Randereignis

Breimann

Mitglied
Ein Randereignis
Der Zug hat Verspätung! Schon in München war er unpünktlich; hier in Stuttgart hat er noch ein paar Minuten drauf gelegt.
Es ist heiß, die Fenster lassen sich in diesen modernen, klimatisierten Zügen nicht mehr öffnen; aber die Klimaanlage schafft ihr Soll nicht. Diese stickige Luft macht die Menschen aggressiv und ungeduldig; man hört die Kinder quengeln; sie leiden besonders unter dieser schwülheißen Witterung; die Mütter antworten hastig, genervt, ungeduldig.
Ich vertrete mir die Beine, stehe im Gang und beobachte den alltäglichen Austausch der ankommenden und abfahrenden Reisenden, das Geschiebe und unnötige Gedränge im Wagen und auf dem Bahnsteig. Aussteigende, kofferbeladene Frauen und Männer, quetschen sich durch ungeduldig Wartende, die sich vor den Wagentüren aufgebaut haben; sich zentimeterweise vordrängeln und heranschieben, um ja noch eine Chance auf einen freien Platz zu haben.
Dann verteilt sich alles sehr schnell in den Gängen, sie verschwinden mit Aufatmen in den Abteilen, oder stehen resigniert auf den Wagenplattformen. Der Bahnsteig ist jetzt fast leer. Etwas weiter weg sitzen zwei Frauen auf der Bank, eine trägt ein weinendes Kleinkind auf dem Arm, schüttelt es, hebt es über den Kopf, versucht mit gutem Zureden das Weinen abzustellen.
Die Frauen sind jung, sehr jung, modisch mit offenen Sandaletten, kurzen engen Röcken und bauchnabelfreien Tops – eines in rot und eines in schwarz - gekleidet. Sie unterhalten sich, werfen keinen Blick auf den Zug; sie warten wohl auf niemanden.
Im Gang ist es ruhig geworden, Abteiltüren haben sich geschlossen, die platzlosen Reisenden sind wohl auf Wanderschaft gegangen, suchen einen freien Sitz.
Ich will mich gerade zurück ins Abteil begeben, als ich die Stimme höre. Sie ist hell, sehr hell - alarmschlagend schrill und klar. So ruft nur jemand, der in Not ist.
„Mama, bitte, bitte! Darf ich aussteigen? Bitte, Mama!“
Ich bleibe stehen, blicke mich suchend um. Ein Junge, zehn oder elf Jahre, schmächtig mit blassem Gesicht, steht im Wagen an der offenen Tür. Auf dem Rücken baumelt ein Rucksack, in den höchstens eine Zahnbürste und etwas Unterwäsche passt. Er hat eine kurze Hose an, aus der lange, blasse Beine wie Streichhölzer heraus schauen. Er klammert sich an die Haltegriffe und starrt zur Bank herüber, auf der die beiden Frauen sitzen.
Jetzt steht eine von ihnen lässig, betont langsam auf. Sie wirkt genervt, ungeduldig. Es ist die Frau im roten Top, ohne Säugling; sie ist hübsch, wie man beim Näherkommen erkennen kann, ihr blasses Gesicht wird von langen schwarzen Haaren eingerahmt. Sie streicht den Rock lässig herunter und bleibt einen Meter vor dem Wagen stehen; ich kann ihr Gesicht gut sehen. Es ist seltsam leer, nichtssagend - und ohne Regung.
„Bleib drin; komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen!“
„Mama, bitte!“
„Mach keinen Zirkus! Dein Papa holt dich in Dortmund ab; freu dich auf ihn.“
„Bitte, bitte Mama! Darf ich aussteigen?“
Er rührt sich dabei nicht von der Stelle, steht wie angewachsen. Seine Mutter dreht sich weg, streift mich mit einem leeren Blick, geht wortlos zur Bank. Ich sehe, wie sie mit ihrer Banknachbarin spricht, die sich noch immer bemüht, das Schreien ihres Kindes abzustellen. Ich kann ihre Worte nicht hören, sehe an den Blicken, dass sie sich über den Jungen unterhalten.
Dann fällt mir auf, dass er nur aussteigen will. Er sagt nicht: „Mama, ich will bei dir bleiben!“ Mama, ich will nicht wegfahren!“
Nur aussteigen will er! Er will nicht dahin gebracht werden, wo der Zug ihn hinbringen soll. Er sagt der Mutter nicht, dass er sie vermissen würde; er will nur nicht weg! So viel Distanz zwischen dieser jungen Frau und dem Jungen!
Ich bin wie gelähmt; nicht einen Augenblick habe ich das Gefühl, hier weghören, wegsehen zu müssen.
„Es geht mich ja nichts an!“, kann ich nicht denken; ich bin auf eine unergründliche Weise erschüttert.
Der Junge steht noch immer da, sieht nur zur Bank; er wartet einen Augenblick, dann kommt die Ansage, dass der Zug gleich abfahren wird.
„Die Türen schließen sich automatisch“, sagt eine ruhige Frauenstimme.
Früher musste man sie selber schließen, ließ die Tür bis zum letzten Augenblick offen, winkte heraus, nahm jede Sekunde des Abschieds mit auf die Reise. Dann erst, wenn’s nicht mehr anders ging, warf man die Tür zu. Schnell noch in den Gang, das Fenster runterdrücken, weit rauslehnen, den Kopf in den aufkommenden Fahrwind strecken! Ist da ein winkendes, flatterndes Tuch? Abschiede schmerzen immer. Schluss! Vorbei! Wer weiß, ob...
Der Junge sieht noch immer zu seiner Mutter, die dem Kind ihrer Banknachbarin den Arm streichelt. Sie sieht nicht zum Zug!
„Mama! Bitte, lass mich aussteigen! Bitte, Mama!“
Er weint leise, ich sehe seinen Handrücken über die Wangen reiben. Die Tür schlägt wuchtig zu; der Junge steht wie angewurzelt. Dann bewegt sich der Zug, rollt langsam an, als wolle er Anlauf nehmen. Der Junge schweigt, steht starr und schaut geradeaus. Ich sehe die Frauen aufstehen, ihre Kleider ordnen; sie schauen dem Zug nicht nach. Der gleitet aus der überdachten Halle, schiebt sich schwankend über Weichen, veranlasst die Reisenden, sich einen Halt zu suchen. Der Junge steht mit starrem Gesicht, klammert sich noch immer an den Griffen fest.
Aus dem Nachbarwagen kommt eine füllige Schaffnerin heran, sieht flüchtig auf den Jungen, stutzt, fasst ihn an der Schulter. Der Junge bleibt steif stehen, antwortet mit abgewendetem Gesicht. Sie sprechen miteinander; der Junge hält dabei den Kopf gesenkt. Die Frau legt ihm den Arm um die Schultern, dreht ihn in den Gang und kommt mit ihm im Schlepptau auf mich zu.
Ich stelle mich, um Platz zu machen, in die Abteiltür. Die Frau hat ein breites, warmes Gesicht. Der Junge geht hinter ihr her, mit etwas Abstand. Ich sehe sein schmales Gesicht; er hat ein paar Sommersprossen, blasse Haut; sein Haar hat einen leicht rötlichen Stich. Er ist noch dürrer, als es vorhin den Anschein hatte.
Als er auf meiner Höhe ist, wischt er sich mit dem Ärmel die Nässe aus dem Gesicht. Er blickt nicht zur Seite.
Hätte ich ihn anfassen sollen, ihm den Arm auf die Schulter legen sollen? Hätte ich ihn fragen sollen, ob ich ihm helfen kann? Es geht nicht! Hier ist eine Grenze! Ich kann mich doch nicht einmischen! Wer weiß, welche Tragödie, welche Geschichte dahinter steckt!
Ich sitze im Abteil, schließe die Augen und überdenke das Gesehene. Die Phantasie der Menschen ist etwas wunderbares – und überraschendes zugleich. Ich habe Zeit und ich gebe dem Jungen seine Geschichten, die mir möglich erscheinen.




Abladen
Die spricht beim Frühstück nicht mit mir! - Schon seit gestern abend nicht mehr. Aber das legt sich wieder; die will ja was von mir.
Die ist ärgerlich, sogar richtig wütend. „Du nervst mich!“, hat se gesagt, ich wär undankbar, ich würde sie reinreißen und ich wär ein verlottertes Kind.
Ich weiß nicht, was die damit meint, aber es hat wohl damit zu tun, dass ich gestern abend mit Fred, Kai und Danny Abschied gefeiert hab. Fred hatte ne kleine Schnapsflasche dabei, die er seinem Alten geklaut hat. Da haben wir alle reihum draus getrunken – war ja nicht mal viel.. Fred hat dabei Tränen in den Augen gehabt – das war vielleicht komisch.
„Is wegen dem scharfen Zeugs!“, hat er gesagt; aber das glaub ich nicht; das glaubt dem keiner - das ist Quatsch. Der hat schon ganz andere Sachen probiert!
Mama hat´s sofort gerochen, als ich nach Hause kam. Mann, war die sauer! Die war schon zurück von ihrer Schwester. Sonst kommt die ja immer viel später; dann merkt se nichts, weil ich schon in der Kiste liege.
„Du denkst nur an dich!“, hat se geschrieen. „Die stecken dich ins Erziehungsheim, wenn du so weiter machst! Begreif das mal, Junge! Und lass die Scheißsauferei sein; da kommt nie was bei raus!“
Mama hat´s nicht leicht. Immer ist kein Geld da, dann gibt´s Streit mit den Nachbarn, weil wir draußen zuviel Krach gemacht haben, oder ne Scheibe kaputt gegangen ist. Wütend wird Mama aber nur, wenn wir was Schlimmeres machen, so wie letzte Woche, als wir brennendes Papier in den Postkasten geworfen haben. Ich war das eigentlich nicht, aber Fred, was mein bester Freund ist, der hat´s gemacht; wir anderen haben mitgemacht – das stimmt schon.
„Eh, hier wohnen fünfhundert Familie, in diesen Kästen, mit ein paar tausend Kindern! Glaubt ihr, die würden heraus kriegen wer das war?“, hat Fred getönt. Meist weiß der Bescheid – aber nicht immer.
Die haben uns nämlich doch gekriegt. Einer von diesen arbeitslosen Rumlungerern hat gesehen, wie wir Papierschnipsel und Benzin in den gelben Kasten geschüttet haben. Der hat gleich die Bullen gerufen, der Blödmann. Ich bin dann unter die Flurtreppe gekrochen, als die Polizei kam. Da unten, wo´s nach Pisse und Müll stinkt, da hab ich mich versteckt; aber die haben mich doch gefunden.
„Der sieht aus, als wenn er kein Wässerchen trüben könnte“, hat der Polizist zu Mama gesagt. „Aber der hat´s faustdick hinter den Ohren, glauben sie mir!“
Das sagen die Leute immer von mir. „Ach Gott, was sieht der harmlos aus!“, und mein Lehrer sagt oft: „Sieht aus wie ein Engel und ist ein richtiger Teufel!“ Aber der hat sowieso keine Ahnung, wie wir leben; der kommt immer aus Filderstadt mit nem dicken Schlitten angerauscht.
Na ja, dann hab ich Prügel gekriegt – wie immer, wenn ich Mist gebaut hab. Am nächsten Abend, als Mama in der Disco war - mit ihrer Schwester, der Diana -, da bin ich raus und hab dem Fred brennendes Papier in seinen eigenen Hausbriefkasten gesteckt – zur Strafe, weil er so einen Mist gemacht hat, für den ich bezahlen musste. Aber Fred ist trotzdem mein bester Freund!
Mama kommt ja immer erst morgens wieder, da merkt die nie, wenn ich unterwegs bin. Wenn ich dann in die Schule geh, – wenn ich geh – dann schläft sie noch. Manchmal hat sie jemanden dabei, der bei ihr pennt. Ich kenn die aber meistens nicht, die wechseln zu oft. Aber sonst ist das hier ganz in Ordnung. Ich hab viele Freunde – und von mir aus könnte´s hier immer so weitergehen. Sah ja auch so aus - bis vorige Tage; Mama war schon weg, als das Telefon klingelte.
„Hallo, Tom!“, quakte eine fremde Stimme. „Hier ist Horst; ich bin dein Papa! Ist deine Mama da?“
Ich hab noch nie mit dem gesprochen. Dass ich irgendwo einen Papa hab, na gut, das hat Mama mal gesagt, als sie kein Geld gekriegt hat.
„Dieses Schwein will nicht zahlen. Erst setzt er dich in die Welt und dann tut er so, als wenn er mit nichts was zu tun hätte. Der lernt mich noch kennen!“, hat die geschrieen. Als ich gefragt habe, wer denn ein Schwein sei, hat se gesagt: „Dein Papa, wer sonst!“
Also, ich wusste nicht so recht ob ich mit diesem Schwein reden sollte, drum hab ich einfach aufgelegt; aber der hat sofort noch mal angerufen und mich vollgelabert, dass er wirklich mein Vater sei, dass er mich endlich kennen lernen möchte, in Dortmund wohne, eine tolle Wohnung habe, – und ob ich nicht Lust hätte, ihn zu besuchen.
„Ne!“, hab ich dem gesagt „Hab ich nicht!“, und dann hab ich wieder aufgelegt.
Aber dann hat er einen Brief geschrieben an Mama, und die hat mit ihm telefoniert; ich war dabei.
„Du Ratte!“, hat Mama gesagt. „Nach zehn Jahren merkste, dass du nen Sohn hast? Ist dir ein Stein auf den Kopf gefallen, oder was?“
„Ich konnte den Mann, der mein Papa sein soll, ganz deutlich hören, weil er so geschrieen hat. „Flittchen, Hure“, und noch ganz andere Sachen hat er gebrüllt. Dann haben sie aber leiser gesprochen, und ich musste rausgehen.
Diese Erwachsenenscheiße wollte ich sowieso nicht hören; aber ich wär besser dageblieben. Die haben nämlich was ausgemacht, die beiden. Da hat mich Mama wohl verkauft – an diesen Kerl, den sie Schwein genannt hat.
Am nächsten Tag war der Mann nämlich wieder am Telefon, und das Gelaber ging wieder los..
„Ich wollte dich sprechen“, hat er gesagt, als ich ihm sagte, dass meine Mama nicht da wär.
Ich müsste da raus aus dem asozialen Saustall, sagte der. Ich würd´ ja total verkommen, bei so einer Mutter. Bei ihm hätte ich’s gut; Mama hätte eh keine Zeit für mich. Ob ich nicht erst mal während der Ferien zu ihm kommen wollte; danach könnte man ja weiter sehen.
Ich hab ihn angeschrieen, hab ihn blöde Sau geschimpft und so was. Aber der hat nur gelacht und gesagt: „Du gefällst mir.“ Da konnte ich nichts mehr sagen.

Und jetzt fahren wir tatsächlich zum Bahnhof! Ich kann´s nicht fassen! Mann, was hab ich alles versucht! Zum Schluss hab ich mich auf´s Betteln verlegt. Ich hab ganz fromm geguckt und mein Engelsgesicht gezeigt.
„Mama!“, hab ich gesagt, „Mama, ich will hier bleiben! Bitte, bitte Mama, lass mich hier bleiben!“
„Du fährst!“, hat sie nur gesagt. „Kannst ja mal sechs Wochen lang schnuppern, ob´s dir da gefällt. Wenn ja, bleibste, wenn nein, können wir drüber reden.“
„Ich hab schon verstanden, die hatten sich abgesprochen; aber ich bin richtig traurig. Scheiße! Ich wusste noch nie, was das ist, aber als ich mich von Fred und den anderen Kumpels verabschiedet habe, da waren die alle ganz still – ich auch. Ich glaub, da waren wir alle traurig.
„Die will dich loswerden, deine Alte“, hat der Fred gemeint, und das glaub ich auch. Ich will in unserer Hochhaussiedung bleiben, ich will abends mit Fred und den anderen rumtoben und Leute ärgern. Wer weiß, was mein neuer Alter da mit mir vorhat.
Der Zug kommt später, aber das wird wohl nicht helfen. Ina - Mamas Schwester - ist mitgekommen, die hat ihr ewig schreiendes Baby mitgebracht. Die ganze Zeit quatschen die von dieser neuen Disco, den Pillen und dem neuen DJ. Ich interessiere die überhaupt nicht; dabei möchte ich heulen. Aber ich will nicht heulen - jetzt nicht. Später vielleicht, wenn ich alleine bin.
Da kommt dieser blöde Zug! Mann, was für ein Gedränge! Mama geht mit mir und schiebt mich rein; die will bloß sicher sein, dass ich nicht abhaue. Ich muss gleich heulen. Mann, ich bin doch noch nie aus Stuttgart weg gewesen! Jetzt soll ich ganz alleine wegfahren – und dann noch zu diesem angeblichen Papa. Mama hat sich schon wieder zu ihrer Schwester auf die Bank gesetzt. Ich muss das noch einmal versuchen.
„Mama, bitte, bitte! Darf ich hier bleiben? Bitte, Mama!“
Sie tut so, als wenn sie mich nicht hört. Ich glaub, ich mach gleich in die Hose vor Angst. Mensch Mama, hilf mir doch! - Sie kommt! - Ob sie mich raus holt, aus diesem blöden Zug?
„Bleib drin!“, sagt die nur zu mir und sieht mich so richtig böse an. So stiert die immer, wenn ich in der Schule Scheiße gebaut hab.
„Komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen!“, sagt die drohend und hat Wut in der Stimme.
„Mama, bitte!“, sage ich zu ihr, aber ich weiß, dass es nichts nützt. Wenn die so guckt, hab ich nie ne Chance bei ihr.
„Mach keinen Zirkus!“, ruft sie, jetzt noch böser. Damals, als die Sache mit dem Postbriefkasten war, da hat sie auch so kalt und gehässig gesprochen: „Tom, du machst mir ständig irgendeinen Zirkus! Ich steck dich ins Erziehungsheim“
„Der Papa holt dich in Dortmund ab. Freu dich auf ihn!“, sagt se jetzt - um mich umzustimmen. Aber das kann se nicht - ich will mich nicht freuen.
Dann knallt die Tür zu und wir fahren ab. Jetzt kann ich heulen! Ich heule wegen meiner Freunde, wegen Fred hauptsächlich, wegen den Mädchen, die wir in den Ferien ärgern wollten, wegen unserer Wohnung – wegen Mama auch.
Die Frauen sind weg! Ich kann sie nicht mehr sehen; was mach ich jetzt? Gibt´s hier Plätze für Kinder? Hoffentlich sind noch andere Kinder im Zug; ich glaub, ich bleib einfach hier stehen. Ob man das darf? Wie lange wird das wohl dauern, bis wir da sind? Ob ich einfach am nächsten Bahnhof aussteige und verschwinde? Ob die mich suchen würden? Mama bestimmt nicht! Und dieser Papa - der bestimmt auch nicht. Wenn bloß Fred da wär!
Da kommt ne dicke Frau in Uniform. Ich will nicht hingucken, sonst sieht die mich heulen. Scheiße, die hat´s längst geschnallt!
„Nein, ich hab nichts, hab nur was ins Auge gekriegt“, sag ich der, und denk: „Hau ab, Alte!“
Aber die hört nicht auf, belabert mich, von wegen kein Problem, sie passe auf mich auf und besorge mir einen Platz in ihrem Abteil. Da könne ich auch Kakao haben.
Die spinnt, die Alte. Jetzt fasst die mich auch noch an! Ich muss wohl mitgehen. das fängt ja gut an; das kann nur noch schlimmer werden. Ich muss die Tränen weg kriegen; keiner soll die sehen. Mann, da glotzt mich so´n Opa an! Was will der von mir? Guck weg, Opa! Wenn bloß Fred da wär!



Abnabeln
„Sie müssen das tun; es gibt keine andere Möglichkeit, Frau John! Ich verstehe ja, dass das schwer für Sie ist, aber es wird später immer schwerer werden. Das Kind muss sich zum zweiten Mal von Ihnen abnabeln. Ich helfe Ihnen dabei, aber diesen Schritt müssen sie jetzt alleine tun; es ist auch für sie wichtig!“
„Wenn ich Ingo sage, dass er für die gesamte Ferienzeit, für sechs Wochen, zu seinem Vater nach Dortmund soll, dann dreht er durch! Sie wissen doch, wie er ist!“
„Aber hier hilft jetzt nur konsequentes Handeln! Er muss begreifen, dass er Ihr Leben nicht bestimmen, nicht dominieren kann – bei aller Liebe für den Jungen!“
Günther, ihr Ex, war zwar nicht besonders erbaut gewesen, als sie ihn vor einer Woche angerufen und ihm die frohe Botschaft mitgeteilt hatte, aber er hatte zugestimmt. Er könne drei Wochen Urlaub machen; in der restlichen Zeit stünde Siggi zur Verfügung – hatte Günther gesagt.
„Siggi, diese blöde Zicke, mit den langen blonden Haaren, die mag Ingo nicht“, dachte Anna. „Das wird ein Drama. Aber meine Therapeutin hat wohl recht. Von Ödipuskomplex hat sie geschwafelt und so´n Zeugs. Ich kann ja selber nicht mehr. Tagtäglich hängt er mir am Rock. „Mama hier, Mama da!“, geht das vom Morgen bis zum Abend“, sagte sie zu Ina, ihrer Freundin, als sie am Abend beim Pizzabäcker saßen.
„Du musst ihn wegschicken, du gehst sonst vor die Hunde“, sagte Ina.
„Du mit deinem Baby hast weniger Probleme, als ich mit diesem halb Erwachsenen Sohn. Ich kann doch keinen Babysitter mehr bestellen, wenn ich am Abend mal ausgehen will. Die lachen mich doch aus!“
„Ne! Da musste sogar schon bald aufpassen, dass die kein dummes Zeug zusammen machen!“, lachte Ina.
„Im Ernst! Es geht mir nicht darum, dass ich ausgehen will! Klar, wär das mal wieder schön, aber wir gehen wirklich beide kaputt an dem, was da läuft. Seitdem Günther weg ist - der Dreh- und Angelpunkt in Ingos Leben - hält er mich fest, als wollte ich auch weglaufen.“
„Dann müsste er doch gerne zu deinem Ex fahren!“
„Nein! Er hasst ihn, seitdem der abgehauen ist; er verzeiht ihm das nicht, gibt sich auch selber die Schuld.“
Anna war ratlos; sie hatte ihr Leben mit Mühe wieder in den Griff bekommen nachdem Günther mit einem Seitensprung auf dem Seminar – mit diesem Flittchen Siggi – ihre Ehe kaputt gemacht hatte. Sie hatte eine gut bezahlte Halbtagsstelle, der Rest des Geldes kam von ihrem Ex-Mann, der sich da recht anständig verhielt, wie sie zugab.
Mittags, wenn Ingo aus der Schule kam, war sie schon da, kochte für ihn und überwachte die Schularbeiten, machte den Haushalt. Sie hatte wenig Zeit für sich selber. Aber das wär alles nicht so schlimm, wenn Ingo nicht wie eine Klette an ihr hängen würde; er ließ sie nicht eine Minute aus den Augen. Wenn sie im Haus war, lief er ihr nach, wenn sie in die Küche ging, folgte er ihr ins Schlafzimmer und nur mit Mühe gelang es ihr, ihn aus dem Klo raus zu halten.
Nachts schlief er im Bett ihres Ex neben ihr. Das war sie selber schuld, das wusste sie. In den ersten Wochen nachdem ihr Mann weg war, hatte sie Trost und Wärme gebraucht. Da war Ingo abends in ihr Bett gekrochen; in der Nacht hatte sie ihn dann rüber geschoben. Dabei war´s geblieben; er ließ sich nicht in sein eigenes Bett verfrachten; in seinem Zimmer machte er nur Schularbeiten – mit ihr zusammen. Wenn sie sich mal für eine Stunde mit ihrer Freundin treffen wollte, brauchte es lange Reden und blöde Versprechungen.
Irgendwann hatte sie die Nerven verloren, hatte ihn angeschrieen, ihn sogar verprügelt; er war wie ein Hund hinter ihr hergelaufen und hatte sie angebettelt, wollte gestreichelt werden.
In der ersten Zeit war er mehrfach aus der Schule ausgebüxt, hatte sie auf der Arbeit besucht; alles nur, um zu sehen, ob sie noch da war.
Ihre Nerven hielten das nicht mehr aus; sie war am Ende, als sich das nach einem Jahr noch verschlimmerte. Er kam ihr nachgeschlichen, wenn sie sich mit Ina traf, er hockte sich vor die Klotür, bis sie wieder raus kam; er weigerte sich, in die Schule zu gehen. Sie hatte ihn geschlagen, sich geschämt, hat sich entschuldigt; es war immer das selbe Spiel: Er reizte sie bis zur Weißglut, sie schrie, schlug, fühlte sich schuldig, verzieh ihm unter Tränen – und alles ging von vorne los.
Sie bekam wilde Albträume, schlief schlecht und ließ sich total gehen. Immer häufiger wurde sie krank geschrieben. Eines Tages hatte sie der Betriebsarzt dann zur Therapeutin geschickt.
„Sie haben ein ernstes Problem, liebe Frau John! So geht das nicht mehr weiter. Ich kann sie nicht mehr behandeln; ich muss sie zu einer Fachkollegin schicken. Sie sind organisch völlig gesund; in ihrer Psyche scheint etwas nicht zu stimmen. Sie sind geschieden, nicht wahr? Ist es das? Oder haben sie noch andere Sorgen?“, hatte er mit Blick über die Hornbrille hinweg gesagt. „Wir müssen etwas unternehmen!“ Sie wusste es selber, aber sie hatte nie den Mut dazu gehabt.

„Ich geh nicht! Bitte, Mama! Was soll ich denn bei der fremden Frau? Die ist doof und gemein! Ich will hier bei dir bleiben!“
„Du gehst! Das ist verabredet und es bleibt dabei! Morgen früh fährst du mit dem IC nach Dortmund. Papa holt dich am Zug ab. Er hat ein tolles Ferienprogramm ausgearbeitet. Ihr fahrt nach Dülmen, zu den Wildpferden, ihr werdet eine Bootstour auf dem Dortmund-Ems-Kanal machen, ihr geht in den Zoo, ins Schwimmbad und was weiß ich noch alles. Du wirst Spaß haben und gar nicht zurück wollen!“
Das hätte sie besser nicht gesagt. „Ich will immer zurück! Ihr wollt mich nur für immer abschieben nach Dortmund, zu dieser Blöden!“
Sie blieb stur und Ingo ging weinend ins Bett. Mitten in der Nacht stand er auf, ging ins Klo und schloss sich ein.
Sie wurde von der Wasserspülung wach, die immer wieder ansprang. Schlaftrunken taumelte sie zum Klo und rüttelte an der Tür.
„Ich bleib hier drin, bis du sagst, dass ich hier bleiben darf.“
„Du kommst sofort raus, sonst schlag ich die Tür ein!“, verkündete sie und wusste, dass sie das nie tun würde.
Sie drohte mit der Polizei und mit der Feuerwehr. Er sagte immer den gleichen Satz. Erst gegen Morgen gab Ingo auf; sie war fix und fertig, als sich der Schlüssel herumdrehte. Sie saß weinend auf dem Boden, nahm ihn wortlos in den Arm. Um ein Haar hätte sie alles zerstört; sie war einfach zu weich.
Er saß am Frühstückstisch, während sie seinen Koffer packte, den sie an der Bahn aufgeben wollte. Den Rest – zusammen mit einem Foto, auf dem sie beide in die Kamera lachten, legte sie in den kleinen Rucksack, den er immer bei Schulausflügen mitnahm.
Er aß nichts, starrte sein Frühstücksbrötchen böse an, und sprach kein Wort mit ihr. Sie bestellte ein Taxi und brachte den Koffer vors Haus.
„Gott sei Dank! Was für eine Nacht! Ich glaube, jetzt ist es geschafft; er hat aufgegeben“, sagte sie zu Ina am Telefon, kurz bevor das Taxi kam.
„Komm Ingo; es wird Zeit!“
Er trödelte und musste in der letzten Sekunde noch einmal aufs Klo. Sie atmete auf, als er endlich im Taxi saß.
„Wir fahren erst Ina abholen“, sagte sie zu Ingo.
Ina brauchte sie heute zur Verstärkung. Sie wusste nicht, ob sie das durchhalten würde, was ihr die Therapeutin als Verhaltensmaßregeln mitgegeben hatte.
„Gehen sie völlig ohne Emotion an die Sache. Es ist kein Abschied auf immer! Bleiben sie möglichst von ihm weg. Gehen sie nicht mit Tränen und Taschentüchern an die Sache ran. Abstand halten! – Lassen sie sich nicht weich machen! Er wird sie anbetteln und anflehen; geben sie nicht nach! Seien sie kalt!“
Die hat leicht reden, dachte sie. Jedenfalls würde Ina dabei eine Stütze sein.
Sie gaben den Koffer ab und lenkten den schweigenden, blass aussehenden Ingo zum Bahnsteig.
„Mist! Eibe halbe Stunde Verspätung!“, rief Ina, als sie oben ankamen.
Das Warten wurde lang. Sie hockten auf der eisernen, unbequemen Bank; Ingo starrte auf den Boden.
„Es scheint besser zu gehen, als ich dachte!“, glaubte Anna, aber dann hob Ingo plötzlich den Kopf.
„Mama, ich fahr nicht! ich will hier bleiben! Ich will nicht nach Dortmund!“
„Du fährst! Und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören!“
Als der Zug angekündigt wurde, schob sie Ingo von der Bank hoch, bugsierte ihn zum Gleis. Als der Zug endlich stand, drängten sich die Leute wie wild, schoben und knufften sich. Sie hielt Ingo zurück; sie warteten, bis alle verschwunden waren, dann schob sie ihn mit sanftem Druck die Stufen hoch.
„Pass auf dich auf! Viel Spaß und schreib mal eine Karte!“, sagte sie leise, mit einem Klos im Hals.
Ingo stieg widerstrebend ein, blieb sofort wieder stehen und sah sie flehentlich an.
„Ich will hier bleiben, Mama! Ich will nicht weg, bitte!“
Sie drehte sich um und ging steifbeinig zur Bank. Ina hatte Mühe mit ihrem Baby, das die Hitze nicht vertrug, es jammerte und weinte.
„Komm! Gleich ist´s vorbei!“, tröstete Ina sie. „Heute Abend gehen wir fein aus. Ich hab schon einen Babysitter bestellt. ´Freu dich!“
Der Zug wollte und wollte nicht abfahren. Ingo stand in der Tür, sah mit bettelndem Blick zu ihnen hin. Immer wieder hörten sie ihn rufen, hörten sein „Bitte, Mama!“
„Bleib eisern! Du darfst jetzt nicht nachgeben!“, sagte Ina und hielt sie am Arm fest.
Aber einmal musste sie noch hin. Sie musste ihn noch einmal aus der Nähe sehen. Sein kleines, blasses Gesicht starrte ihr entgegen; er tat ihr so leid.
„Bleib drin; komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen!“, sagte sie in einem Ton, der ihr fremd vorkam.
„Mama, bitte!“, rief Ingo; sie hätte ihn gerne angefasst. Statt dessen sah sie ihn streng an.
„Mach keinen Zirkus! Papa holt dich in Dortmund ab; freu dich auf ihn!“, sagte sie statt dessen.
Ihr Blick schweifte über die Scheiben des Wagens und sah das neugierige, forsche Gesicht eins Mannes auf sich gerichtet. „Blödmann! Was guckst du so? Du hast ja keine Ahnung!“, dachte sie und ging zur Bank zurück.
„Nicht einfach, was?“, sagte Ina mit leiser Stimme.
„Hör auf! Hoffentlich fährt dieser elende Zug bald ab!“
Dann war es soweit; die Türen schlossen sich, der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof. Sie sah nur aus den Augenwinkeln, dass Ingo das Gesicht an die Scheibe gepresst hatte.
„Nicht winken! Kein Taschentuch und keine Tränen!““, hatte die Therapeutin gesagt.
Sie hielt sich daran und weinte erst, als sie im Taxi saßen.
 

Star

Mitglied
Meine Meinung

zur ersten Geschichte: hat mir sehr gut gefallen, präzise Beobachtung, man glaubt wirklich dabei zu sein. Besonders hübsch: die Bahnfahrernostalgie (früher, da war alles besser...)
Was mir (noch) nicht so gut gefallen hat: die Konfliktsituation. Warum die Mutter nicht reagiert, was der Junge empfindet, das muss besser herauskommen. Besonders der innere Konflikt des Sprechers, ob er sich einmischen darf oder nicht. Das ist die zentrale Frage, aber sie wird nicht genau genug erörtert.
Aber nochmal: wunderschön erzählte Geschichte, genau beobachtet!
 

Breimann

Mitglied
Konflikte

dieser Art, lieber Star, sind schwer aufzuarbeiten. Die erste Geschichte, in der ja alles verdeckt und unklar sein muss, weil der Neobachter nichts wissen kann, ist das Portal für zwei Deutungen.
Was die Motive der Mutter sein können, das beleuchtet die eine, welche Empfindungen in so einem Kind denkbar sind, die andere Geschichte.
Ich kann, und das ist kein Scherz, noch die eine oder andere weitere Ausgangslage erfinden. Es ist nur ein Versuch gewesen, aus einer realen Beobachtung, denkbare Hintergründe abzuleiten.
Ich bedanke mich für das Kompliment, weil mir die genaue Schilderung in allen meinen Geschichten wichtig erscheint.
Liebe Grüße
Eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

wieder eine anrührende geschichte von dir. sehr gut beschrieben. nur der teil mit der therapeutin ist meiner meinung nach nicht so deutlich wie der rest der geschichte. noch ne frage - schreibt man kloß jetzt nur noch mit einem s? diese blöde reform macht mich noch wahnsinnig! ganz lieb grüßt
 

Breimann

Mitglied
Bloß

gut, dass es so aufmerksame Leser gibt, liebe flammarion. Natürlich bleibt es bei "bloß", hier gibt´s keine Änderung. Nur der unaufmerksame eduard hat trotz mehrfacher Kontrolle wieder mal ein Wörtchen drin gehabt, das durchs "Ich-werde-den-Schreiberling-ärgern-Loch geflutscht ist. Grauselig!
Zur Kritik: danke, flammarion. Weißt du, die erste der drei Geschichten habe ich so erlebt, habe wirklich sofort gedacht: das ist eine Geschichte! Es wurden dann drei, die man zusammen sehen - und lesen muss.
Es hätte, so war mein Eindruck, den Rahmen, das Ziel für diese Geschichte gesprengt, wenn ich das Erleben, das therapieren bei der Therapeutin ausführlicher beschrieben hätte. Es wär sicher auch eine Geschichte, aber es ging mir im Kern um grundsätzlich mögliche Motive für das was ich in Geschichte 1 erzählt habe. Aber es reizt mich jetzt natürlich, diese Geschichte auch hier einmal stärker zu beleuchten; danke für den Tipp.
Liebe Grüße

eduard
 



 
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