Rat schlagen

Sarahmo

Mitglied
Urlaubstipps. Immer wieder dieselben, obwohl die Entscheidung schon längst getroffen ist. Nämlich all-inclusive Urlaub in Ägypten, Touri-Ort.

Wollt ihr nicht nach...? Gibt so viele schöne Orte. Kann man denn da was anschauen?
Aha....

Meine Freude auf den Urlaub, Entspannen, Nichts tun, mal kein Sightseeingdruck nur Strand, Sonne, Meer, Cocktail in der Hand, Thomas neben mir, wird schal. Wie ein Glas mit abgestandenem Wasser. Vielleicht sogar Bakterien drin. Ungenießbar.

Diese all-inclusive Touristen. Am schlimmsten diese furchtbar fetten Briten, die sich die Teller mit 0/8/15 Kantinen-Buffet vollladen und nicht genug bekommen. Und Hauptsache es ist Alkohol da. Anschauen will man nichts. Fett, desinteressiert und keine Einstellung zu nichts. Am Pool liegen, fressen, saufen. Hier kennt uns keiner. Danke Leben.

Das bin nun ich. Und Thomas. Der ist das deutsche Klischee eines Briten mit Bierbauch. Stört ihn nicht. Ich beneide ihn und versuche, einen gebildeten, interessierten, ernährungsbewussten und nüchternen Eindruck zu machen, für ihn gleich mit. Es gelingt mir nicht. Verachtung!
Wie gut, dass uns keiner kennt.

Sie prahlt. Wo sie war.

Die Landschaft. Das Essen. Die Atmosphäre. Und dort soll es ja auch so toll sein. Der FILM... Das Konzert. Diese Spieler. Virtuos die Geige... Das Seminar über Diskriminierung. Die politisch korrekte Sprache bei den Grünen, so wohltuend! Die Demonstration gegen die vielen Autos. Da muss man hin! Kommst du mit? Ich hab dir übrigens eine Campact-Mail weitergeleitet. Hast du unterschrieben?
Und diese Ausstellung mit den Bildern von den Kindern. Schrecklich! Die einen haben nichts, die andern alles. Die Opernvorstellung letztens. Und du?

Ich sehne mich nach etwas. Das Herz am rechten Rand betäubt. Höre einen leisen Vorwurf und überlege krampfhaft. Denke an den gemütlichen Abend gestern mit Freundin und Wein. Zu alltäglich. Und nur Wein Kultur. Drei Euro. Aldi.

Machst du denn nicht? Willst du nicht mal...? Und du und Thomas?

Ganz harmlos soll es klingen. Ein Appell. Vorwurf. Sorge! Wie eine bleischwere Umarmung von hinten, genau unter der Brust. Die einem die Luft zum atmen nimmt. Ich weiß die richtige Antwort nicht und vergrabe die Enttäuschung über das Versagen - ist es ihre oder meine? - ohne lange hinzuschauen. Sage etwas über einen Spatz am Fenster und danke ihm und Corona. Grad geht ja eh nichts!

Ununterbrochener eigener Anspruch an sich selbst und die eigenen Pläne. Die Überlegung einen Waschbeckenunterschrank zu kaufen, wird zu einer unlösbaren Aufgabe. Der Schrank hat ganz spezielle Erwartungen zu erfüllen. Was es auf dem Markt gibt ist auf ganzer Linie enttäuschend. Unverständlich, dass die Unterschränke nicht selbst merken, wie ungenügend sie sind.
Der Weg zum Möbelhaus und das ganze Kaufvorhaben wird so verkompliziert, dass ich Herzrasen bekomme. Ich weiß jetzt schon, dass sie ihn nicht kaufen wird. Das ist auch nicht verwunderlich. Ihr Plan ist schlimmer, als eine acht-stündige Reise, bei der man neun mal umsteigen muss. Kindheitserinnerungen! Schon der Gedanke an jedes Vorhaben eine absolute Katastrophe. Ich machte es anders! Aus Prinzip und auch weil ich es sinnvoll fand.

So geht es zwar schneller aber so sieht es am Ende eben dann auch aus!

Wut überall...
In ihrer Anwesenheit Bauchschmerzen. Ich beiße Zähne kopfschmerzfest zusammen. Alles verknüpft in jedem "Willst du nicht..." so viel wuttobende Erinnerung.
Ich weiß, dass sie nicht anders kann. Unermüdliche Erwartungen an sich und mich, nicht ausgesprochen, nicht Ursachen erforscht, verborgen im Nebel unter Bewusstsein zermürben mich. Haltungen im Leben, die einst Sinn machten. Regeln um nicht (un)glücklich zu werden. Es sind ihre Regeln, geflochten in einen uralten schmerzhaften Zopf, damit nichts sich auflöst. Lose Strähnen nicht enttäuscht werden.
Und in meinem Kopf eine Frage, die mit "Willst du nicht..." beginnt und so klingen soll, als könnte jede Strähne die Antwort selbst bestimmen. Sie ist ein Schlag, Vor- oder Ratschlag ganz egal. Wenn ich nein sage, bin ich selbst schuld, wenn es hinterher scheiße ist. Hat sie doch gewusst. Sie schlägt den Rat inzwischen oft in Stille, weil man mir ja nichts mitgeben kann. Weil ich immer so überempfindlich bin. Sie meint es doch nur gut und gar nicht so wie ich es auffasse. Sie traut sich überhaupt nichts mehr zu sagen, weil ja immer alles falsch ist.

Das macht nichts. Das Unter- und Bewusstsein vergisst nichts, ahnt den Schlag voraus.

Sie hinterfragt nicht. Stellt nicht die Frage woher der Schaden kommt, der das Sprechen lähmt und Kampf wittert. Hat die Antwort schon parat. Deine Schuld! Das ist leichter und vertreibt die Angst. Die Angst vor Selbst in sich. Angst vor unbegreiflichem Nebel.

Ich lerne die Mutterzopfflechtkunst. Sie ist schuld. Soll etwas ändern. Aufhören mit ihren Vor- und Ratschlägen, die wie harmlose Fragen klingen sollen.

Ich hab doch nur gefragt, mensch!

Mit ihrem Anspruch an sich und die Welt. Mit ihren Erwartungen ans Leben und die Menschen. Wie man sich zu benehmen hat, um nicht rücksichtslos zu sein. Wie man sich verhalten soll, um ein guter Mensch zu sein. Mit ihrem stillen andauernden Vorwurf, den es gibt, seit ich alt genug bin, um zu denken. Ich flechte dir dein Glück und zeige dir den Weg. Willst du nicht...? Enttäuschung grenzenlos.

Mein Kopfschmerz schreit, schuld ist sie! Ich hinterfrage meinen Anteil nicht. Schaden, Lähmung, Kampf...
Weiß nicht mal wie die Hinterfrage lauten soll. Kenne nur den einen Weg und Flechttechnik genau wie sie.

Gehe den Weg und übe flechten. Bieg nicht ab! Durch meine Verantwortungslosigkeit und mein Unwissen würde ich direkt auf unsichtbaren Nebel stoßen. Mich darin verirren, trotz Sicht. Selbst Schuld. Ihre Bewertung in meinem Kopf. Wie eine Übertreibung der zweifelnden Mutterfigur, noch härter, kritischer ist die Stimme, verinnerlicht in mir. Klang sie niemals warm? Wer bin Ich? Leere Antwort. Was ist richtig? Wie den nebellosen Weg finden wo der Nebel doch nicht sichtbar ist? Ich gehe weiter, hart und unnahbar, keine einzige lose Strähne. Was, wenn ich abbiege, mich verlaufe und nie wieder den rechten Weg finde. Für immer verloren, für immer in Angst. Bewiesen, dass ich es allein nicht schaffen kann?! Biege ich nicht sowieso nur ab, um nicht auf Ihrem Weg zu gehen? Der ganze uralte Zopf umsonst. Ich sollte dankbar sein.

Ich bleibe stehen. So wie sie es macht mit ihrem Waschbeckenunterschrank. Einfach nicht kaufen, weil der Gedanke daran schon anstrengend ist. Ich gehe keinen Schritt weiter. Kann dabei kaum atmen. Verharre erstarrt. Und bin genau wie sie!

Der Ursprung der Angst. Vor der eigenen Stimme. Die einem ein falsches Ich verkaufen könnte, weil sie anders ist. Als die Mutterstimme. Die einst anders war, als die Mutterstimme. Fest geflochten, brennend, wie eine Umklammerung, die mir die Luft zum atmen nimmt. Mich Rat schlagend in eine einzige Richtung zwingt.

Willst du hier stehenbleiben...?!
 
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