiß nicht genau, wie sie es ausdrückte, aber diese Zeichen waren ihre Worte.
Darunter (in Klammern):
(Taube - Vogel ohne Falschheit - Symbol des Friedens - Frau - Geliebte - Bild schöpferischer Gedanken - Sinnbild geistiger Höhenflüge - Heizrohrgurrer - Geist? - Oder nicht weichen wollender Dämon? - Tauben - Wenn sie am Boden sind, fressen sie einem aus der Hand - Fliegen sie empor, bescheißen sie einen ...
Das soll mir eine Lehre sein? Das soll mir eine Leere sein. Was ist wirklich wirklich? Wo ist ein Licht am Ende dieses Zimmers? Hätte ich doch einige Brotkrumen. Ich könnte mir eine Fährte legen, die mich aus dem Dickicht dieses Gedankenwaldes führt. Brotkrumen. Giftgetränkt.
Soll'n sie's fressen und krepieren, diese Biester!!)
An OWand hängen jene 2 Bilder, schlichte Rahmen, exakt gleiche Augenhöhe: Schwindel erregendes, o-förmiges Muster, schlierige Farben: schwarz, blau, braun, beige, von innen nach außen heller, einander spiegelverkehrte Kopie, Mittelpunkte leicht nach innen.
Folgender Text auf Stuhlsitzfläche:
Lange Zeit habe ich vor diesen Bildern gesessen. Sobald ich sie anschaue, saugen diese Kreise meine Blicke in sich auf. Wenn ich den Blick durchs Zimmer schweifen lasse, kann ich nicht umhin, ihn in diesen Kreisen zu baden verweilen zu lassen.
Baden? - Wie kam ich darauf? Es gleicht tatsächlich einem unfreiwilligen Bad in einem unergründlichen Tümpel. Ein Morast, den man durchqueren muss, um weiterzukommen.
Nun habe ich mich diesen Gemälden gestellt. Unvoreingenommen und objektiv. Wie man Bilder betrachten muss, wenn man erkennen will, was der unbekannte Künstler mit seinem provozierenden Werke auszudrücken gedachte. (Ha!Ha!Ha!) Ich habe meinen Sitz direkt vor sie gestellt, der zweite Stuhl dient als Schreibunterlage, der Bleistift ist gespitzt. Wenn diese Bilder schon so aufdringlich in meinen Verstand dringen wollen, so sollen sie es nun tun. Aber deutlich und gerade heraus, wenn sie den Schneid dazu haben.
Westliches Tischende, letzte Worte schwer zu entziffern. Schreibfehler.
Will nicht wissen, wer sie gemalt hat! Sie sind schrecklich! Und doch genial. Diese Farben, kräftig und verschwenderisch aufgetragen, verwaschen - sie wirr sie wirken so verweint. Je langer ich den Blick auf den Kurven verharen lasse, um so runder, deutlicher, ... lebendiger werden sie. Sie verändern irre Form, schleichen ummeinander rum, um zu verschmeltzen, stulpen sich nach innen, nach hinten, wie ein Tunmel in die Wand hinein ein Loch ein Apgrund Schacht eine bodenlose Vertifung in die man hineinzuschlüpfen fahig wirt. Bei allen was mir wert ist - ich würde nicht selbst wenn ich konnte. Das sind keine Locker sind dies Nein sint Rachen Schlunde geifernde Kifer öfnen sie sich Sperangelweit schlingbereit nemen die ganze Breite der Wand ein und noch mehr und sei es nicht genuch krichen sie über die Decke den Boden zu mir verschluken den Raum reiben sich an meinen Körper manteln betten mich liebkoosen verbrennen umgaarn zerkwetschen mich zugleich Locken Apstoßen Schlagen Streicheln Lecken Verrrenken Wiegen Beschwören Schweigen Lachen Weinen. Ich muss zu ihnen ich muss zurük Weiterkucken ...
Kommodenoberfläche:
ES SIND AUGEN !!
DIESE STARRER
BLINZELTEN MICH AN !!
Schrank, innen, zittrig:
Mein Kopf schmerzt. Ich musste mich zwingen gegen die Wand zu rennen.
Ich habe versucht, diese grauenhaften Dinger zu entfernen, näherte mich ihnen mit zugekniffenen Augen, um nicht noch einmal einen Blick zu riskieren. Meine Hände zittern. Nur noch meine Hände; Herz und Atem haben sich beruhigt. Einigermaßen.
Ich wollte sie irgendwo verstauen. Endlich, so dachte ich, hätte der Schrank eine sinnvolle Aufgabe. Als Kerker für dieses Teufelswerk.
Aber es geht nicht. Sie sind in den Wänden. Ich habe versucht, den Schrank davorzurücken. - - - - - Er ist fest!! SÄMTLICHE MÖBEL SIND MIT DEM TEPPICH VERWACHSEN!!! Ich versuchte, den Stuhl - den ich schon so oft verschoben habe!! - gegen sie zu schmettern! Nichts!! Als würden sie sich gegenseitig schützen. Weder mein Hemd noch meine Hose halten an den Rahmenkanten, sie rutschen immer wieder ab! Was ich auch vorhabe, das Zimmer scheint es zu erraten und dem entgegenzuwirken.
Ich habe mich in den Schrank geräumt. In meinen Schutzbunker vor dem Blitzblickgewitter da draußen im Zimmer.
Sie wissen, dass ich um sie weiß. Ich weiß, dass sie das wissen.
WWand:
NEIN! Der Wahn soll mich nicht kriegen! So schnell bekommen mich Leinwand, Farbe und Holz nicht klein.
Sie gaffen mich an. Es stört sie nicht im Geringsten, dass ich ihnen den Rücken zuwende.
Aber ich habe den Osten aus meinem Kompasszimmer verbannt. Ich werde nur noch durch den Drei-Viertel-Horizont schleichen, sorgfältig auf Zonenblindheit achten.
Macht euch zu!!
Geht schlafen!!
WWand:
Geduld. Nur Geduld.
Warten verlängert nur die Zeit.
Grübeln ist reine Nervensache.
Gedanken fahren Schnellstraße. Doch entweder auf der Überholspur oder auf dem Seitenstreifen. Kommen sie erst in die Gänge, werden Abfahrten zu Möbiusschleifen.
Ruhe. Nur die Ruhe, lieber leibeigener Freund. Jeder kann warten. Geduld muss man üben. Heute ist alle Tage. Ich muss diese Leere nur begreifen und lernen, Unendlichkeit einzuteilen? Jede Zeit muss mal ein Heute gewesen sein.
Muss meine Nerven beisammen halten. Meine Gedanken sprinten mir davon.
Gleich darunter, offenbar später:
Es könnte funktionieren. Ich fand es beim Starren heraus, aus reinem Zeitvertreib:
Ich muss meine Sinne in den Süden schicken, wo es schön ist und warm. Dazu muss ich aber erst zur Ruhe kommen. Erst die Ruhe bringt mich dort hin. Ich habe sie bereits gespürt. Sie ist hier. In diesem Raum. Sie versteckt sich nur meistens. Hinter der Stille. Ich muss die Stille erst durchqueren. Wie man einen Weg gehen muss, um an ein Ziel zu gelangen, muss ich zunächst all die wirren Gedanken in meinem Kopf loswerden. Wohin sie schweifen ist egal. Hauptsache, sie sind nicht mehr bei mir in diesem Augenzimmer. Würde mich jemand fragen: "Worüber denkst du nach?", darf ich es nicht beantworten können.
Es könnte funktionieren. Ich war ganz nah dran, an der Ruhe des Südens.
WWand, letzter Text:
Ich habe ihn gefunden: Meinen rettenden Fixpunkt. Ich finde ihn immer wieder, kann ihn anschauen, seinen Inhalt, seine Umgebung studieren. Er ist nichts weiter als ein weißer Punkt auf einer weißen Tapete, kein sichtbarer Fleck, nur berührbare Leere. Aber hinter ihm liegt der Süden.
Ich fühle das Zimmer dort nicht mehr. Als sei ich auf links und meine Blicke zu Schwalben gefaltet, und ich schicke sie durch die kleine Punktöffnung in eine Welt, die mit diesem Albtraum nichts gemeinsam hat. Ich sehe... Land. Berge und Seen, Wälder aus sattem Grün, mit Tieren, die nur ihren Trieben folgen und sich um nichts weniger kümmern dürfen. Himmel mit Wolken, weiß und wattig. Städte voller Menschen, strebsame Seelen, die miteinander sprechen, etwas Sinnvolles zu tun haben, leben und lieben. Die Kraft ihrer Herzschläge erschlug mich fast. Ich spürte sie durch meinen vereinsamten Körper pulsieren. Jedes einzelne Herz pochte mir zu.
Dabei ist es nur ein Punkt, eine Stelle auf einer schweigsamen Wand.
Und ich gab ihm einen Namen: Eden
Ich darf meine Hand auf diesen Punkt legen und weiß: Dort liegt mein Reich. - Und ich spüre, ja: Meine Königin herrscht über ihn, schön und mächtig und gnädig. Sie verspricht mir, mich jederzeit Willkommen zu heißen.
Ich habe Zeit. Ich kann den Südpunkt noch oft besuchen.
Schriftänderung. Vorher fahrig, wellig, langgezogen, jetzt sachlich und hart. (Eingeschlafen und plötzlich aufgewacht?)
Zeit - was ist das? Warum klammere ich mich an ein Wort, für das ich in diesen Wänden keine Bestätigung finde? Zeit ist hier nichts weiter als ein Begriff für Ewigkeitssekunden.
Diese Mauer hat den Sinn erfüllt.
NWand, Schrift ungelenk und bröckelig:
Der zweite Bleistift ist verbraucht: Etliche Male habe ich ihn angespitzt, doch erst jetzt bemerkt, was es mit dem Spitzer auf sich hat.
Es ist ein kleiner abschraubbarer Behälter aus grünem Plastik. Mich wunderte, dass er nie voll wird, warum man nichts hört, wenn man ihn schüttelt. - Es ist nichts drin. Die Späne verschwinden.
Ich habe versucht, den Griffel ohne den angeschraubten Behälter in der Klingenkapsel zu spitzen. Aber so lässt er sich nicht drehen. Irgendein seltsamer Mechanismus, der nur funktioniert, wenn das Gerät zusammenmontiert ist. - Teufelsding! - Verschraubt ist es ein Schwarzes Loch, in dem alles verschwindet und keinerlei Reste hinterlässt.
Ich versuchte, meine Kleidung zu zerreißen, zerrte an meinen Hosenbeinen, bemühte mich, sie auseinanderzurupfen, zu zerfransen, stellte mich drauf und zog, nahm eine Schrankecke zur Hilfe, hängte mich mit ganzem Gewicht an den dünnen Stoff. - Eher könnte ich die Wände zu Kurven lutschen.
Desgleichen mit dem Mobiliar: Kein Holzspan lässt sich absplittern, keine Kerze zerbrechen. Als ich vorhatte, die Stühle zu zertrümmern, ließen sie sich nicht einmal bewegen. Nur wenn ich sie ohne Bedacht anstoße, verrücken sie.
Es ist, als wüssten die Dinge über meine Wut Bescheid. Wie kriege ich einen Stuhl zu packen, der so etwas ahnen kann? Ich könnte ihn nur aufnehmen, wenn ich seine Zerstörung nicht geplant habe, um erst dann auf die Idee zu kommen, ihn zu zerschlagen, wenn ich ihn in der Hand halte, ihn von seinen Augenzimmerfreunden getrennt habe. - Wie soll ich das denn machen?
Noch etwas ist mir aufgefallen. Ich glaube, mich eigentlich rasieren zu müssen. Aber ich kann es nicht. Mein Kinn ist und bleibt glatt wie die Haut eines neugeborenen Kindes. (WIE EINES NEUGEBORENEN KINDES!! DAS IST KOMISCH! DAS IST WIRKLICH KOMISCH, NICHT WAHR?!?!) (Nerven. Ich muss meine Nerven behalten.) Kein einziges Haar von mir wächst. Ich habe versucht, sie mir aus der Kopfhaut, aus den Achselhöhlen und aus dem Schambereich zu reißen. Doch keine einzige Strähne, kein Flaum, keine drahtige Borste will sich rupfen lassen. Und ich habe so lange so fest gezogen, dass Sterne in diesem Zimmer tanzten. Auch meine Nägel wachsen nicht. Nicht einmal ein Span lässt sich abknabbern.
Es erscheint unmöglich, Spuren zu hinterlassen. Offenbar soll ich alles mitnehmen, was ich hab und bin. - Restlos. Und so lange ich keine Nahrung zu mir nehme, nehmen kann!, kann ich auch keine Exkremente ausscheiden.
NWand, an anderer Stelle:
Ich nagte gedankenverloren am dritten Bleistift, als er plötzlich unter meinem Biss zerbrach. Einmal entzwei, zerbricht offenbar auch die Unzerstörbarkeit. Da überkam es mich einfach.
Grafit und Holz schmecken nicht, trotzdem aß ich auch noch die beiden ersten; die Reststummel waren so klein, dass ich sie schlucken konnte.
In meinem Bauch rumort es. - Aber ich bin gespannt, was nun geschieht.
NWand, offenbar später:
Nichts. Vorbei. Resultat negativ. Keine Spuren möglich.
Ich kann diesen gottverdammten Ort nicht einmal bescheißen!!
Dito:
Ich laufe unsichtbar und unbemerkt an allem vorbei. Wenn es ein ‚früher' gibt, habe ich dort Spuren hinterlassen?
Ich brauche eine Erinnerung von mir an mich. Etwas, woran sich nicht nur die stumme Zeit erinnert, sondern auch Menschen. Und seien es die Einen oder die Anderen. Ich will, dass jemand von mir sagen wird: "Ja, den kannte ich" oder wenigstens "Doch, der Name sagt mir was." Und wenn sie ein "Glaub' ich jedenfalls" hinzufügen, will ich auch zufrieden sein.
Ich muß Spuren legen. Ich muss. Ohne Spuren ... was bleibt da? - Leergespülter Sinn. Hoher, ungestört gefallener Staub. Mit mir bröckeln Krumen vom Gebirge. Ich bin ein Spurenelement! Ein Puzzleteil aus dem wolkenlosen Himmel eines Bildes. Zur Not wird man meine Stelle blau ausmalen.
Aber Spuren ... Woher mit ihnen? Wann ist der Zeitpunkt, eine Spur zu legen? Legt man Spuren früher oder später? Frühe vertrocknen. Späte laufen Gefahr, nie entdeckt zu werden. - Und für was? Erinnerungen? Erinnerungen sind auswendig gelerntes Leben. Was nützt Auswendiggelerntes, wenn niemand es abfragt? Meine Lebenszensur in diesem Ein-Schüler-Klassenzimmer wird ‚ungenügend' sein. 6 plus. Knapp am ‚mangelhaft' vorbei. Von ‚befriedigend' weit entfernt. Durchgefallen.
- Meine einzigen Spuren sind meine Wandworte. Aber ich fürchte, bisher lassen sie nur Wünsche übrig. Sie zerschreiben sich zwischen meinen Händen.
Meine Finger tun so weh.
NWand, knapp überm Boden:
Wer sagt, dass gute Erinnerung länger währt als mangelhafte? Vielleicht sind schlechte Spuren viel deutlicher zu legen ...
Von Sprechblase eingefasst:
Ich piss eure Schneestapfenspurenlöcher gelb, ihr Scheisser !!!
Darunter:
Niemand kann behaupten, ich hätte es nicht versucht.
(Letztes Ausrufezeichen wurde offenbar ‚nachbearbeitet', fast eingraviert.) Weiterhin NWand:
Ein weiterer Triumph! Ich habe noch einen Stift zerbrechen können. Eigentlich ein Versehen. Die Mine brach. - Der Bann ist gebrochen! Sein Tabu dahin! Ich habe diesen Bastard zerbröselt! Auf den Tisch gerammt! (Kein Kratzer auf der Fläche.) Ihn zu einem jämmerlichen Häuflein zusammengefegt! Ein ergötzlicher Anblick!
Bald wird er brennen! Brennen soll er!! BRENNEN!!!
(Fortsetzung folgt)