Realitätsverlust

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M. F.

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Etwas war hier seltsam. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber es fühlte sich falsch an. Rahel stand in einem Haus, das ihr nicht im mindesten bekannt vorkam. War sie schon mal hier gewesen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie war nicht allein. Im Nebenzimmer saßen ihr Verlobter und dessen Bruder. Sie saßen an einem Tisch und unterhielten sich über irgendetwas. Dann nahm sie plötzlich noch etwas wahr. Auf dem Boden lag der leblose Körper einer Frau. Er sah seltsam verbogen und verdreht aus. Die Haut der Frau sah grau und fahl aus. Was war hier los? Wie konnten die beiden sich am Tisch so unbekümmert unterhalten, während da eine tote Frau auf dem Boden lag? Sie näherte sich langsam dem Tisch. Als sie vor der Tischplatte stand, bemerkte sie, dass dort eine Torte stand, die ganz weiß war. Sie sah aus, als wäre sie aus Sahnebaiser doch in Rahels Verstand machte sich eine schlimme Befürchtung breit. Diese Torte musste irgendwas mit der Frau zu tun haben. Ihr Verlobter sah sie bestürzt an.
„Diese Torte besteht aus den Eiweißbausteinen dieser toten Frau“, sagte er zu ihr. Diese Ausführung kam Rahel völlig absurd vor und doch war es in diesem Moment die einzig logische Erklärung.
„Wir müssen sie essen“, meinte ihr Verlobter weiter. Alles in Rahel schrie „Nein“, doch sie wusste, dass das unvermeidbar war. Die drei schnitten die Torte an und jeder hatte ein großes Stück vor sich. Keiner konnte sich überwinden den ersten Schritt zu machen.
„Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren“, sagte Rahel und schob die Torte von sich weg.
„Ich auch nicht“, stimmte ihr Schwager in Spe zu. Ihr Verlobter nahm einen Bissen, spuckte ihn jedoch sofort wieder aus. Betreten sahen sich die drei an. Keiner wagte etwas zu sagen. Plötzlich sah Rahel etwas im Augenwinkel. Der tote Körper auf dem Boden hatte sich bewegt…

In diesem Moment schreckte Rahel aus dem Schlaf. Es war nur ein Traum, ein Horrortraum. Jetzt wurde ihr auch klar, warum ihr das alles so absurd vorkam. Ihr Gehirn hatte sich sehr seltsame Dinge zusammengesponnen. Das passierte Rahel oft. Leider waren diese Träume immer sehr real und machten ihr einige Zeit zu schaffen. Es fiel ihr schwer vollständig in die Realität zurückzukehren und diese Träume einfach abzuschütteln. So auch bei diesem Traum. Wie konnte sich ihr Unterbewusstsein nur so einen Unsinn zusammenreimen? Was soll´s, dachte sich Rahel, einfach weiter machen.

Rahels Gedanken rasten. Sie hasste es, wenn das passierte. Sie sah sich selbst ins Auto steigen, wenn sie den Zündschlüssel umdrehte, würde das Auto in die Luft gehen. Sie sah sich auf einer Landstraße mit dem Auto fahren, plötzlich schwenkte jemand mit seinem Auto in den Gegenverkehr – und traf natürlich sie. Sie ging in einer dunklen, einsamen Gasse. Aus einem Schatten trat eine vermummte Gestalt und stach sie ab. Sie befand sich in ihrem Haus, draußen war es schon dunkel. Als sie nach hinten ins Schlafzimmer ging, hörte sie einen Schuss und eine Kugel traf sie genau in den Kopf. Sie lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Unter ihrem Bett befand sich eine Bombe, die jeden Moment hochgehen konnte, …
„Rahel, Rahel! Hey, hörst du mir überhaupt zu?“, rief ihr Verlobter verärgert.
„Was? Oh, entschuldige. Ich war mit den Gedanken ganz wo anders.“
„Das habe ich gemerkt. Alles in Ordnung? Du siehst irgendwie verschreckt aus.“
„Ja, alles gut“, meinte sie ein wenig kleinlaut. Warum wurde sie bloß immer wieder von solch schrecklichen Gedanken verfolgt? Und warum fühlten sich auch diese so real an?

Rahel stand neben ihrer Mutter. Sie wollte sie nicht allein lassen, in dieser schweren Zeit. Ihre Mutter musste sich einer Chemotherapie unterziehen. Rahel konnte den seelischen Schmerz ihrer Mutter spüren und das tat auch ihr in der Seele weh. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun konnte, um ihrer Mutter zu helfen.
„Du weißt, was das bedeutet, oder?“, fragte ihrer Mutter an sie gerichtet.
„Was meinst du?“, fragte Rahel zurück.
„Du bist auch schwerkrank“, flüsterte ihre Mutter unheilvoll.
„Was? Warum sollte das so sein?“, meinte Rahel panisch.
Ihre Mutter antwortete nicht mehr. Doch plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie nicht mehr richtig atmen konnte. Ein Arzt ging an ihnen vorbei. Rahel fragte ihn, ob er ihr sagen könne, was mit ihr los sei. Der Arzt sah sie mitleidig an.
„Tut mir leid Ihnen das sagen zu müssen aber sie haben Lymphdrüsenkrebs“, diagnostizierte der Arzt.
„Wie bitte? Lymphdrüsenkrebs? Wie kann das sein?“, schrie Rahel schon fast.
Wieder bekam sie keine Antwort. Die Diagnose hing in der Luft wie ein äußerst schlechter Geruch. Rahel hatte das Gefühl, dass sie fiel. Sie fiel in ein dunkles Loch und dieses Wort „Lymphdrüsenkrebs“ schwebte vor ihrem geistigen Auge, es ließ sie nicht mehr los.
Wieder einmal wachte Rahel auf. Es war nur ein Traum, ein Horrortraum – schon wieder. Auf der einen Seite war sie erleichtert doch auf der anderen Seite hatte sich auch dieser Traum wieder so real angefühlt, dass sie kurz Panik hatte, sie könnte wirklich krank sein. „Unsinn“, sagte sie sich selbst. Es war nur ein Traum. Kurz war sie versucht, die Symptome von Lymphdrüsenkrebs nachzusehen, aber sie ließ es dann doch. Schließlich war es nur ein Traum, oder?

Es war Mittag und absolut still im Haus. Ihre zukünftigen Schwiegereltern hatten sich wohl zum Schlafen hingelegt und auch ihr Hund döste in seinem Körbchen vor sich hin. Vielleicht sollte ich mich auch zum Schlafen hinlegen, dachte Rahel so bei sich. Nur mal kurz die Augen zu machen…
Rahels Körper war gelähmt. Sie konnte sich kein Stück bewegen. Ihre Augen waren einen Spalt offen, sie konnte sogar das Wohnzimmer sehen. Da war doch ein Geräusch… irgendjemand kam zur Tür rein. Was, wenn das jetzt ein Einbrecher war? Sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Er könnte alles mit ihr machen. Rahel fühlte, wie Panik in ihr aufstieg. Dieses lähmende Gefühl im Körper war ihr absolut vertraut. Sie hatte es schon oft gehabt und wusste, dass sie gerade eine Schlaflähmung hatte. Trotzdem konnte sie nichts dagegen tun. Mit aller Kraft versuchte sie sich aus der Lähmung zu befreien, aber es ging nicht. Es fühlte sich so an, als wäre sie unter Wasser und jedes Mal, kurz bevor sie durch die Wasseroberfläche brechen konnte, wurde sie wieder nach unten gezogen.
Sie fühlte eine Aura neben sich, ganz so, als würde jemand direkt neben ihr stehen. Noch einmal versuchte sie, das lähmende Gefühl abzuschütteln. Mit einem Ruck war sie plötzlich wach und atmete schwer. Sie fühlte, wie das Blut zurück in ihre Gliedmaßen floss. Schnell setzte sie sich auf, um nicht noch einmal in diesen Strudel aus Gefühllosigkeit zurück gezogen zu werden. Sie sah sich um. Alles sah normal aus. Ihr Hund döste immer noch vor sich hin und niemand war hier, der hier nicht hergehörte. Okay, dachte Rahel, wach bleiben. Sie wusste genau, dass das, was sie während der Schlaflähmung wahrgenommen hatte, nur eine Halluzination war. Trotzdem machte sie einen kurzen Kontrollgang durch die Wohnung – nur um sicher zu gehen.

Rahel stand auf einer Brücke und sah auf das Wasser hinaus. Sie liebte es, am Wasser zu stehen und sich den Sonnenuntergang anzusehen. Sie war allein und genoss die Ruhe.
„Zur Abwechslung mal ein schöner Traum“, dachte sie so bei sich. Es gab keine toten Menschen, keine schlimmen Ereignisse und keine Horrorvorstellungen. Es gab nur sie und diesen herrlichen Blick raus auf die Donau. Sie kannte die Brücke gut, da sie schon oft hier gewesen war. Es ging weit nach unten ins Wasser. Rahel mochte Wasser eigentlich schon, aber sie hatte auch ein bisschen Angst davor. Sie hatte erst spät gelernt zu schwimmen und mochte es ganz grundsätzlich nicht, wenn ihr Kopf unter Wasser war. Da bekam sie schnell Panik. Doch jetzt im Moment fühlte sie kein bisschen Angst. Die Situation kam ihr absolut ungefährlich vor. Schließlich war das nur ein Traum.

Sie kletterte über das Geländer und setzte sich darauf. Unter ihr floss die Donau wild und reißend. Es hatte viel geregnet in der letzten Zeit und die Strömung war sehr schnell geworden. Rahel lehnte sich weit nach vorne. Schwamm da irgendwas? Es sah aus wie ein Fisch. Oder war es doch eine alte Stofftasche? Rahel rutschte noch ein paar Millimeter nach vorne – und verlor das Gleichgewicht. Sie fiel nach unten Richtung Wasser. Die Luft sauste an ihr vorbei und fühlte sich unangenehm kalt an. Warum nahm sie das so deutlich wahr? Kurz bevor sie auf der Wasseroberfläche aufschlug, kam ihr ein erschreckender Gedanke. Was, wenn das hier jetzt gar kein Traum war?
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo M. F.

dir üble Albträume auszudenken, das kannst du.

Aber eine Geschichte mit Handlung ist das nicht mal ansatzweise. Jetzt, am Schluss, ginge es doch erst richtig los.

Spinn das Thema weiter und überleg dir, warum diese Rahel solche Träume hat. Oder vielleicht, was sie dagegen unternehmen könnte. Lass sie mit ihrem Verlobten oder der besten Freundin darüber sprechen. Vielleicht hat Rahel irgendein Erlebnis und plötzlich hören die Träume auf. Oder es kommen Erinnerungen zum Vorschein, die die Träume auslösen.

Dann könnte vielleicht eine Geschichte daraus werden.

Grüße, Thomas
 
Hallo M. F.,

ich sehe das anders als mein Vorredner. Ich finde, zur Überschrift passt der Text absolut - wer an Realitätsverlust leidet, kann nicht mehr unterscheiden, was wahr ist und was nicht. Der Schluss ist bitter, könnte sich aber genau so abspielen. Wenn du eine Krankheit bzw. die Symptome beschreiben wolltest (wovon ich ausgehe), ist dir das sehr gut gelungen.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

M. F.

Mitglied
Vielen Dank, @SilberneDelfine. Ich wollte damit vor allem zeigen, wie es sein kann, wenn man unter solchen zusammenhanglosen Gedanken und Träumen leidet. @ThomasQu ich verstehe deinen Einwand aber dieses abrupte Ende war schon so gewollt. Der Leser kann die Geschichte ja für sich weiter spinnen :)
 



 
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