Rechtschreibreform für Schildbürger

tastifix

Mitglied
Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, die Tage wurden kürzer und trüber. Die Menschen widmeten sich wieder intensiver Themen allgemeiner Gewichtigkeit. Auch in Schilda endete das unbeschwerte Treiben. Obendrein versetzte in diesem Jahr etwas die Stadt sehr in Aufregung. Ein Bürger war von einer Reise zurückgekehrt. Wegen eines bestimmten Begriffes in seinem Bericht war die Ruhe in Schilda zum Teufel.

„So darf es nicht weitergehen!“, berief der Schultheiß rasch eine Bürgerversammlung ein.
Sie mussten dringend das Geheimnis darum lüften, ehe gar Panik ausbrach. Von überall her strömten die Leute herzu und diskutierten aufgeregt durcheinander. Ernster Miene eröffnete der Schultheiß:
„In unserer Nachbarstadt soll eine äußerst bedeutende Konferenz stattfinden, auf der es um eine sogenannte Rechtschreibreform gehen wird.“
Verständnislose Blicke.
„Recht..schreib..reform?“
Ahnungslosigkeit quält.
„Hat jemand eine vage Idee, was darunter zu verstehen ist?“
Hm, hm. Vielleicht ja oder doch eher nicht …? Die Bürger Schildas fürchteten um ihr Image als besonders kluge Leute und überlegten:
„Ist denn sicher,“ warf der Bäcker ein, „dass es nicht´Vonrechtsschreibreform` heißt?“
Weil er meist ziemlich kleine Brötchen buk, kam dieser Einwand entsprechend zögerlich. Unter ´Vonrechtsschreibreform` hätte er sich wenigstens etwas vorstellen können. Leider schwante ihm da etwas Schlimmes:
´Muss ich gar die Namen sämtlicher Brötchen umschreiben?`
Die Umstehenden atmeten erleichtert auf. Seine spontane Wortmeldung bewahrte sie nämlich davor, zugeben zu müssen, dass sie bei diesem brisanten Thema total im Dunkeln tappten. Also klatschten sie wohlwollend. Der über sich selber verblüffte Bäcker sonnte sich in dem trügerischen Schein, bestimmt etwas Wichtiges zur allgemeinen Diskussion beigetragen zu haben.

Gespannt blickten alle zum Schultheiß, dem vielleicht klügsten Mann von Schilda. Egal, was er dazu sagen würde,würden sie dem zustimmen, um ja nicht als dumm dazustehen.
„Seid nicht böse, aber das meinte unser Reisender wohl nicht ... “, runzelte der die Denkerstirn und fuhr verlegen fort: „Fällt Euch kein sehr ähnliches Wort ein, das er gesagt haben könnte?“
Der Schulmeister meldete sich.
„Vielleicht ´Schreibrechtsrefom`? Es wird ja größten Wert darauf gelegt, dass jeder das Schreiben lernt. Wahrscheinlich soll die Schreiblernpflicht nochmals gesetzlich verankert werden.“
Auch dies erschien den Bürgern von Schilda als durchaus möglich.
Strenggenommen sahen sie den Schulmeister noch eher im Recht. Den passenden Beifall genoss jener gebauchpinselt von ganzem Herzen. Hätte der Schultheiß dem nur zugestimmt! Aber:
„Leider kann ich Euch auch darin nicht beipflichten!“
„Ooch!!“
„Denn ich vermute, dass es sich wahrscheinlich eben doch um ´Rächtschreibreform` handelt!“
Getuschel ringsum. Enttäuschung bei Schulmeister und Bäcker.

Letztendlich siegte die Wissbegierde, was sich hinter ´Rechtschreibreform` verbarg. Sie grübelten vergeblich. Mürrisch nörgelten die Bürger herum. Irritiert schauten sie ihren bislang verehrten Schultheiß an, den sie eigentlich für nooch klüger gehalten hatten. Täuschten sie sich so sehr? Aber darüber jetzt auch noch nachzusinnen, hätte den Kopfschmerzen, die sich wegen des intensiven Denkens bereits eingestellt hatten, zusätzliche Nahrung geboten. Deshalb überlegten sie lieber nur, wie denn das Rätsel um jene Rechtschreibreform zu lösen wäre. Als wider Erwarten unkluge Bürger einer dann unklugen Stadt wollten sie nicht gelten.

Ausgerechnet dem Metzger, der sonst nur zwischen Schweinen herum lief, fiel das einzig Richtige ein.
„Ich hätte ja eine Idee … “, setzte er zaghaft an. „Wie wäre es, wir würden jemanden hin schicken, der uns dann alles erklären könnte?“
Überrascht registrierten die Anderen die für ihn ungewöhnlich lange Rede. Die Überraschung wich vager Bewunderung. Froh, dass er vielleicht gerade half, ihr Image zu retten, feierten sie den deswegen total verblüfften Metzger wie einen Helden. Sie hatten ja von jeher geahnt, dass in ihm ein unerkanntes Genie schlummerte. Dies bewies er ja gerade. Richtig, genau so würden sie vorgehen. Es würde ihnen weiteres vergebliches Kopfzerbrechen ersparen wie auch die Sorge, ihrem Ruf leider doch nicht gerecht zu werden,

Schade, die Freude darüber hielt nicht lange vor. Es musste jetzt nämlich dringend ein Beschluss gefasst werden. Der Leitfaden für nachfolgende Aktionen baumelte zum Greifen nah in der Luft. Zielstrebigkeit war angesagt! Und die bewiesen die Schildbürger dann auch. Ja, sie würden einen Kundschafter zu jener Konferenz schicken! Wer aber war weise genug, diese Aufgabe zu übernehmen und später die Informationen so weiterzugeben, dass wirklich jeder sie begreifen würde? Erneut ergriff der Schultheiß das Wort.
„Für ihn darf die Rechtschreibung keine Schwierigkeit bedeuten. Wer kommt da in Frage?“
Sich selber zu benennen, war er zu klug, zu bescheiden.
„Klar! Der muss das ganze ABC kennen!“, meinte stolz die Marktfrau und hoffte, dass ihr genauso applaudiert werden würde wie dem Metzger zuvor.
Dagegen klatschten nur Wenige wie aus Versehen verhalten Beifall, denn auch sie zählte zu dieser überaus klugen Gemeinschaft und man hielt ja zusammen. Sich darüber im Unklaren, was er dazu sagen sollte, ergänzte der Schultheiß schnell:
„Vor allem muss er viele Bücher gelesen haben, um dort mitreden zu können!“
Gegenseitig prüfende Blicke, begleitet von abschätzenden Gedanken. Dann der erste Vorschlag:
„Der Müller soll reisen!“, riss ein kleiner Junge den Mund weit auf und nahm ihn damit sehr voll.
„Warum der Müller?“, verlangte der Schultheiß eine Begründung.
„Der schreibt immer so tolle Rechnungen. In Schönschrift. Und ´Rechnung` richtig mit nur einem ´g`!“
Alle lachten.

Auch den Erwachsenen war nun die Zunge gelöst. Auf den armen Schultheiß stürmten die Vorschläge nur so ein. Nein, so arm war der nicht. Weder im Geiste und erst recht nicht sonst.
„Warum fährst denn Du nicht?“, fragte eine Frau schüchtern.
´Ich? Bloß nicht! Dann ist mein Ruf, klug zu sein, sofort dahin. Ich besitze ja nur zwei Bücher: Das Notizbuch und mein Tagebuch!`
Deutlich sichtbar standen sie daheim in seinem Bücherregal mit dem nur einen Fach. Es ließ ihn als gebildet erscheinen. Klar wollte er keine ihn entlarvende Antwort geben müssen und schlug fix vor:
„Lasst uns den Schulmeister schicken. Der liest pro Tag ein ganzes Buch und steht mit der Rechtschreibung auf du und du.“
Zufrieden nickten alle. Ja, der war wirklich der Richtige für einen solchen Auftrag. Der Schulmeister reiste also ab und freute sich auf die Diskussionen mit den vielen intelligenten Leuten, die gleich ihm mit der Rechtschreibung klar kamen.
´Wenn ich daran denke, wie schulmeisterlich korrekt ich die Zeugnisse schreibe ... Einfach genial!`

Nun mussten sich die Bürger Schildas gedulden. Würden sie ´Rechtschreibreform` verkraften, was immer es auch war?? Eine Woche später versammelten sie sich erneut, gespannt, was der Schulmeister zu berichten wusste. Leider war der ausgesprochen umständlich veranlagt und holte gern aus. Nicht nur, um einen Schüler zu ohrfeigen, sondern genauso bei detaillierten Reiseberichten.
„Ja, ich kam also dort an ...“
„Aah!“, zogen alle wichtige Gesichter.
Immerhin war ihr Schulmeister am Ziel angekommen. Aber noch war der Bericht nicht zu Ende, fiel es ihnen auf. Es fehlte ja noch das Wichtigste. Also hörten sie weiter aufmerksam zu:
„Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie viele interessante Leute dort aufeinander trafen. Manche trugen als Indiz für ihre Klugheit sogar ein schmales Buch unter dem Arm. Meist war es aber das Kursbuch, was ich sehr schnell erkannte.´Fahrplan` stand vorne drauf.“
„Ja, du meine Güte!“
Anerkennendes Gemurmel.
„Nun verratet aber endlich: Was ist denn diese Rechtschreibreform??“

Angehaltenen Atems versuchten die Mitbürger, noch unausgesprochene Worte von seinen Lippen abzulesen - falls sie dies dann überhaupt gekonnt hätten.
„Vieles, was bislang als korrekt galt, ist jetzt falsch. Es ist nur noch richtig, wenn man es schreibt, wie man es spricht!“
Es schlug ein wie ein Blitz.
„Beispiele!!“, drängten die Männer.
„Wir wollen Beispiele!“, unterstützten die Frauen sie.
„Nehmt das Wort ´Phantasie`. Die habt Ihr sehr oft bewiesen, anstatt zu schreiben, wie die Regeln es verlangten. In Zukunft dürft Ihr an Phantasie sparen, wenn ihr sie schreiben wollt: ´Fantasie!`
„Toll!“
Jetzt dürften sie die zum Beispiel dafür einsetzen, wie viele Brötchen sie beim Bäcker kaufen wollten oder ob und welches Schwein geschlachtet werden sollte.
„Und welchen Vorteil haben wir Kinder?“, empörten sich ein paar Zehnjährige.
„Früher trug der ´Delphin` immer ein ´P`. Jetzt dürft Ihr dem ´P` ein ´Pööh` hinterher schreien und Euren Fisch so schreiben: ´Delfin`. Und so geht es jetzt mit vielen Wörtern.“
„Super!“

Schon lange hatte man die Schildbürger nicht mehr in solch ausgelassener Stimmung erlebt. Dennoch war es beileibe noch nicht ausgestanden. Wenige Tage später wurde auf dem schwarzen Brett am Haus des Schultheiß - probeweise größtenteils nach den neuen Rechtschreibregeln verfasst - angekündigt, dass die Wahl eines neuen Schultheiß anstand. Doch war dabei ihrem jetzigen das ´ß` weiterhin gegönnt worden. Dies schrieb jener dem Ansehen seiner Person zu und fing prompt an, die Rechtschreibreform zu mögen. Aber die Wolke der Grübelei hüllte erneut die Stirnen der Schildbürger ein. Doch vermochte es sie nicht mehr in dem Maße wie bislang zu schocken. Das auf sie noch Zukommende würden sie schon zu bewältigen wissen, denn sie galten ja nicht grundlos als besonders klug. Außerdem hatten sie ja durch die letzten Ereignisse immens dazugelernt. Recht fix entschieden sie also, dass Schultheiß sein sollte, der den Begriff ´Rechtschreibreform` nach den neuesten Regeln am richtigsten niederschrieb. Es würde ziemlich schwierig, denn es handelte sich um ein langes Wort.

Es entstanden die abenteuerlichsten Varianten.
„Reechtschraibreform!“, notierte der Erste, mit ´Doppel-E` und ´ai`.
Der Zweite wollte nicht nachstehen:
„Rechchtschreibrreform!“, mit ´Doppel-Ch` und ´Doppel-R`.
Sah zwar nicht schlecht aus, war aber genauso falsch.
„So kommen wir nicht voran! Wir müssen anders herausfinden, wer würdig ist, meinen Platz einzunehmen!“, forderte der Schultheiß. „Die Wahl wird um ein paar Wochen verschoben und wir beobachten derweil, wer am besten mit den Neuerungen umgeht.“
Ja, ein für ihn typisch weiser Entschluss.

Leider geriet es zur mittleren Katastrophe. Ständig gestresster formulierten die Bürger ihre Briefe und zermarterten sich wegen der neuen Regeln die Köpfe, obwohl angeblich alles unkomplizierter geworden war. Die Vereinfachung erwies sich als berühmt-berüchtigtes Damokles-Schwert. Als ständige Image-Bedrohung schwebte es zunehmend gefährlicher über den rauchenden Köpfen. Den Leuten brach der Schweiß aus vor Sorge, vielleicht doch nicht klug zu sein. Bald wagten nur noch Wenige, etwas zu Papier zu bringen. Allerdings las man dann einen Krautsalat aus alter und neuer Rechtschreibung. Das schwierigste Kreuzworträtsel war ein Klacks dagegen! Offizielle Briefe muteten an wie Nachrichten von einem fremden Stern. Familien verzweifelten fast: Sie konnten die neuesten Klatschnachrichten ihrer Angehörigen nicht enträtseln ... Verdoppelte oder fehlende Buchstaben, vertauschte Wortendungen. Um ihre Ratlosigkeit zu vertuschen, griffen die Bürger Schildas zu folgendem Trick:
´So verstecken sich die Fehler, soo wirkt alles ganz besonders intelligent!`

Sie machten kurzen, ääh, eher langen Prozess und reihten die phantasievollen Buchstabenfolgen nach freiem Gutdünken aneinander. Wichtiges teilten sie sich derweil mündlich mit. Der Schriftverkehr versiegte mehr und mehr. Bevor aber das Chaos Schilda dem Untergang nahebrachte, bestätigte der Schultheiß mit einer resoluten Ansprache seinen Ruf, recht klug zu sein:
„Liebe Mitbürger! Die Reform hat unsere Klugheit fast für nichtig erklärt. Vor ein paar Tagen fand ich den aller letzten Brief auf meinem Schreibtisch vor. Leider war es mir unmöglich, ihn zu lesen. Vielleicht schaffen wir es ja zusammen, ihn zu enträtseln.“
Dort stand ein wildes Buchstabenchaos ohne Punkt und Komma. Ziemlich bedrückt, weil sie ihren Ruf nur dann retten könnten, wenn sie jenes Kauderwelsch entschlüsselten, setzten sich die Bürger Schildas an ihre inzwischen fast gehassten Schreibtische. Sie trennten die Buchstaben voreinander, schufen neue Silben, bildeten Wörter und glichen diese der alten Rechtschreibung an. Stolz gestanden sie sich zu, ihr einstiges Wissen nicht verloren zu haben. Auf diese Weise entstand endlich einer der Sätze, wie sie sie gekannt hatten, bevor die Reform ihr Leben durcheinander gewirbelt hatte.

„Ich hasse die neuen Regeln und wünsche mir nichts sehnlicher zurück als die alte Schreibweise!!“

Jetzt blieb nur noch zu klären, wer noch den Mut besessen hatte, diese schriftliche Mitteilung zu starten. Aber darin wurden sie sich schnell einig: Es war garantiert der Schulmeister gewesen und so wurde er neuer Schultheiß von Schilda. Als Erstes verbannte er die neue Rechtschreibung ins Kämmerchen der Erinnerung und führte die althergebrachte Schreibweise wieder ein. Von einem Tag auf den nächsten konnte sich der Schultheiß vor Briefen kaum retten. Schildas Ruf war gerettet, eine kluge Stadt mit überaus klugen Bürgern zu sein.

Ihr Pfarrer übrigens hatte sich gänzlich heraus gehalten, weil es ihm als zu unwichtig erschien. Derweil diskutierte er lieber mit seinem obersten Chef über die Bibel. Wie es sich jetzt ja bewiesen hatte, war er da wohl der Klügste gewesen.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten