Rapabel

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arbir

Mitglied
Einst lebte ein außerordentlich gelehrter Mann, der die Welt verstehen wollte. Darum studierte tagaus und tagein, las Berge von Büchern bis spät in die Nacht und verkehrte nur mit den studiertesten der Gebildeten und gebildetsten der Studierten.
Schließlich besaß er ein enormes Wissen und vertrat seine Meinung, die landauf und landab sehr viel galt, mit fester Stimme.
Die anderen Gelehrten nannten ihn nach seinem langen Studium sogar den gebildetsten der ihren und sagten, er würde die Welt nun verstehen. Stolz vernahm er das gerechtfertigte Lob und vertrat seine Meinung nun mit noch festerer, noch entschlossenerer Stimme. Aus jedem Streit und jedem Disput ging er als Sieger hervor.

Eines Tages traf der Gelehrte einen Narren, der überall und bei allen für seine dummen Fragen, seine zweifellos verrückte Meinung und seinen Umgang mit Spinnern und Irren bekannt war.
Der Narr freute sich, einen so außerordentlich gelehrten Mann zu treffen und wollte ihm von seiner Meinung über die Welt, von seiner Sicht der Dinge erzählen. Der Gelehrte hörte ihm geduldig zu und sagte dann, die offensichtliche Torheit des Narren erkennend: "Was du sagst, ist falsch. Es stimmt nicht und ist verrückt!"

Dann ging der Narr stolz davon.
 
Eine Qualität dieser Kurzgeschichte: es macht Spass, sie zu lesen (das hat nichts mit der Kürze zu tun. Drei schlecht geschriebene Sätze können eine Tortur sein)

Weil wir aber offenbar am selben Thema interessiert sind, möchte ich statt mit einer guten Kritik, mit einer eigenen kleinen Geschichte antworten:

Das Genie

Die Haut des Denkers war zwischen den Rippen eingefallen, die Hände knöchrig, das Kinn eine scharfe Linie; denn, so hatte der Denker über die Jahre bemerkt, mit leerem Magen liess sich am besten denken. Und ein Denker, ein guter Denker, dachte ununterbrochen. Wann immer er ass, tat er es gedankenlos und ungesund und natürlich zu kurz, denn mit dem ersten Gedanken, der sich kauend bildete, hielten die Hände mit dem beladenen Besteck inne und wurde das Essen trocken. Oft, bevor er sich schlafen legte, bevor er die Kerze auf seinem Nachttisch ausblies, strich er sich mit der Knochenhand über den Schädel. Es verblüffte ihn, wie rasch sich die ganze Ausdehnung des eigenen Kopfes abtasten liess. Angesichts der überschau- oder überfühlbaren Grösse dieses eigenen Kopfes einerseits und aber der unabschätzbaren Tragweite der erdachten Gedanken andererseits, schwanden alle Zweifel: Er war ein Genie.
 

arbir

Mitglied
Freut mich, dass es Spaß macht meine Geschichte zu lesen. So soll es auch sein.
Ebenso freut es mich, dass sich Leser mit Thema und Grundgedanken meines Textes auseinandersetzten.
Danke für deine kleine Geschichte als Antwort. Obwohl ich das Gefühl habe, dass deine Geschichte in eine etwas andere Richtung als die meine zielt. (Zumindest interpretiere ich sie so.)

Nochmal vielen Dank für das Lob.
 
A

Agnes Keppler

Gast
Die Welt ist voller Narren, wenigen Genien. Ein wahrer Narr, der einem Genie etwas von seiner Vorstellung der Welt vermitteln will. Dieser hier tut es, ist stolz auf sein Verrücktsein. Das Ding ist schön geschrieben, hat Aussage.
Aber der letzte Satz ist der Hammer!!! Klasse!
 

arbir

Mitglied
Ich muss sagen, so viel Lob schmeichelt mir. Danke!

Was mich aber wirklich freut, ist, dass hier jeder seine eigene Interpretation für den Text findet. Zumindest habe ich durch die Antworten dieses Gefühl bekommen.
Deshalb würde es mich sehr interessieren, was man als Leser meint, was ich eigentlich "aussagen" wollte!
 
A

Agnes Keppler

Gast
Gemeinsamer Punkt zweier Sachverhalte = Parabel, oder wie Du so schön schreibst "Rapabel." (Verquer?)
Jeder hat seine eigene Weltanschauung.
Wie überhaupt kann jemand ermessen was falsch ist oder richtig?
Sicher, es gibt Fakten, beinahe alles kann bis ins kleinste Detail belegt oder widerlegt werden. Nur - der Narr erzählt von SEINER Welt - von der, die für ihn zählt. Seine ureigene Interprätation des Seins. Selbst der gelehrteste aller Menschen kann ihm da nicht ´reinreden. Er steht zu seinem point de vue.
Ist das nicht schön?
(So sehe ich das. Solltest Du etwas anderes gemeint haben -, schreib es mir nicht.) Ich würde sie trotzdem weiterhin so sehen wollen Deine kleine Geschichte. Ein bißchen narrenmäßig, oder?
Grüße Agnes
 
A

Agnes Keppler

Gast
Ich hoffe nicht, dass meine Antwort nun zwei mal Deine Rubrik erreicht hat, aber beim ersten Mal hat es nicht geklappt, glaube ich.
Also, nochmal, Du fragst was der Leser sieht in Deiner Geschichte:
(Erst Gegenfrage: Rapabel = Parabel verquer?)

Jeder hat seine eigene Weltanschauung. Wie überhaupt kann jemand ermessen, was falsch oder richtig ist!?
Gewiß, es gibt Fakten, die belegt werden können. Bis ins kleinste Detail. Behauptungen, die auf präziseste Weise widerlegt werden können.
Nur -,der Narr hat von seiner Welt erzählt, von der, die für ihn zählt. Seine ureigene Interprätation des Seins. Selbst der gelehrteste aller Menschen kann ihm da nicht ´reinreden.
das hat er sich erhalten, sich erlaubt einem Studierten sein point de vue des Lebens zu erklären.
Er jedenfalls wird nie ein Erbsenzähler, er ist ein Narr, ein Tagträumer, der stolz auf seine Ansichten von dannen geht. Er hat recht. Das ist seine Ansicht vom Leben.
Ist das nicht schön?
Vielleicht hast Du was ganz anderes sagen wollen. Aber ich hab es so verstanden und ich will es so sehen!
Gruß Agnes
 
A

Agnes Keppler

Gast
Jeder hat seine eigene Weltanschauung.
Wie überhaupt kann jemand ermessen, was falsch oder richtig ist?
Gewiss,es gibt Fakten, alles kann belegt werden bis ins kleinste Detail. Nur -, der Narr hat von seiner Welt erzählt, von der, die für ihn zählt und so richtig ist. Seine ureigene Interpretation des Seins. Selbst der gelehrteste Mensch der Welt kann ihm da nicht reinreden.
Und das ist schön!!!
 

arbir

Mitglied
Danke für die Antwort!
Ich will hier keinesfalls meine eigenen Geschichten interpretieren, also keine Angst, dass ich dir schreibe, was ich eigentlich sagen wollte. Ist es nicht eigentlich so, dass was du dir beim Lesen des Textes denkst als Interpretation genauso "richtig" sein kann, wie das was ich beim Niederschreiben sagen wollte? Ich denke, dieses Paradoxon ist durchaus haltbar.
 
A

Agnes Keppler

Gast
Jeder hat seine eigene Weltanschauung.
Wer eigentlich kann ermessen, was falsch oder richtig ist?
Hier der Studierte, der sein Wissen aus Büchern hat. Dort der Narr, der aus dem Bauch lebt.
Gewiß, es gibt Fakten, die bis ins winzigste Detail bewiesen werden können. Beinahe alles, was nicht in die Schublade paßt, die für unser Leben vorgesehen ist, kann widerlegt werden.
Der Narr hier aber hat seine ureigene Interpretation des Seins. Selbst der gelehrteste Mensch kann ihm da nicht ´reinreden. Er macht sich stolz auf seinen Weg, obwohl er weiß, dass das, was er erzählt hat, für den anderen nicht akzeptabel ist. Dieser Narr jedenfalls wird niemals zu einer Krämerseele, da er niemals zweifelt, weil er an sich glaubt. Und das finde ich schön.
 



 
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