Realitätsflucht

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Ich bin jetzt auch so ein
Flüchtlings-Dings
Auf der Flucht vor:
Der Realität
Sie ist wahrlich zum
 → Davonlaufen →

Zwischen GROSSBUCHSTABEN
Suche ich Zuflucht
Ein einzelnes
A oder M
soll mein Zelt sein
Ein stattliches T
mein schützender Schirm
Oder in ein
O will ich kriechen
wie in eine schillernde Seifenblase

~Seht her, wie ich in meinem
U-Boot~
~ans rettende Ufer schippere~
~ ~ ~über all die wogenden Lettern hinweg~ ~ ~

Dieses Zuletzt ist nun eingetroffen
Die HOFFNUNG:
Endlich doch noch gestorben

Hingerichtet
Obduziert
Faschiert
Flambiert
Niedergeschossen
Untergetaucht
Nuklear verseucht und
Gehängt

Hängt sie höher!
Unten drunter schauen wir
CSI Miami
Dschungelcamp
und vielleicht
eine Doku übers Militär

Wir realitätsflüchten
Sogar diese Schrift hier
flieht von dannen

Sie steht nicht stramm wie ein Soldat

Aus dem Friedensvogel hat man jetzt
Gulasch mit Knödeln gemacht
(in der Gulaschkanone, ihr wisst schon…)
Das Rezept findet ihr
wenn ihr den QR-Code scannt

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◘▄▀▌▐■□▪
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mit eurem I-Phone 12 oder höher

Höher!
Neben der †Hoffnung† in Schwarz (R.I.P.)
flattern rotfleckige Tücher im Wind
Ach ja
Fahnenflüchtig bin ich auch
 

sufnus

Mitglied
Hey Erdling!

Das sind (an einer Stelle sogar im Wortsinn) bunte Zeilen, die sich formal so schillernd präsentieren wie die kindliche Seifenblase, die von einem O in Erinnerung gerufen wird. Wobei Selbiges (das O) aber zusammen mit den ebenfalls zitierten Kumpels A, T und M aber zugleich für ATOM steht (warum ist das U in der nächsten Strophe auch noch hervorgehoben?).

Auch die edle Kunst des Akrostichons präsentierst Du dann im Fortgang - als Variation von Tötungsmethoden über das Wort "Hoffnung".
Dabei erinnert die säulenartige Umrissform des Gedichts an alte Barockgedichte, die ja in gewisser Weise mit ihren optischen Effekten Vorläufer der konkreten Poesie der klassischen Moderne waren. An letztere gemahnt Dein QR-Code (der auf meinem IPhone leider nicht funktionierte :/ ).

Am Ende wirft Dein Gedicht eine ganze Reihe praktischer und theoretischer Fragen auf (das ist was Gutes finde ich!).
Zum einen: Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, dass hier eine Klage, aber auch eine Anklage, formuliert wird. Aber wenn wir dem Anklage-Aspekt näher nachzuspüren versuchen, kommt es zu gewissen Komplikationen. Naheliegenderweise sollten doch die machtmissbräuchlich-zynischen Politiker, Konzernlenker und Militärs (jeweils natürlich sämtlicher geschlechtlicher Darreichungsformen) am Pranger stehen. Aber im Gedicht ist nur von einem (CSI Miami usw. schauenden) "Wir" die Rede.

Das gab es schon einmal. Ein kleiner, ganz ohnmächtiger Dichter hat vor bald 250 Jahren geschrieben: 's ist leider Krieg und ich begehre, nicht schuld daran zu sein. Aber wie können denn kleine Ottonormalverbraucher*innen an all dem Schrecklichen an der großen Weltbühne schuld sein?
Immerhin: Dein Text, liebe Erdling, öffnet dem realitätsverweigernden "Wir" in der letzten Zeile ein Fluchttürchen, um einer etwaigen Anklage durch den Weltgeistgerichtshof zu entgehen: Der Eskapismus ist doch eine Art Fahnenflucht und als solcher ein subversiver Akt.

Aber wie ist das denn jetzt mit der Flucht vor der Realität?
Diese kann sich ja zum Beispiel im Schreiben von Gedichten äußern.
Besteht da ein Unterschied zwischen Blümchengedichten und "politischer" Lyrik im Hinblick auf die erreichte Fluchtgeschwingkeit beim Versuch, aus der Mutter-Erden-Sphäre zu türmen?
Unser @hans beislschmidt (Grüß Dich! :) ) hat andernorts sein sehr nachvollziehbares, an Bemitleidung grenzendes Kopfschütteln ausgedrückt über das Dichtvolk, das bei der aktuellen Weltscheißlage seine Gutelaunelyrik verbreitet.

Da erhebt man sich also schwerfällig von seinem Fernsehsessel, knipst die Bilder aus Gaza aus und schreibt ein Sonett über einen Kirschbaum. Ist das nicht obszön?

Aber ist der Kirschbaum das Problem oder ist es dich Gedichtform? Wäre ein Gedicht über sterbende Kinder (unter sauberer Einhaltung der metrischen Regeln) besser? Oder wird es besser, wenn die verhungernden Babys dem Lesepublikum in einem Gedicht mit unsauberen Versen in Erinnerung gerufen werden? Wie sieht es mit Metaphern, Reimen, anderer rhetorischer Ornamentik aus?

Ist Gedichte schreiben also doch "barbarisch"?

Und wie steht es um das Lesen von Gedichten?

Meine persönlichen Antworten können sich wahrscheinlich viele der hier Mitlesenden ungefähr ausmalen. Es sind aber sicher nicht die "besten" Antworten auf diese Fragen, weil es die nämlich (ziemlich sicher) nicht wirklich gibt.

LG!

S.
 
Aloha Aniella!

Vielen lieben Dank für deine Bewertung und das Feedback.
Hoffentlich nicht habe ich dir völlig die Hoffnung geraubt.

Liebe Grüße,

Erdling
 
Servus sufnus!


Deine tiefschürfende Analyse freut mich.

Die Anspielung auf „ATOM“ und dass die Buchstabenkombi das nicht zufällig hergibt, hast du gut erkannt.
Das „U“ in „U-Boot“ steht genau deshalb gesondert im nächsten Absatz, um diese Einheit nicht zu stören.

Und zum QR-Code: Es gilt ja: I-Phone 12 oder höher, sonst funzt das nicht. Vermutlich hast du einfach nur ein veraltetes Modell ;-)



Die Frage, ob man angesichts der Weltlage überhaupt noch Gedichte über das Schöne schreiben darf, ob der Blick auf das Schöne eine ignorante, feige Flucht oder gerade jetzt besonders wichtig fürs Seelenheil ist, um nicht vollends zu verzweifeln… vermag auch ich nicht zu beantworten.
Manchmal empfinde ich so, mal so - und so schreibe und lese ich dann auch.
So ist der Mensch eben wunderbar komplex und widersprüchlich.
Hin und wieder ein bisschen realitätsflüchten, das muss vermutlich einfach sein, um nicht durchzudrehen.

Auf der anderen Seite besorgt es mich natürlich schon auch, wie achselzuckend man das Sterben in z.B. Gaza mittlerweile hinnimmt, wie sehr man diese Realität ausblendet, obwohl sie täglich grausamer wird; wie man Kriege ganz allgemein wieder für „notwendig“ hält statt für schlichtweg sinnlos usw.
Es bekümmert mich, wie gut die jeweilige Propaganda auch hierzulande verfängt; dass die Feindbilder schon sehr tief in die Menschenköpfe eingehämmert wurden; dass die Militarisierung munter voranschreitet; dass es kaum jemanden zu geben scheint, der (frei nach W. Borchert) „NEIN!“ sagt zu dem Ganzen…
Da ist ein kriegerisches „Wir“, das fatalerweise immer größer, wirkmächtiger und realer wird, dem ich mich aber nicht zurechnen kann.
Wenn ich etwa in den Leserkommentaren zu den diversen martialischen Artikeln nur noch martialisches Gedankengut in allen möglichen Abstufungen vorfinde, fällt es mir manchmal schwer, weiterzulesen. Das tue ich mir oft gar nicht mehr an, davor flüchte ich dann auch in gewisser Hinsicht.

Gemeinhin sucht man heute wieder Zuflucht bei den Panzern und Generälen und hält das für eine gute, für die einzig wahre und mögliche Realität.
Schlimmer noch: Wer über Waffengewalt hinausdenken möchte, bekommt auf den Kopf zugesagt, er würde die Realitäten verkennen - als hätten andere die Realität und die Wahrheit für sich gepachtet. (Also, mir wird das laufend gesagt.)
Was ich sagen möchte (meistens eben: „NEIN!“) und meine Sicht auf die Realitäten, will hingegen kaum jemand hören – oder publizieren.
Die Realität, die schließlich mit dieser Ignoranz erschaffen wird, ist dann wirklich zum Davonlaufen, so sehe ich das jedenfalls.

Mit vielen lieben Grüßen,


Erdling
 

Aniella

Mitglied
Hallo Erdling,

gerne und keine Bange, so schnell geht das nicht. ;-)
Ich brauche gerade jetzt (in dieser schwierigen Zeit) auch mal was Leichtes, aber die Wahrheit sollte man deswegen nicht verschweigen.
LG Aniella
 



 
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