Querpass

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lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Querpass

Die Straße queren
schräg
Obacht der Zweitaktgefahr
der seltenen Gefahr
als das Berghain
noch Kohlenkristalle gebar
und das Quasimodo
lag
die eine verkehrte Welt entfernt

doch der Kiosk
das Quadrat
stand an der Ecke
ein Dreiminutenumweg
zur Oberschule mit dem Komsomolzennamen

die Junge Garde
oh, Koschewoi
die beste im Viertel
was bin ich dir dankbar
für die Elite
was durfte ich bleiben

der
beliebig Benamste
Betragenauffällige
mit den guten Noten

steh mal in der Halle und höre
den Betriebsfunk funken:
»Ey, Harri, Dein Sohn, in der Schule …«

dann geh schmal
durch die Halle
und alle
denen du Jahre lang
Respekt abbitten musstest
glotzen dir nach
dem Erziehungsversager
und in der Schule
stellt man dir 30 Lehrerinnen
gegenüber
dir
mit dem Abschluss der Fünften
dir
dem Bastard mit den drei
Geburtsurkunden
weil Krieg
und Dinge passier’n

was machst du allein
gegen alle

ja
das war so eine Schule

und der Kiosk
hatte Bücher
und die trug er
nicht im Gesicht

jeden Tag ging ich quer
dahin
mir war
der Verkäufer egal
wichtig war
der Rest
und das Buch.
 

Willibald

Mitglied
Wow!

Ein ungewöhnlich gutes Langgedicht und der Queer-Einstieg in einen präsent-vergangenen Zeit-Raum. Ungewöhnlich geschickt etwa das unaufdringlich frühe Signal mit den Zweitaktern und ihrer Ausstrahlung samt Ausdünstung. Und, und....

greetse

ww
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Ein Text, der mich als Leser sofort abholt und mitnimmt. Und dabei begegnet ich manchem, was ich selbst mal (wenn auch villeicht leicht abgewandelt ;-)) erlebt hat.

LG
Cellist
 
Drüberwegfliegen

Was eine wohlcolorierte Wanderung, die ich gern mitging.
Das Leben mit Bröckelworten zu bemalen, gibt ihm Gedankendüfte, die einen den Erinnerungspinsel zücken lassen. Wir werden Wanderschuh und Sehadler zugleich.

Sonntagsgrüße
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Diese Pampe aus Ostalgie und selbstmitleidigem Gejammere muss man sich auch nach fast 30 Jahren deutsche Einheit anhören...soll das Literatur sein?

Dieses ewige und ewige Dahingerede, um schließlich zu einem halbwegs brauchbaren Angebot zu kommen:

und der Kiosk
hatte Bücher
und die trug er
nicht im Gesicht


Da war Brecht in der Nähe, ohne vernebelnde Zigarre.

Der Rest ist so dürftig, dass er nach dem Versenken im Müggelsee nicht einmal dessen Wasserspiegel befragen könnte.
 

Willibald

Mitglied
Salute in die Runde!

Diese Pampe aus Ostalgie und selbstmitleidigem Gejammere muss man sich auch nach fast 30 Jahren deutsche Einheit anhören...soll das Literatur sein?
Tja, dieser Text vom Besuch in der Ostenherkunftsstadt und Ostenlebenswelt der ist Literatur, meine ich, gute Literatur finde ich. Ein feines Langgedicht von der Struktur her. Und vom Thema her was Überzeitliches, oft Totgerittenes. Hier gar nicht.

p.s.

Und hier noch so ein ein Ritt:

In „Western Stars“ (März 2019)

lässt Bruce Springsteen einen verblassten Star sein Lied singen.
Drinks und die blaue Pille, das magische Zurückholen einer Vergangenheit mit strahlenden Sternen in der Nacht. Einmal von John Wayne erschossen in einem Film. Von einer Werbesendung für Kreditcarten einer Frau an der Bar erkannt.
Die Sprechsituation am Anfang und zum Ende des Songs: Aufwachen am Morgen. Gut, dass man die Stiefel noch anhat. Einmal im Präsens, dann in der nahen Vergangenheit. Die ferne Vergangenheit liegt dazwischen.

https://www.youtube.com/watch?v=_IXzAAKrsFE

"Western Stars"

I wake up in the morning
Just glad my boots are on
Instead of empty in the whispering grasses
Down the Five at Forest Lawn
On the set, the makeup girl brings me
Two raw eggs and a shot of gin
Then I give it all up for that little blue pill
That promises to bring it all back to you again

Ride me down easy
Ride me down easy, friend
Tonight the western stars are shining bright again

Here in the canyons above Sunset
The desert don't give up the fight
Coyote with someone's Chihuahua in it's teeth skitters
'Cross my veranda in the night
Some lost sheep from Oklahoma
Sips her Mojito down at the Whiskey Bar
Smiles and says she thinks she remembers me from that
Commercial with the credit card

Hell, these days there ain't no more
Now there's just again
Tonight the western stars are shining bright again

Sundays I take my El Camino
Throw my saddle in and go
East to the desert where the charros
They still ride and rope

Our American brothers cross the wire and bring the old ways with them
Tonight the western stars are shining bright again

Once I was shot by John Wayne
Yeah, it was towards the end
That one scene's brought me a thousand drinks
Set me up and I'll tell it for you, friend

Here's to the cowboys
Riders in the whirlwind
Tonight the western stars are shining bright again
And the western stars are shining bright again

Tonight the riders on Sunset are smothered in the Santa Ana winds
And the western stars are shining bright again

C'mon and ride me down easy
Ride me down easy, friend
'Cause tonight the western stars are shining bright again

I woke up this morning
Just glad my boots were on


"Western Stars"

Ich wache morgens auf.
Ich bin nur froh, dass ich meine Stiefel anhabe.
Anstatt dass sie leer in den flüsternden Gräsern stehen.
Auf dem Forest Lawn die Fünf hinunter
Am Set bringt mir das Make-up-Mädchen
Zwei rohe Eier und ein Schuss Gin.
Dann gebe ich alles für die kleine blaue Pille.
Das verspricht, dir alles wieder zurückzubringen.

Fahre mich sanft runter.
Fahre mich sanft hinunter, Freund.
Heute Abend leuchten die westlichen Sterne wieder hell.

Hier in den Schluchten über dem Sonnenuntergang
Die Wüste gibt den Kampf nicht auf.
Ein Kojote mit dem Chihuahua von jemandem in den Zähnen
Huscht über meine Veranda in der Nacht.
Ein verlorenes Schaf aus Oklahoma
Schluckt seinen Mojito unten in der Whiskey Bar.
Lächelt und sagt, sie denkt, dass sie sich an mich erinnert.
von der Werbung mit der Kreditkarte her.

Zum Teufel, heutzutage gibt es sie nicht mehr.
Jetzt ist es nur noch einmal so weit.
Heute Abend leuchten die westlichen Sterne wieder hell.

Sonntags nehme ich meinen El Camino Pick up.
Werf meinen Sattel rein und fahre
Östlich in die Wüste, wo die Charros
reiten und ihre Seile nutzen, immer noch.

Unsere amerikanischen Brüder überqueren
die Stacheldrahtgrenze und bringen die alten Wege mit.
Heute Abend leuchten die westlichen Sterne wieder hell.

Einmal wurde ich von John Wayne erschossen.
Ja, es war gegen Ende.
Diese eine Szene hat mir tausend Drinks gebracht.
Gib mir einen aus und ich werde es dir erzählen, Freund.

Auf die Cowboys.
Reiter im Wirbelsturm
Heute Abend leuchten die westlichen Sterne wieder hell.
Und die westlichen Sterne leuchten wieder hell.

Heute Abend werden die Reiter des Sonnenuntergangs
in den Winden von Santa Ana erstickt.
Und die westlichen Sterne leuchten wieder hell.

Komm schon und fahre mich einfach runter.
Fahre mich einfach hinunter, Freund.
Denn heute Abend leuchten die westlichen Sterne wieder hell.

Ich bin heute Morgen aufgewacht.
Ich bin nur froh, dass meine Stiefel dran waren.

https://up.picr.de/36026013zj.jpg

greetse

willi wamser
 

Walther

Mitglied
die geschmäcker sind eben verschieden,

lb Willibald,

und melancholie, gewürzt mit je einer prise abschiedsschmerz und zynismus, nicht jedermann sache.

danke für den songtext des meisters.

lg W.
 

Willibald

Mitglied
Salute, Walther und Aficionados

Springsteen in Romanprosa, zu Landschaft, Verschwinden und Lyrik/Lied/Song:

Eines Novemberabends, während ich an diesem Buch schrieb, fuhr ich noch mal in meine Heimatstadt: dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Die Straßen waren verwaist. Die Kirche an der Ecke stand noch genauso da wie früher. Kein Laut drang von dort herüber. An jenem Abend fand unter ihrem Dach weder ein Begräbnis noch eine Hochzeit statt.

Langsam fuhr ich fünfzig Yards weiter an meiner alten Straße entlang und sah, dass meine riesige Rotbuche verschwunden war, dass man sie ganz unten am Stamm abgesägt hatte. Mein Herz setzte für einen Schlag aus … Als ich mich wieder halbwegs gefangen hatte, sah ich erneut hin und erkannte, dass sie zwar verschwunden, aber trotzdem immer noch da war: Die Luft über ihrem Stumpf war immer noch erfüllt von der vertrauten Gestalt und tröstlichen Präsenz meiner alten Freundin. Zwischen ihren Blättern und Zweigen schimmerten die Sterne und der Abendhimmel hindurch. Ein Rechteck aus modriger Erde, die am Rand des Gehwegs durch den Parkplatzasphalt brach, war alles, was von ihr übrig geblieben war.

Doch darin steckten immer noch Wurzeln, die wie kleine Schlangen aussahen und nur halb von Dreck und Staub bedeckt waren. Genau dort war der Stamm meines Baums noch gut zu erkennen. Er war genauso wenig gerade und vorhersehbar gewesen wie mein Leben. Mein großartiger Baum war weder gefällt noch ausgelöscht worden – weder durch einen Erlass der Behörden noch mit dem Sägeblatt. Genau wie mein Vater, meine Großmutter, Tante Virginia, meine beiden Großväter, mein Schwiegervater Joe, meine Tanten Dora und Eda, Ray und Walter Cichon, Bart Haynes, Terry, Danny, Clarence und Tony … und genau wie meine Familie, die aus jenen Häusern fortgezogen war, in denen nun Fremde wohnen.

Wir alle sind immer noch da. Man findet uns in der Luft, im leeren Raum, in den verstaubten Wurzeln und tief in der Erde, im Widerhall der Geschichten und der Songs, die davon erzählen, wann und wo wir gelebt haben. Mein Clan, mein Blut, mein Ort, meine Leute.

Bruce Springsteen: Born to Run. Die Autobiografie. München: Heyne 2016; S.661-662
greetse
ww
 

Walther

Mitglied
ja, der Bruce, ein mann der worte,

lb. Willibald,

nicht jeder, der worte gebraucht, ist auch in ihnen zu hause.

lg W.
 

Willibald

Mitglied
So ist es, Carissime.

Dieser hier ist auf ein vertrackte und schöne Art in Worten zuhause und nicht:


HERKUNFT ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.

HERKUNFT ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, die Stafette der Jugend und viele Sommer. Den Sommer, als mein Großvater meiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass ich beinahe nie geboren worden wäre. Den Sommer, als ich fast ertrank. Den Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ und der dem Sommer ähnlich war, als ich über viele Grenzen nach Deutschland floh.

HERKUNFT ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre.

HERKUNFT ist traurig, weil Herkunft für mich zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist.

In HERKUNFT sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden.

Diese sind auch HERKUNFT: ein Flößer, ein Bremser, eine Marxismus-Professorin, die Marx vergessen hat. Ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte. Ein Wehrmachtssoldat, der Milch mag. Eine Grundschule für drei Schüler. Ein Nationalismus. Ein Yugo. Ein Tito. Ein Eichendorff. Ein Saša Staniši?.
greetse
ww
 
Viele meiner Erinnerungen an das Einst, verbinden sich mit Gerüchen.
Es reicht, manchmal einen Duft einzuatmen, und schon beginnt Kino. Mein Langzeitgedächtnis produziert Souvenirs aus einer anderen Zeit, holt sie aus dem Gehirnkeller hervor. Eigenartigerweise sind das immer positive Rückblicke. Düfte, die Negatives in sich tragen, erinnere ich nicht.
Sehr, sehr komisch.

Das sind dann, um mich wieder an die Eingangsgedanken anzulehnen, unerwartete Situationen, in denen so was auftaucht. Das kann bei einem Schlendern durch Menschenansammlungen passieren; Parfüm, Essbares, Körpergerüche, all dies …
Und eben bei Geschriebenem, wie bei diesem wirklich schönen Gedicht. Toll, dass es diese Besucherfrequenz hat und auslöst, was es auslöst.

Herzliche Grüße, ganz besonders an willibald, der so treffend die Dinge zusammenfasst.
 

Willibald

Mitglied
Ja, man betritt den Echoraum seiner Geschichte und bewegt sich plötzlich in einem magisch lebendigen Archiv.
Und der Leser betritt im fremden Echoraum den eigenen.

Oft glückt dann die Begenung mit dem Autor und mit sich selbst.

Beste Grüße an Spätschreiber
ww
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Verstehe ich recht, wenn ich dieses Gedicht als Rückschau auf deine eigene Vergangenheit lese?

Dann musst du ja mächtig gelitten haben in der DDR, so als Außenseiter mit den guten Noten und der schlechten Disziplin.
Alles Widerstand? Na ja, jetzt hast du ja, was du wolltest: Freiheit, wie du sie verstehst.

Das Gedicht unternimmt einen Rundumschlag gegen die DDR, die es nach deiner Ansicht verdient hat, und das ist dir gelungen.
Ein Glück, dass jetzt alles anders ist, kann ich nur sagen.
Heute haben die Schüler jede Menge Freiheit, die dürfen sogar die Schule schwänzen und kein Lehrerkollektiv zitiert die Eltern vors Schulgericht wegen schlechter Erziehungsarbeit.
Heute dürfen die Kinder, wenn ihnen der Lehrer eine schlechte Note gibt, ihren Lehrer verprügeln - das ist Freiheit zum Quadrat! Und wenn gar nichts gegen schlechte Noten hilft, laufen sie Amok und legen ratzbatz ein paar Leute um. Wer hätte sich das in der DDR vorstellen können? Es gibt eben einen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur.

Du hast die DDR in diesem Gedicht gut erfasst, besser könnte ich es auch nicht.

blackout
 



 
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