Regionalzug

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Scal

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"Alle, im Eurocity, vor einigen Wochen, es waren sechsundzwanzig, alle außer mir", sagte der Alte. "Ich zählte sie, mein Zeigefinger lag im Schoß und zuckte bei jeder Zahl. Sechsundzwanzig schräge Blicke
#hashtaghuschtagwischtag#hashtaghuschtagwischtag#hashtaghuschtagwischtag#, nun ja, Sie kennen das. Wissen Sie, deshalb begann ich wieder einmal in den Gruben des Grübelns herumzusuchen.“
Er griff in die Seitentasche seines Sakkos, zog ein zerknülltes Stofftaschentuch heraus, schnäuzte sich kräftig, stopfte es zurück und zupfte dann an seinem rechten Ärmel. „Tweed von Harris, auch die Hose“, meinte er, „einundzwanzig Jahre alt“.
„Erstaunlich“, sagte ich.
Wir schwiegen und starrten durchs Fenster in die Dunkelheit.

„Ich liebe diesen Regionalzug, spüren Sie die Schienen?“ Ich nickte und wir lauschten.
Er neigte seinen weißhaarigen Kopf, schloss die Augen und atmete hörbar ein. Seine Stimme blieb leise, sie rollte monoton dahin.
„In der Grube des Grübelns, das sollten Sie noch wissen, da eilte mir damals ein Apfel entgegen, genauer gesagt, es kam eine Frage auf mich zu. Wollen Sie hören?“
„Ja, gerne, Sie verblüffen mich“, antwortete ich überrascht.
„sechsundzwanzigschrägeblicke#weristinweristout#sechsundzwanzigschrägeblicke#weristinweristout#sechsundzwanzigschrägeblicke#... wer...ist...in...wer...ist...out#.“
Metallenes Quietschen, der Zuge verlangsamte sich, sein Gemurmel versickerte.

Vor etwa einer Stunde hatte ich den alten Mann vom Bahnwärterhäuschen kennengelernt, hier im Zug, er hatte mir von der Amsel und den Regenwürmern in seinem kleinen Gärtlein erzählt und dass für ihn mit dem Quietschen der Räder, sobald sich die Garnitur des Regionalzuges nähere, auch ein Gedicht heranruckle - und plötzlich, mit einem Blick, der mich wahrlich erreichte, fügte er hinzu, dass es ihm abends zunehmend mehr Mühe bereite, sich all des Giftmüllkleisters zu entledigen, der ihm durch die täglichen Tagesschauen der Nachrichtenwelt an die Augen geklatscht werde.


Er stieg aus.
„Regionalzug nach Sindelfingen, Abfahrt zwanzig Uhr zehn vom Bahnsteig zwei“, ertönte eine weibliche Lautsprecherstimme als ich ihm zuwinkte.
Er kam mit langsamen Schritten noch einmal an mein Fenster, lächelte, zog aus der rechten Innentasche seines Tweed-Sakkos ein Smartphone und schwenkte es winkend hin und her, wie einen Scheibenwischer, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 16867

Gast
Lieber Scal,

eine interessante Darstellung der bundesdeutschen Wirklichkeit, die schonungslos anprangert, was der Gebrauch öffentlicher Verkehrsmittel bei den Menschen anrichten kann.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Scal,
die Figur des Alten find ich interessant. Aber irgendwie habe ich keinen Zugang zu der Geschichte gefunden. Auf was diese " sechsundzwanzig " anspielen sollen, ist mir nicht klar. Darum bleibt mir sicher auch verschlossen, was er in der "Grube des Grübelns" sucht.

Auch bei dem hier habe ich das Gefühl, dass ich nicht verstehe, was du andeuten wolltest
da rollte mir damals ein Apfel entgegen, genauer gesagt, es kam eine Frage auf mich zu.

Mir ist auch die Konstellation nicht ganz klar. Der Erzähler hat den Alten an einem Bahnwärterhäuschen kennen gelernt? Warum fährt der Bahnwärter jetzt selber Zug?

Noch eine Kleinigkeit
„Ja, gerne, Sie verblüffen mich“, antwortete ich überrascht.
Wenn der Sprecher wechselt, würde ich auf jeden Fall einen Absatz machen


Viele Grüße
lietzensee
 

Scal

Mitglied
Hallo Iietzensee,

vielen Dank fürs Bedenken und Kommentieren!

Sechsundzwanzig bezieht sich auf ein spätabendliches Erlebnis bei einer Zugfahrt in Oberösterreich. Ich bemerkte plötzlich, dass alle im Abteil mit ihren Smartphones beschäftigt waren (ich verwende meines nur zum Telefonieren).
Der Alte ist einer der kuriosen Außenseiterpoeten in Ernst Kreuders Erzählungen nachempfunden (Der Mann im Bahnwärterhaus, Die Gesellschaft vom Dachboden, Die Unauffindbaren). Ernst Kreuder war in der Nachkriegszeit ein einigermaßen bekannter Autor, heute zählt er zu den weitgehend Vergessenen. Ein schrulliger, sehr eigenwillig poetisch denkender und empfindender Erzähler, der das Dasein wie eine poetisch-mystische Phantasie- und Abenteuerreise auffasste.
Der Apfel kann wie eine „Apple-Anspielung“ aufgefasst werden, oder auch als eine Eigenart des Alten, der selbst in Alltagssituationen dazu neigt, seine Sprache in poetische Bilder zu kleiden.
Den alten Mann vom Bahnwärterhäuschen hat der Erzähler nicht beim Bahnwärterhäuschen sondern im Zug kennengelernt, aber du hast nicht unrecht, es wirkt eher so, als sei es nicht im Zug gewesen.
Das Tweed- und #hashtag# -Motiv ergab sich durch Atiras Text „Tweed“, Amsel und Regenwurm sind Anspielungen auf zwei meiner Gedichte.
Danke für den Absatz-Hinweis, das werde ich tun.

Lieben Gruß
Scal


@Aron Manfeld - Danke für den Kommentar!
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Scal,
ok, dass im Zug alle auf ihre Telefone geguckt haben haben, hätte ich wirklich nicht erraten.
Ich hätte eher gedacht, dass die Leute ihn schräg angucken. Aber wenn man das Stichwort Handy hat, wird "schräge Blicke" zu einer treffenden Formulierung.

Im Text oben sehe in der Version von Gestern um 08:18 nur die Änderung mit dem zusätzlichen Absatz. Kann es sein, dass noch nicht alles abgespeichert ist?

Viele Grüße
lietzensee
 

Scal

Mitglied
Vielen Dank lietzensee, tatsächlich, die übrigen Änderungen fehlen, vermutlich habe ich die Vorschau nicht beachtet.

LG
Scal
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
@Scal, erst durch Deine Erklärungen hat sich mir der Text erschlossen, ich hatte auch gedacht, die Sechsundzwanzig würden den Alten schräg angucken.
Wenn "Alle, im Eurocity, vor einigen Wochen, es waren sechsundzwanzig, alle außer mir" gleich hinter "Alle, im Eurocity, vor einigen Wochen, es waren sechsundzwanzig, alle außer mir: #hashtaghuschtagwischtag#hashtaghuschtagwischtag#hashtaghuschtagwischtag“ käme, wäre es nach meinem dafürhalten deutlicher.
 

Scal

Mitglied
Vielen Dank für diesen hilfreichen Hinweis, Isbahan!
Ich werde demgemäß auch noch einige weitere Änderungen vornehmen.

LG
Scal
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Hallo Scal,

Der Text wirkt in hohem Maße literarisch. Sprachlich teils sehr schön und teils sehr originell. Wie der "Apfel" (den ich als paradiesischen Apfel aufgefasst habe) Die Frage stellt er dann nicht. Die Kommunikation endet in der Aufzählung der #Stichworte.

Oder das heranruckelnde Gedicht oder "spüren Sie die Schienen"

Er fährt also Zug, ein altes Fortbewegungsmittel, trägt bewährten, unverwüstlichen Tweed und im Gegensatz dazu steht dann die Welt der Smartphones. Die wischende Mehrheit im Zug. Der Tod der Kommunikation? Oder doch nicht? Warum schwenkt der Alte am Ende das Smartphone?


Ich würde auch zum besseren Verständnis in Zeile zwei jedenfalls auch klarstellen: "sechsundzwanzig schräge Blicke aufs Smartphone", es bleibt die Doppeldeutigkeit. Das man ihn, den Tweedträger, ja auch irgendwie schräg ansehen könnte, weil er nicht mehr ganz in diese Welt zu passen scheint.

Erstaunlich, wie du "mein" Tweed-Thema bearbeitet hast.

LG
atira
 

Scal

Mitglied
Danke Atira,

schön dass du den Kontext andeutest; der Figur des Alten könnte man auch noch das Motiv der "Langsamkeit" zudenken. Bei schräge Blicke überlege ich, ob vielleicht schräg fallende Blicke noch besser wäre.

Das Ende, hm, das möge offen bleiben: es könnte als Selbstironie aufgefasst werden, oder (ein Scheibenwischer schafft klare Sicht ) auch als Geste anderer Art. Die Interpretation sei dem Leser überlassen.

LG
Scal
 



 
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