Re-Genesis

Vitelli

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Rückblickend waren die Zeichen unverkennbar – ich hab sie bloß nicht erkannt. Es fing damit an, dass mein PC meinen Fingerabdruck nicht erkannte und bei meinem iPhone die Gesichtserkennung nicht mehr funktionierte. Und als ich dann am nächsten Morgen buchstäblich neben mir stand, besser gesagt ich mir beim Frühstück gegenübersaß, fiel der Groschen. Ich hatte mich mittlerweile so weit von mir entfernt, dass mein Äußeres und Inneres nicht mehr kongruent waren. Also saß ich da und beobachte mich beim Frühstück. Nur dass der Typ, den ich aus dem Spiegel zu kennen glaubte, mir völlig fremd war.

Einmal die Situation als gegeben akzeptiert, folgte ich mir zur Arbeit; und wie ich da so allein im Büro saß, musste ich an William Faulkner denken, den sie einst in Hollywood in eine 9-to-5- Legehennenbatterie für Schreiberlinge steckten und der dann eines Tages einfach aufstand und ging.
In den Pausen sah ich mir dabei zu, wie ich über die dummen Witze meiner Kollegen lachte. Wieder zuhause aß ich, rief meine Mutter an und erzählte ihr die geschönte Version meines Tages, so wie sie Mütter eben gerne hören. Nach der Tagesschau schaute ich die meistgesehene Serie auf Netflix, um wenigsten das entfernte Gefühl zu haben, einer Gruppe zugehörig zu sein. Um 21 Uhr nahm ich dann meine abendliche Dosis Beruhigungsmittel, um schlafen zu können. Und wie ich mich so beim Schlafen betrachtete, wurde mir klar, dass dies zwar ein aber nicht mein Leben war. Also deckte ich mich zu, fuhr mir durch die Haare und küsste meine Stirn. Ich wünschte mir eine gute Nacht und sprang vom Balkon aus dem 22 Stock. Doch kurz bevor ich aufschlug, fand ich mich nackt in der afrikanischen Wüstensonne wieder. Und wie ich da scheinbar schutzlos stand, wurde mir klar, dass ich – als Mensch - über die größte Ausdauer aller Lebewesen auf diesem Planeten verfügte, und dass mich Millionen Jahre Evolution zu einem Läufer gemacht haben. Es war ein Wissen, das ich immer besaß, aber das irgendwo tief in meinen Eingeweiden vergraben war.

Wie ferngesteuert wanderte mein Blick über die scheinbar endlosen Weiten der Wüste. Und dann sah ich sie – eine circa 30-köpfige Herde Gazellen. Der Wind stand günstig, sodass ich keine Sorge haben musste bemerkt zu werden. Mein Blick fiel auf eine Gazelle, die etwas abseits der Herde stand; an den kurzen Hörnern erkannte ich, dass es sich um ein Weibchen handelte. Und sie schien mir das schwächste Tier der Herde zu sein.

Ich schlich mich an soweit es ging, dann sprintete ich gezielt auf das besagte Weibchen zu und trennte es von der Herde.

Gazellen können über kurze Strecken schneller als 50 km/h laufen, aber um sich abzukühlen, müssen Gazellen hecheln. Hecheln können Gazellen aber nicht im Galopp. Der Trick besteht also darin, ihnen dicht auf den Fersen zu bleiben, sodass ihre Hechelpausen immer kürzer werden bis sie schließlich überhitzen und tot zusammenbrechen. Es gibt bis heute indigene Völker, die dieser Tradition frönen – denn nur wer ein verletzungsfreies Fell vorweisen kann, wird als wahrer Krieger anerkannt.

Durch mein konstantes Dauerlauftempo stieg mein Level an Endorphinen, sodass ich die Hatz nicht nur bequem durchhalten konnte, sondern obendrein noch Freude dabei empfand. Nach zweieinhalb Stunden brach die Gazelle schließlich zusammen. Ich ging auf sie zu, sprach beruhigend auf sie ein und legte mich in Löffelchenstellung hinter sie. Ich tastete ihren Brustkorb ab, bis ich ihren schnellen Herzschlag spürte, der sekündlich langsamer wurde. Ich schloss meine Augen und passte meine Atmung der ihren an. Gemeinsam schliefen wir dann ein.
 



 
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