Rehab (1)

Rehab

„How much can we ever know about the love and pain in another heart? How much can we hope to understand those who have suffered deeper anguish, greater deprivation, and more crushing disappointments than we ourselves have known?”

Orhan Pamuk



Teil 1



1.

Günthers Beerdigung fiel mitten in den dritten Lockdown, kurz vor Ostern, als es immer noch zu wenig Impfstoff für alle gab, und schon kaum einer mehr glaubte, dass wir jemals wieder ein normales Leben führen würden. Günther war auch noch nicht geimpft, als es ihn traf, dabei hätte er mit seiner Lunge eigentlich ganz vorne auf der Liste stehen müssen. Vermutlich hatte er sich aber auch nicht wirklich um eine Impfung bemüht. Bis zum Rand des Grabes vor durften nur seine Frau Saya, die einzige, die als Altenpflegerin schon geimpft war, ihre beiden Söhne - Badrag und Isko - und der Pastor. Und selbst die vier schafften es kaum, die eineinhalb Meter Abstand um das kleine Loch herum einzuhalten. Schon durch seine Leibesfülle, die sich unter den Falten der Soutane erahnen ließ, nahm der Pastor den meisten Platz am Grab ein. Aus seiner Rede ging hervor, dass er Günther im Leben nie begegnet war. Ich konnte mich auch nicht erinnern, Günther jemals von Religion oder Kirche reden gehört zu haben. Aber unter Günthers Trinkhallen-Stammgästen musste es jemanden geben, der dem Pastor von ihm erzählt hatte. Jedenfalls schaffte der Pastor es, Günther als eine Art guten Christenmenschen wider Willen darzustellen, der den Gebeugten und Geplagten seine Hand gereicht und ihren Elendsgeschichten immer geduldig gelauscht hatte. Saya stand dem Pastor gegenüber. Mit ihren kaum einen Meter sechzig schaute sie ihm die ganze Zeit auf den Bauch, der sich über das Grab wölbte. Zu ihrer Linken stand Isko, der auch eher klein war und durch die leicht gespreizten Beine noch kleiner wirkte. Die Hände hielt er vor dem Gemächt verschränkt. Es sah so aus, als müssten seine Muskeln jeden Moment den zu engen Anzug sprengen. Die langen schwarzen Haare trug er offen, in seinem glatten Gesicht mit den hohen Wangenknochen regte sich kein Muskel. Er sah aus wie ein Indianerhäuptling, der sich in die unpraktischen Gewänder des weißen Mannes gezwängt hatte, um dem großen Häuptling in Washington seinen Tribut zu zollen. Zu Sayas Rechten beugte sich Badrag, der annähernd Günthers hünenhafte Statur geerbt hatte, zu den drei anderen herunter. Sein Anzug war im Gegensatz zum dem seines Bruders perfekt geschnitten. Mir war schon früher aufgefallen, dass er, seit er sein Geld als selbständiger Versicherungsmakler verdiente, viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Ich glaubte, eine gewisse Missbilligung angesichts des ans Obszöne grenzenden Auftretens seines kleinen Bruders in seinem Gesicht zu lesen. Badrags Augen waren gerötet und verschwollen, und er war der einzige, der immer wieder schluchzte, während der Pastor seine Grabrede hielt. Seine kleine Tochter dagegen brabbelte auf dem Arm ihrer Mutter im Hintergrund vor sich hin, und entlockte damit manchen der Trauergäste ein Lächeln. Wie alle anderen musste sich auch Badrags junge Familie vom Grab fernhalten. Wir hatten uns weitläufig zwischen den Nachbargräbern verteilt und boten dem schneidenden Märzwind genug Platz, zwischen uns hindurchzufegen. Auf den Gräbern blühten Krokusse, Narzissen und Hyazinthen, aber an den Ulmen, die den Friedhof umrandeten, zeigte sich noch kein Grün. Einige der Trauergäste meinte ich schon einmal an den Stehtischen der Trinkhalle gesehen zu haben. Auf jeden Fall sah ich etliche vom Alkohol gezeichnete Gesichter, die man sich gut dort vorstellen konnte. Zwischen einem gewagt geschwungenen schwarzen Marmorstein mit Goldbuchstaben und einem Eichenkreuz entdeckte ich Eugen, Günthers ehemaligen Kollegen, der uns auf dem ersten Stück unserer Reise zu Kemal begleitet hatte. Wir nickten uns über die Gräber hinweg zu. Er war unrasiert, sah müde aus, die jugendlichen Züge, die mir damals so aufgefallen waren, waren aus seinem Gesicht verschwunden. Er trug einen ähnlich schlecht sitzenden Anzug wie Isko.

2.

Wie eng so ein Urnengrab ist, nichts für Klaustrophobiker. Und erst recht nichts für Günther. Der musste immer alle Fenster offen haben; und das Hemd auch. Und am glücklichsten habe ich ihn gesehen, als nichts um uns her war als weites Land und eine lange leere Straße. Andererseits: vielleicht war es ihm recht so, mit dem Verbrennen. Über die blau-weißen Schalke-Farben auf der Urne hätte er sich auf jeden Fall gefreut. Er hat auch nie viel Platz für sich beansprucht im Leben; so ein Aufhebens mit Sargträgern, das wäre ihm unangenehm gewesen. Wenn er noch gekonnt hätte, hätte er wahrscheinlich zu den Trägern gesagt: „Jungs, lasst mal, ich lauf selbst zum Grab“, so wie er zu den Sanitätern sagte: „Lasst mal, ich laufe selbst die Treppe runter“, als sie ihn schon wieder mitnehmen mussten, weil er keine Luft mehr bekam. Die haben gelacht, ihn auf dem Tragestuhl festgeschnallt, für den Günther immer noch viel zu groß erschien, auch wenn er nur noch die Hälfte von früher wog, und ihn Absatz für Absatz die Treppe hinunter manövriert. Ich habe gesehen, wie unangenehm ihm das war, diese Hilflosigkeit, und auch den Anflug von Ärger in seinen Augen über der Atemmaske, die sie ihm ins Gesicht geschnallt hatten, jedes Mal, wenn sie am Geländer hängen blieben. Kurz vorher hatte er noch als großzügiger Gastgeber aufgetrumpft. Wir hatten zu dritt auf seinem Balkon gesessen, Saya, er und ich, und Würfelspiele gespielt, und er hatte mich einen Obstschnaps nach dem anderen kosten lassen; die bekam er immer von seinem Bruder geschenkt, der für eine Brennerei arbeitete. Nach jeder neuen Sorte hatte er mich angesehen, seine schütteren Brauen hochgezogen und mich in Erwartung meines Urteils aufmunternd angelächelt, und ich hatte jedes Mal auf die billige Brücke geschaut, die seine oberen Schneidezähne seit dem Überfall ersetzte, und hatte wieder an das dicke warme Blut in seinen Haaren denken müssen, damals, als ich seinen geschundenen Kopf in meinen Händen hielt. Saya hatte unserer Verkostung zufrieden zugesehen und eine Runde nach der nächsten gewonnen, bis alle Münzen bei ihr lagen, und das, obwohl sie bei solchen Gelegenheiten zwar nichts trank, aber immer wieder ihre kleine Stummelpfeife mit zerstoßenem Haschisch stopfte, das sie in einem einzigen langen Zug verglühen ließ, um dann den Rauch angsteinflößend lange in der Lunge zu halten und ihn schließlich in kleinen Wölkchen abgehackt auszustoßen. Spätabends hatte Günther unbedingt noch eine Zigarre rauchen wollen, eine der kubanischen, die er von einer Fahrt nach Spanien mitgebracht hatte, und von denen er immer noch ein paar irgendwo versteckt hielt. Saya hatte protestiert, aber er war stur geblieben. Und am Ende hatten sie ihn wieder abholen müssen, vor meinen Augen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.

3.

Sylvia hat sich immer nur von mir abgewandt und den Kopf geschüttelt, wenn ich mal wieder von Günther nach Hause kam, immer mit einer Fahne, immer mit Rauch, der in der Jacke hängen geblieben war. Nicht, dass das so oft vorkam. Ein, zweimal im Jahr, wenn überhaupt. „Und – mal wieder im Gelsenkirchener Barock geschwelgt?“ - sowas in der Art sagte sie jedes Mal nach diesen Besuchen. Dabei hatte Günthers Wohnung wenig von der eichenlastigen Behäbigkeit, die sich in so vielen Arbeiterhaushalten im Ruhrgebiet fand; sie war - wahrscheinlich dank Saya - eher hell und nüchtern eingerichtet.

Mir war lange bewusst, dass es mit diesen Besuchen bald vorbei sein würde. Günthers einst mächtiger Körper wirkte wie von innen ausgehöhlt, die Haut spannte über seinem kahl gewordenen Schädel, die Augen waren eingesunken wie bei einem Lagerinsassen, nur dass sein Sibirien in ihm, in seiner Brust, in seiner von Steinstaub, Schweißfunken und Tabakrauch zerstörten Lunge lag. Er hat mir einmal ein Röntgenbild gezeigt und auf seine Weise wiedergegeben, was der Arzt ihm erklärt hatte: dass seine Lungenflügel nicht länger zwei Schwämmen glichen, durch deren unzählige Gänge der Sauerstoffs seinen Weg in den Körper fand, sondern eher zwei Luftballons, die verzweifelt versuchten, ihre Fläche durch immer weiteres Aufblasen zu vergrößern. Tatsächlich sahen die Lungenflügel auf dem Bild so aus, als drängten sie den Brustkorb auseinander, und die feinen Verästelungen, die mir ein Arzt gezeigt hatte, als ich verstehen wollte, warum sie mir damals an der Unfallstelle diesen Schlauch in den Brustkorb gerammt hatten, fehlten auf Günthers Bild fast völlig. Darum war das Zischen, mit dem das Sauerstoffgerät die Luft komprimierte, längst zu Günthers ständigem Begleiter geworden. Irgendwann brachten ihn selbst ein paar Schritte in der Wohnung an seine Grenzen. Trotzdem ging er weiter zum Rauchen auf den Balkon. „Da ist längst nichts mehr, was der Rauch noch kaputtmachen könnte“, oder: „Lasst mich doch, was bleibt mir denn sonst noch?“ Mit diesen Sätzen tat er jeden Versuch ab, ihn zum Aufhören zu bewegen. Und was sollte ich dazu sagen, wenn er so vor mir stand, und die kurzen Atemstöße in schneller Folge über seine blauen Lippen pfiffen? Er wusste noch viel besser als Saya und ich, dass er längst nicht mehr zu retten war. Deswegen war ihm Corona auch völlig egal. Wehe einer wagte es, ihm abzusagen, aus Angst ihn anzustecken. Er tat alles, um auch während der Pandemie weiter unter Menschen zu sein. Er freute sich, als die Kindertagesstätten zumachten, und sein Sohn Badrag keine andere Möglichkeit sah, als seine kleine Tochter jeden Morgen bei Saya und ihm abzugeben.

4.

Normalerweise, wenn Sylvia nach den Besuchen bei Günther stichelte, wich ich ihr aus. Aber nach diesem letzten Besuch – als ahnte ich es schon – ergriff ich noch einmal wie ganz früher seine Partei: „Günther hat immer zu mir gehalten, und jetzt, wo er todkrank ist, werde ich mich ganz sicher nicht von ihm abwenden“, sagte ich ihr. Ich spürte, dass sie das verletzte, aber auch, wie sie schnell zum Gegenschlag ausholte: „Soweit ich mich erinnern kann, hat er sich vor allem an dich gewandt, wenn er Geld brauchte.“ – „Das war genau einmal“, sagte ich, „und er hat es alles zurückgezahlt.“

Das Geld hatte er gebraucht, um die Trinkhalle in Buer zu übernehmen, als deren Inhaber er seine letzten Lebensjahre nach dem Überfall verbrachte. Dass ich es ihm leihen würde, war mir damals selbstverständlich erschienen. Immerhin hatte Günther mir einmal das Leben gerettet, und irgendwie fühlte ich mich auch immer noch mitschuldig, dass sie Günther bei dem Überfall so übel zugerichtet hatten, obwohl ich es wahrscheinlich gar nicht hätte verhindern können.

Als Günther mir damals das Leben rettete, hätte ich ihm eigentlich komplett egal sein können. Ich hatte ihn von mir gewiesen, wie alle anderen, denen ich damals im Krankenhaus begegnet war. Ich hielt mich fern, wenn er mit den anderen rauchen ging, und auch auf dem Dreibettzimmer, dass ich mir mit ihm und Kemal teilen musste, versuchte ich, den beiden aus dem Weg zu gehen. Ich verschanzte mich hinter meinem Rechner, und versuchte, den Kontakt zu meiner Arbeit, meinem früheren Leben, dem Leben vor dem Unfall, zu halten.

Direkt nach dem Unfall waren viele elektronische Genesungswünsche gekommen. Ein paar der Kollegen und Freunde hatten sich sogar die Mühe gemacht, echte Karten zu schreiben. Und von den CEOs Lennart und Lasse gab es gleich am Anfang Blumen, die natürlich nicht erlaubt waren, auf der Intensivstation. Sylvia musste sie mit nach Hause nehmen, wo sie sie auf den Esstisch stellte und fotografierte. Einen Abzug des Bildes hängte sie an die Wand vor meinem Bett, neben Fotos von Nina und ihr, und Bildern, die Nina für mich gemalt hatte, immer mit einer großen Sonne, die gefährliche Strahlen durch das ganze Bild sendete, und Vögeln, die aus zwei aneinander gereihten Halbkreisen bestanden. Durch den Morphinnebel in meinem Kopf hindurch konnte ich nur leer lächeln und „Schön“ sagen.

5.

Als es hieß, ich hätte doch nur ein Bein gebrochen, kamen schnell die ersten Anfragen aus dem Büro, wann denn wieder mit mir zu rechnen sei. Als ich Lennart dann ein Foto schickte, von dem Fleischhaufen im Metallgestell, der einmal mein rechtes Bein gewesen war, war fürs Erste Ruhe. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, schickte ich auch noch eine Liste der weiteren Verletzungen, die keiner Operation bedurft hatten: Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades, Rippenserienfraktur rechts, Hämato-Pneumothorax rechts, Lungenkontusion beidseits, Kniegelenksdistorsion links. Am liebsten hätte ich ihm auch noch die Bilder vom Unfallort selbst geschickt, von dem abgeflexten Dach des Audis, aus dem die Airbags herausquollen, von dem Motorblock, den sie von meinem Bein weghebeln mussten, und von dem absurden Stoffpuppen-Schlabberbein selbst, das von mir herunterhing; oder die von dem Schlauch, den sie mir zwischen den gebrochenen Rippen hindurch in die Brust rammten, damit ich nicht ersticke, wie sie mir dabei erklärten; aber ich dachte, wer weiß, vielleicht kann er kein Blut sehen. Ohnehin existierten diese Bilder nur in meinem Kopf – oder? Vielleicht hat tatsächlich jemand Fotos von meinem Unfall gemacht? Ich habe mich nie getraut, auf den einschlägigen Gaffer-Seiten nachzusehen.

Irgendwann war klar: das Bein muss ab. Erst war ich sogar ein bisschen erleichtert, als ich es hörte. Sobald die Wirkung der Opiate nachließ, fing es immer an höllisch zu pochen in diesem Ballon, aus dem die Metallstangen des Fixateurs nach allen Richtungen herausstanden, die Vorstellung, man könnte diesen Schmerz einfach abhacken, hatte etwas Verlockendes. Die prall gespannte Haut war an vielen Stellen aufgeplatzt. Heraus floß eine leuchtend grüne Brühe, die erbärmlich stank. „Pseudomonaden“, sagten sie mir bei der Visite, „da muss man noch nicht mal einen Abstrich machen, das sieht und riecht man.“ Sie ließen mir Antibiotikum um Antibiotikum in meine immer zerstocheneren Arme laufen. Ich sah aus wie der schlimmste Junkie. All die freundlichen Mitbewohner auf meiner Haut, in meinem Mund, in meinem Darm starben den C-Waffen-Tod. Ich bekam Ausschlag, weiße Pilzbeläge im Mund, Durchfall. Nur die Pseudomonaden in meinem Bein ließen sich nicht beeindrucken. Sie fraßen sich durch bis zum Knochen und weiter. Von Woche zu Woche, von Röntgenbild zu Röntgenbild ließen mich die Ärzte an der allmählichen Auflösung meines Beins teilhaben; sie zeigten mir, wie der weiße Knochen immer grauer wurde, und seine Ränder immer weiter ausfransten, wie immer weniger Masse die Röntgenstrahlen daran hinderte, die Fotoplatte unter meinem Bein zu schwärzen.

Sollte es doch weg, das Bein, dieser untreue Diener, der keiner meiner Aufforderungen mehr folgen wollte und mir nichts als Schmerzen bereitete.

Aber als sie dann kamen und mir das Flügelhemdchen brachten und mich fragten, ob ich mich selber rasieren wolle, da graute es mir doch und ich schüttelte nur stumm den Kopf. Ich bemühte mich noch nicht einmal um irgendeinen lockeren Spruch, sondern starrte nur auf den dichten schwarzen Schopf des Pflegers, der ganz gewissenhaft jedes Härchen rund um die herausragenden Metallpinne mit einem Einmal-Plastikrasierer köpfte.

Als sie mich in die OP-Vorzone schoben, musste ich mich ganz aufs Atmen konzentrieren, um nicht zu hyperventilieren. Als sie mich aufforderten, selbst auf die OP-Liege hinüber zu klettern, während einer von den Vermummten mein todgeweihtes Bein an seinem Metallgestänge in die Luft hielt, hätte ich ihnen am liebsten allen in ihre teilnahmslosen Maskengesichter geschlagen. Das war einfach nur ihr Job, mich hier endgültig für den Rest meines Lebens zum Krüppel zu machen. Nachher würde sie einer zur Mittagspause auslösen, und sie würden sich ihre Suppe vom Vortag warmmachen und Rezepte für ihre neuen Küchengeräte austauschen, und irgendwann würde ihre Schicht herum sein, und sie würden nach Hause zu ihren Familien gehen und vergessen, was sie heute getan hatten, während ich dableiben musste, Tag und Nacht, in dieser Vorhölle.

Dann war es zu spät, plötzlich kamen sie von allen Seiten und befestigten irgendetwas an mir, und der Anästhesist stellte nochmal die gleichen Fragen, die sie mir schon den ganzen Morgen immer wieder gestellt hatten, ob ich denn auch wirklich nichts gegessen hätte – als wäre einem an einem solchen Tag danach -, ob ich irgendwelche Allergien hätte, was denn genau operiert werden solle, und sie schauten noch einmal nach, ob auch ja das Filzstiftkreuz auf dem richtigen Bein war, und da fielen sie mir wieder ein, diese Geschichten von verwechselten Beinen, und ich stellte es mir vor, wie ich aufwachte, und mein gesundes Bein wäre weg, und das stinkende Schlabberbein wäre immer noch da. Da ging es auch schon los, der Anästhesist drückte mir eine Maske, die roch wie eine frisch ausgepackte Barbiepuppe meiner Tochter, fest ins Gesicht, und alles drehte sich.

Als ich aufwachte, sah ich sofort nach: ja, es war weg, das richtige, das tote Bein. Jedenfalls wölbte sich die Decke rechts nicht mehr wie in den vergangenen Wochen über dem Fixateur, sondern lag flach auf dem Laken. Erst neben meinem linken Knie wölbte sie sich wieder. Ja, ich war ein bisschen theatralisch, als ich geschrieben habe: das Bein; eigentlich waren es nur zwei Drittel des Unterschenkels, die fehlten. Seltsam war nur: in meinem Kopf waren sie noch da, der Unterschenkel, der Fuß, die Zehen, ich konnte mit ihnen wackeln, und spürte ganz deutlich wie sie sich bewegten; nur am Fußende, unter der Decke, da tat sich nichts. Mir wurde schlecht. Der Aufwachraumpfleger kam mit einer Nierenschale aus Pappe, die sofort überschwappte, als mir der klare Magensaft aus dem Mund schoss. Ich schob sie, so weit es ging, von mir weg. Dann schlief ich wieder ein.

6.

Die ersten Tage gingen noch. Wenigstens hat uns der liebe Gott den Mohn und die Kokapflanze, und manchen Menschen die wissenschaftliche Neugier geschenkt. Sonst wäre vielleicht nie jemand auf die Idee gekommen, Schmerzen mit Opioiden und Lokalanästhetika zu bekämpfen. Mit Hilfe der Krankengymnasten konnte ich sogar aufstehen. Und mein Bein fühlte sich so unendlich viel leichter an, ohne das Metallgestell und ohne das ganze faule Fleisch. Ich war euphorisch, wollte gleich alles wissen über Prothesen und Rehaprogramme und Autoumbauten. Ich sah mich schon bei den Paralympics antreten.

Aber irgendwann, nach fünf, sechs Tagen, nachdem sie mir diesen wunderbaren Schmerzkatheter aus der Kniekehle gezogen hatten, kamen sie, die Phantomschmerzen, von denen ich immer wieder hatte reden hören, über die ich mich vorab bereits im Netz informiert hatte, und von denen ich so sehr gehofft hatte, dass ich zu dem doch beachtlichen Prozentsatz gehören würde, die nie welche entwickelten.

Ich lag nachts wach in einem Dreibettzimmer, neben mir ein Dementer mit gebrochener Hüfte, der immer wieder um Hilfe schrie, und ein schnarchendes Walross; und plötzlich waren sie da: als wären die Eisenstäbe des Fixateurs glutrot zurückgekehrt, bohrten sie sich durch den nicht mehr vorhandenen Knochen. Ich klingelte, ließ mir ein Schmerzmittel bringen, und dann noch mehr, aber es half nichts, ich wurde nur immer benebelter, aber die Schmerzen hörten nicht auf. Ich starrte stundenlang auf das Nichts unter der Decke, versuchte meinem Hirn irgendwie klar zu machen, dass doch nichts wehtun konnte, wo nichts war. Meinem Hirn war das egal, es ließ das Bein weiter im Fegefeuer brennen, bis sich die nicht mehr vorhandenen Zehennägel in der Hitze kräuselten.

Morgens ging es dann auf einmal wieder. Ich konnte sogar aufstehen, wenn auch noch etwas wackliger als sonst. Bei der Visite erzählte ich den Ärzten davon; die schickten mir nochmal den Anästhesisten, und der ordnete Infusionen mit irgendeinem aus Lachsen gewonnenen Zeug an, und ich sollte Spiegeltherapie machen. Eine Ergotherapeutin erklärte mir, wie das ging und ich bekam einen Spiegel zum Üben zwischen die Beine, sodass es im Spiegel so aussah, als gebe es mein rechtes Bein noch. Nach der ersten Sitzung lief mir der Schweiß in Bächen; wenn ich die Augen schloss, tanzten herrenlose Füße durch mein Gesichtsfeld. Ob sich etwas an den Schmerzen änderte, konnte ich dagegen kaum sagen.

Mir graute vor der kommenden Nacht. Zurecht. Trotz oder gerade wegen der neuen Therapie – die Schmerzen wüteten erst recht, und der fehlende Fuß machte die seltsamsten Verrenkungen, setzte sich mal direkt an den Stumpf und wuchs dann wieder aus dem Bett heraus. Horrorshow. Und in den Betten neben mir immer noch „Hilfe, Hilfe!“ von der einen Seite, und von der anderen Atemaussetzer, so lang, dass ich immer wieder dachte, ich muss da jetzt rüber und das Walross vor dem Ersticken retten. Erst Günther hat mich später gelehrt, dass man noch lauter schnarchen und noch längere Atemaussetzer als das Walross haben kann, und trotzdem am nächsten Morgen gut gelaunt früh aufstehen kann.

7.

So ging das Tage, Wochen. Es ging zwar immer ein bisschen besser, wie alle um mich herum nicht müde wurden zu betonen, aber in mir wurde es immer schwärzer.

Der Stumpf heile gut, sagten sie. Sie schickten mir den Mann vom Sanitätshaus, der nahm Maß für die Prothese, die vorläufige zunächst, die ich drei, vier Monate tragen sollte, bis der Stumpf seine endgültige Form angenommen hätte. Endgültige Form – als gäbe es so etwas… Was für ein Glück ich hätte, sagte mir der junge Orthopädietechniker, der mir die verschiedenen Prothesenformen mit und ohne Vakuum erklärte, was für ein Glück, dass es ein Arbeitsunfall gewesen sei; die Berufsgenossenschaft, die sei viel großzügiger als die gesetzlichen Kassen. Ich konnte mich nicht mit ihm freuen.

8.

Schließlich durfte ich für ein paar Tage nach Hause, bevor die Reha losging. Sylvia holte mich ab. Ich hüpfte an meinen Krücken zur Beifahrertür, das klappte schon ganz gut. Bald würde die Interimsprothese kommen. Ich war völlig überwältigt von Bäumen und Straßen, Autos und Menschen, von der Aprilsonne, die das erste Grün hervorlockte; Franz Biberkopf, aus dem Gefängnis entlassen.

Auf den Stufen zu unserem Bungalow in Stiepel verlor ich das Gleichgewicht und Sylvia konnte mich gerade noch auffangen. Ich musste kurz mit den Tränen kämpfen. Das letzte Mal war ich aus dem Haus gekommen und diese Stufen hinabgeeilt, ohne ein Hindernis in ihnen zu sehen. Ich war spät dran gewesen für den Außentermin, hatte Nina noch geholfen ihr Sportzeug zusammenzusuchen, und hatte schon beim Rangieren aus der Garage angefangen die Verspätung aufzuholen. Da war es noch Januar, es war dunkel und nass gewesen, und die Büsche im Vorgarten noch kahl. Ich war dann nicht einfach zu spät gekommen, wie schon öfters mal - ich war nie angekommen.

Zwölf Wochen war das mittlerweile her. Die Azaleen blühten und dufteten, und es wurde Zeit, das Rasenstück vor dem Haus zu mähen. Nicht mehr mein Job, fürs Erste. Für mich war es schon Arbeit, überhaupt ins Haus zu kommen. Drinnen fiel mir sofort der Hocker auf, den Sylvia vorsorglich in die Diele gestellt haben musste. Sie hatte es sicher gut gemeint, und ich brauchte ihn tatsächlich, schon um mir die Jacke auszuziehen. Trotzdem hätte ich ihn am liebsten die Kellertreppe hinuntergeworfen.

Auf der unfallchirurgischen Station liefen, hoppelten, hinkten oder rollten sie alle ein bisschen wie ich, außer den Schwestern und Ärzten, natürlich, aber die waren eh nicht vom selben Stern. Aber hier in meinem Haus, sollte ich mich da nicht frei bewegen können, wie immer? Immerhin, ich hörte mit einem Schlag auf, es albern zu finden, dass wir in einem Bungalow wohnten, wie alte Leute. Es war Sylvia gewesen, die das Haus unbedingt den Bekannten ihrer Eltern hatte abkaufen wollen, für eine Summe, die ich eher für einen mehrgeschossigen Palast veranschlagt hätte. Sylvias Eltern schossen großzügig zu den Kaufnebenkosten dazu, Summen von denen meine Eltern nie hatten träumen können, obwohl sie beide ihr ganzes Leben gearbeitet hatten, während Sylvias Mutter für Kinder, Haus und Garten sorgte, nachdem sie ihren ehemaligen Chef geheiratet und ihm drei Töchter geboren hatte. Sylvias Vater war ein sehr erfolgreicher Anwalt im Baurecht. Wir konnten uns sicher sein, dass das Geschäft mit dessen Bekannten für uns vorteilhaft sein würde. Ja, das Haus war gut in Schuss, das Parkett erst zwei Jahre alt, die Bäder modern, die Gasheizung neu, das war schon in Ordnung für mich, auf Renovieren hatte ich keine Lust. Sylvia ist Richterin am Bochumer Amtsgericht, auf Lebenszeit. Zusammen mit dem Gehalt, das ich bei der Beratungsfirma verdiente, waren die Raten für die Bank kein Problem gewesen. Aber jetzt? Ich sah es kommen, dass wir uns nochmal an Sylvias Eltern würden wenden müssen. Sie würden gerne helfen, aber ich war bisher froh gewesen, sie aus unseren Angelegenheiten so weit wie möglich heraushalten zu können. Auch wenn sie es nie aussprachen, hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass sie in mir keine angemessene Partie für ihre älteste Tochter sahen, der einzigen, die nicht wie die beiden jüngeren ihren künstlerischen Neigungen gefolgt war, sondern ihr Jurastudium mit Auszeichnung bestanden hatte, weshalb auch kein anderer als der Richterberuf für sie in Frage gekommen wäre. Das waren meine ersten Gedanken, als ich die Gumminoppen meiner Krücken auf das Eichenparkett aufsetzte, und mich durch das Wohnzimmer zum Sofa hinüberschwang.

Kaum saß ich, kam wieder eine der Attacken, die mich seit jener Nacht, kaum eine Woche nach der Amputation, in unvorhersehbaren Abständen überfielen. Mittlerweile dauerten sie nicht mehr so lange, oft nur ein paar Sekunden, aber die reichten, damit sich Schweiß und Tränen im Augenwinkel vermischten. Als Sylvia mit meinen Koffern hinterherkam, hatte ich mir das Gesicht schon am T-Shirt abgewischt. Trotzdem sah ich, wie sie über meinen Anblick erschrak. Sie stellte die Koffer in der Mitte des Wohnzimmers ab, kam zu mir herüber, und legte den Arm um mich, wie sie es bei Nina tat, wenn Nina weinte, zum Beispiel weil sie ausnahmsweise keine Eins nach Hause gebracht hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es jemals eine Situation gegeben hatte, in der Sylvia mich hatte trösten müssen. Es fühlte sich fremd an, den Kopf auf ihrer Schulter abzulegen. Ich richtete mich wieder auf. „Komm“, sagte ich, „ich will gar nicht erst anfangen zu jammern, lass uns was essen.“ Und ich hüpfte hinüber zur Kücheninsel. „Lass mal, ich mach uns was“, sagte Sylvia. Aber ich blieb stur. Auf einen Barhocker gestützt bereitete ich einen Salat mit Roter Beete, Walnüssen, Honig und Schafskäse zu und dekantierte einen Bordeaux, während ich Sylvia nötigte, von ihrer Arbeit zu erzählen. Alle paar Minuten kam eine kleine Attacke, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Nach so vielen Wochen Krankenhausfraß war mein Gaumen von dem plötzlichen Reichtum an Aromen überfordert. Ich verschluckte mich gleich beim ersten Nippen an meinem Rotwein, und konnte nur mit Mühe verhindern, das gute Zeug einmal über den ganzen Tisch zu prusten. Ärgerlich schüttete ich darauf das ganze Glas in mich hinein und goss mir sofort nach. Sylvia beobachtete mich besorgt. „Denk dran, du bist nichts mehr gewöhnt“, sagte sie. Sie hatte natürlich Recht, aber ich trank stur weiter. Nach dem zweiten Glas schaffte es nur noch auf Sylvia gestützt ins Bett. Bald kamen die Attacken wieder, aber der Alkohol half, dem Feuerwerk, das in der Leere unterhalb des Stumpfs abbrannte, mit einer gewissen amüsierten Distanz zu folgen. Mittlerweile fühlte es sich meistens so an, als sei mein Geisterfuß direkt am Stumpf angewachsen.

Sylvia versuchte, sich mir im Bett zu nähern, aber ich wandte mich ab und wickelte mich in meine Bettdecke. Lange hielt ich es nicht aus in dieser Position. Schon das Gewicht der Bettdecke war zu viel auf dem Stumpf. Erst als ich ihn aus dem Bett hängen ließ, konnte ich eine Zeit lang schlafen. Als ich aufwachte, noch mitten in der Nacht, war mir, als zöge eine Ameisenstraße in Schleifen um den Stumpf. Ich betrachtete im Dunklen die Narbe.. „Sieht doch toll aus“, hatte mir der Chefarzt der Chirurgie gesagt, „sehen Sie nur, wie gut es heilt.“ Von mir aus, es war zumindest nicht mehr so eklig, es stank nichts mehr, aber dass das da unten zu mir gehören sollte, dieses wabbelige Kissen aus nutzlos gewordenem Muskel, in das sie den abgesägten Knochen eingebettet hatten, konnte ich trotzdem nicht glauben.

Von Querschnittsgelähmten hatte ich gehört, dass es bei ihnen eine Art Hierarchie gebe, je nachdem, auf welcher Höhe das Rückenmark durchtrennt worden war, und was ihnen damit an Restkontrolle über ihren Körper blieb. Unter den Amputierten, die ich mittlerweile kennengelernt hatte, konnte ich eine solche Hierarchie nicht erkennen; ob es sich nur um einen halben Finger handelte oder ob der Oberschenkel knapp unter dem Hüftgelenk amputiert worden war, berichteten alle das Gleiche: die Trauer um den Verlust des Sich-Ganz-Fühlens, die Scham gegenüber den unversehrten Mitmenschen, die quälenden Phantomsensationen, das Bohren, Stechen, Kribbeln, Brennen, Jucken und Pulsieren in den verletzten Nerven, …

9.

Je angenehmer Sylvia es mir in den folgenden Tagen machen wollte, desto mürrischer wurde ich. Ich rührte das Englische Frühstück, das sie mir am nächsten Morgen zubereitete, nicht an, sah nur mit wachsendem Widerwillen Nina zu, wie sie sich Würstchen um Würstchen in den Mund schob. Dabei hatte sie schon bei den Großeltern gefrühstückt, bevor die sie zu uns zurückgebracht hatten. Sylvia schlug vor, einen Ausflug in den Tierpark zu machen. Nina freute sich. Ich sagte, sie müssten das ohne mich machen. Nina fang an zu betteln, merkte aber schnell, dass ich es ernst meinte. Ihre verstohlenen Blicke auf meinen Stumpf ärgerten mich; ich brachte es kaum fertig, sie zu umarmen, nach so langer Zeit.

Ich war froh, als das Wochenende endlich vorbei war, Nina zur Schule musste, und Sylvia zur Arbeit. Ich blieb allein mit den beiden Katzen. Sie waren gerade die einzigen Wesen, die ich um mich ertragen konnte – vorausgesetzt sie striffen nicht ahnungslos an meinem Stumpf entlang. Dann schrie ich auf und scheuchte sie weg. Das Sofa, auf dem ich früher so gut wie nie gesessen hatte, wurde zu meinem Stammplatz, und der Fernseher, den ich früher so gut wie nie eingeschaltet hatte, lief jetzt fast immer. Solange Nina in die Betreuung ging, hatte ich bis kurz nach vier meine Ruhe. Und wenn sie kam, war sie erschöpft, und verschwand bald in ihrem Zimmer. Oft klingelte es kurze Zeit später, und ihre Freundin Viola holte sie zum Spielen ab. Ich war dankbar dafür, denn ich fühlte mich unfähig, mich mit Nina zu beschäftigen.

Am Donnerstag aber kam Nina direkt nach der Schule nach Hause. Sie wolle sich noch ausruhen vor dem Reiten, sagte sie. Das regte mich auf; ich fand, sie hätte sich auch eine ruhige Ecke in der Betreuung suchen oder wenigstens noch dort essen können. So aber sah ich mich genötigt, ihr Mittagessen zu machen. Ich fand eine Dose Bohnensuppe im Vorratsschrank und wärmte sie auf. Nina strich mit dem Löffel an den Bohnen auf dem Teller entlang und fischte die winzigen Fleisch- und Paprikastückchen heraus. Ich verlor die Geduld, sie weinte und stand auf, ich rief ihr hinterher, sie solle gefälligst ihren Teller abräumen, sie knallte die Tür zu ihrem Zimmer zu, ich schleppte mich zurück zum Sofa. Im Fernsehen liefen schon wieder die gleichen Nachrichten: der eskalierende Konflikt in der Ukraine, die von Boko Haram entführten Mädchen in Nigeria, Bomben im Irak, Drogenkrieg in Mexiko, Bouteflika als Präsident in Algerien zum tausendsten Mal wiedergewählt. Mir war schlecht, und ich wünschte mich an einen Ort weit weg, wo mich alle in Ruhe ließen.

Sylvia kam früher nach Hause als sonst. Ich erwiderte ihre Begrüßung, ohne vom Fernseher aufzusehen. Ich spürte ihre Blicke auf mir, während sie wortlos den Teller mit den angetrockneten Bohnen wegräumte. Notgedrungen musste ich verfolgen, wie sie Nina beim Packen ihrer Reitsachen beaufsichtigte. Die offene Architektur unseres Bungalows war mir mit einem Mal zuwider, ich wollte Wände, einen abschließbaren, schalldichten Raum, in den ich mich zurückziehen konnte.

Am Freitag rief mein alter Schulfreund Michael an, genau zu der Zeit, zu der wir uns vor dem Unfall immer zum Radfahren verabredet hatten. Es war wahrscheinlich keine Absicht, es war einfach die Zeit, wenn er von der Arbeit kam. Ich hätte mich freuen sollen, dass er an mich denkt. Stattdessen antwortete ich ihm nur mürrisch und einsilbig, und als er mich fragte, ob wir lieber wann anders telefonieren sollten, sagte ich ja und legte auf. Das war unser letztes Gespräch.

Am Samstag kamen unsere Nachbarn zu Besuch, mit ihrer Tocher Viola und deren älteren Bruder Jannis. Wir saßen draußen im Garten in der Frühlingssonne, das Sonnenlicht blendete mich, die unbeholfene Art, in der Sylvia Steaks grillte, regte mich auf, das Geschrei der Kinder auf dem Trampolin ertrug ich kaum. Und dann die Blicke: das Mitgefühl in den Augen der Erwachsenen, die Neugier in den Augen der Kinder, alles war mir unangenehm. Sylvia zuliebe riss ich mich zusammen, bis sie das Essen abgeräumt hatte. Ich beobachtete den Grünspecht, der es trotz des Kinderlärms auf dem Trampolin gewagt hatte, im hinteren Teil des Gartens nach Nahrung zu suchen. Ich behielt auch die Katzen im Blick, die das Treiben auf der Terrasse in sicherem Abstand von der Mauer aus beobachteten. Sie schienen den Specht nicht bemerkt zu haben, aber sicher konnte man sich nie sein, dass nicht eine von beiden plötzlich losschoss, um den Vogel zu erlegen. Als der Specht fortgeflogen war, verabschiedete ich mich und legte mich ins Bett. Mittlerweile konnte ich kaum noch erwarten, dass es Montag würde, und ich zurück in die Klinik musste.



10.

Mir kam es vor, als seien wir alle drei erleichtert, sogar Nina, als das Taxi vorfuhr, das mich zur Reha bringen sollte. Sylvia hatte einen wichtigen Verhandlungstermin und konnte mich nicht selber fahren. Es war immer noch schwierig sich zu umarmen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Ich streichelte Nina über den Kopf und bat sie, gut auf ihre Mama aufzupassen. Sie sah mich mit großen Augen an und sagte gar nichts. Sylvia und ich küssten uns flüchtig auf den Mund. Wir hatten verabredet, dass sie mich am kommenden Wochenende gemeinsam besuchen würden.

Der Taxifahrer sprach nur wenig Deutsch, aber wenn ich ihn richtig verstand, hatte er einen Bruder, der in Syrien ein Bein verloren hatte. Viel Schmerzen, auf jeden Fall. Ich nickte verständnisvoll und dachte gleichzeitig: ja, ja, es gibt immer welche, denen es noch schlechter geht, aber das macht nichts besser, also lass mich mit deinen Geschichten in Ruhe!

Auf der Reha-Station teilte ich das Zimmer mit einem Elektriker, den ein Stromschlag von der Leiter gefegt hatte. Er zeigte mir die beiden Brandnarben an der Hand und am Fuß, wo der Strom durch ihn hindurchgegangen war. Sein Hauptproblem waren aber die Wirbel, die er sich damals gebrochen hatte. Er quälte sich mit heftigen Rückenschmerzen, obwohl das Ganze schon zwei Jahre her war. Er ließ aber auch durchscheinen, dass ihm die Rente, die ihm die Berufsgenossenschaft zahlte, weil er nicht mehr so hart arbeiten konnte wie vor dem Unfall, zu gering erschien. Bei den Visiten spielte er immer den verzweifelt Leidenden, hinterher machte er sich über die Ärzte lustig. Ich ging ihm, so gut es ging, aus dem Weg, und bald ließ er mich in Ruhe.

Es ging nicht so voran wie gedacht in der Reha. Ich mühte mich mit den Anweisungen der Therapeuten ab, versuchte die Schmerzen zu ignorieren, schwitzte wie noch nie in meinem Leben, und das bei den leichtesten Übungen. Vor dem Unfall waren Tagestouren von hundertfünfzig Kilometern mit dem Rennrad kein Problem für mich gewesen, jetzt war ich am Ende, wenn ich zweimal eine halbe Etage am Treppengeländer entlanggehüpft war. Auch die Ärzte waren nicht zufrieden. Sie schrieben mir immer mehr Schmerzmittel auf, die alle nicht halfen. Stattdessen bekam ich Magenschmerzen, und mir war ständig schwindlig.

Am Freitag, einen Tag bevor Sylvia und Nina mich besuchen wollten, beorderte mich Dr. Altmann, der Oberarzt, der im Kontrast zu seinem Namen ein ziemliches Jungen-Gesicht hatte, ins Untersuchungszimmer und teilte mir nach etwas Geplänkel mit, dass das so mit der Reha keinen Zweck habe, dass sie ein Bett für mich auf der Schmerzstation organisieren wollten, damit man mich erst einmal vernünftig „einstellte“, und dann könne ich ja zurückkommen. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, so sehr schämte ich mich. Was war bloß los mit mir? Ich war doch einer, der sich immer anstrengte, der nie jammerte. Und doch: in den wenigen Tagen auf der Station hatte ich andere Amputierte gesehen, die deutlich besser als ich zurechtzukommen schienen. Ich war also nicht nur verstümmelt, sondern unter den Verstümmelten auch noch: ein schwieriger Fall.



11.

Sylvia und Nina besuchten mich. Die Sonne war schon so warm, dass sie vor dem Patientencafé die Sonnenschirme aufgespannt hatten. Nina freute sich über ihr Stück Himbeertorte, aber Sylvia und ich starrten in unsere Kaffeebecher und wussten nicht, wo wir anfangen sollten. Sylvia spürte, dass ich nicht nach meinen Therapiefortschritten gefragt werden wollte. Sie erzählte von einem Kollegen, den ich nur flüchtig kannte, dass der dabei sei, sich von seiner Frau zu trennen, und dass der sich anbahnende Rosenkrieg ständig Thema auf den Fluren des Gerichts sei. Ich konnte mein Desinteresse nicht verbergen. Als Nina mit ihrer Himbeertorte fertig war, wollte sie unbedingt meinen künstlichen Fuß sehen. Sie war enttäuscht, dass ich damit nicht cyborgmäßig mit den Zehen wackeln konnte. Ich erklärte ihr, dass das nur die vorläufige Prothese sei, dass ich bald eine viel coolere bekäme, wenn das Bein erst ganz verheilt sei. Ein kühler Wind kam auf, den Sylvia zum Anlass nahm, sich zu verabschieden. Erst da erzählte ich, dass ich die Reha abbrechen müsse und zunächst auf der Schmerzstation behandelt würde. Ich sah, wie Sylvia erst ihre Stirn runzelte, bevor sie ein mitleidiges Gesicht machte und mir über die Wange strich. „Du machst schon ganz schön was durch, Karl“, sagte sie. Ich senkte den Blick. Ich konnte es kaum erwarten, wieder allein zu sein. Obwohl ich mir Mühe gab, das nicht zu zeigen, spürte ich doch die Unsicherheit sowohl in Sylvias Wangenkuss als auch in Ninas Umarmung. Ich winkte ihnen noch nach, bis sie im Parkhaus verschwunden waren. Ich spürte den Boden unter meinem verbliebenen Fuß wanken und musste mich an einem der Sonnenschirme festhalten, um nicht umzufallen.

12.

Die Schmerzärztin Frau Leiser wollte es alles noch einmal genau wissen, wie das war mit meinem Phantom, wann es sich - und wie - das erste Mal gemeldet habe, was schon alles unternommen worden sei, um seiner Herr zu werden. Ich war überhaupt nicht bei der Sache, bat sie ständig, ihre Fragen zu wiederholen, sah aus dem großen Fenster hinaus in den Frühlingshimmel, und vergaß immer wieder mitten im Satz, was ich sagen wollte. Noch dazu klebte meine Zunge am Gaumen, obwohl ich mir sicher war, genug getrunken zu haben. Ich spürte, wie die Ärztin mich immer befremdeter über ihre randlose Brille hinweg anschaute. Erst allmählich verstand ich, dass das wohl mit dem neuen Medikament –Amitriptylin - zu tun hatte, dass sie mir tags zuvor noch auf der Rehastation angeordnet hatten. Ich erwähnte es, und da wurde sie plötzlich wieder freundlicher.

Später holte mich die Psychologin in ihr Zimmer. Es hatte kein Fenster, durch das man hätte hinausschauen können. Das machte es noch viel schwieriger, nicht die ganze Zeit die Psychologin anzustarren. Sie hieß Frau Kayser, mit y, und ich dachte, wie lustig Frau Leiser und Frau Kayser, die sollen’s jetzt richten, die „schwierigen Fälle“. Frau Kayser schien aus einer anderen, helleren Welt zu diesem Elendsort herabgestiegen zu sein. Statt wie alle anderen im weißen Kittel oder Kasack saß sie mir in einem dunklen geblümten Kleid gegenüber. Ihre Haare waren nicht, wie sonst im Krankenhaus üblich, kurz geschnitten oder hinter dem Kopf zusammengebunden, sondern fielen glatt auf ihre geraden Schultern, die frei von der unsichtbaren Last schienen, die so viele der im Krankenhaus Arbeitenden in eine leicht vornübergebeugte Haltung drückte. Sie sah mich an, wenn sie mich etwas fragte, und ich konnte kein Misstrauen in ihrem Blick erkennen, nur ein echtes Interesse an meinen Antworten. Ich fragte mich, ob sie diesen Blick in ihrer Ausbildung gelernt hatte, oder ob es sie in diesen Beruf gezogen hatte, weil sie sich wirklich für das interessierte, was Patienten ihr erzählten. Leider wollte sie Dinge wissen, von denen ich fand, dass sie hier niemanden etwas angingen. Was hatten denn meine Ehe, meine Tochter, meine Eltern, mein Beruf mit meinen Schmerzen zu tun? Und dann fragte sie mich auch noch, ob ich jemals daran gedacht hätte, mir etwas anzutun. Hatte ich nicht, jedenfalls nicht ernsthaft, aber als sie so fragte, erschien mir die Vorstellung - einfach den Lichtschalter auszuknipsen - plötzlich unheimlich attraktiv. Das behielt ich aber lieber für mich.

Abends, als sie alle endlich fertig mit mir waren, der Stationspfleger, die Ärztin, die Psychologin, der Physiotherapeut, die Ergotherapeutin, da war die Idee vom Schlussmachen schon riesengroß in meinem Kopf. Sollten sie ihren ganzen therapeutischen Scheiß doch ohne mich machen. Ich trat hinaus auf den Balkon. Die Schmerzstation lag im fünften Stock. Ich sah hinunter. Unter mir lag eine Baustelle. Zwei Bagger hatten den gelben Lehm unter der Grasnarbe zum Vorschein gebracht. In den Fahrspuren stand trübes Regenwasser. Am Rand der Baugrube hatten sie Schotter abgeladen. Wenn ich nicht gerade darauf landete, würde der aufgeweichte Boden zumindest dafür sorgen, dass es beim Aufprall nicht allzu sehr spritzte. Die Sonne war schon untergegangen, aber ihr roter Widerschein hing noch über den Hausdächern auf der anderen Straßenseite. Am besten jetzt gleich, dachte ich, gar nicht erst lange darüber nachdenken; wenn sie erst einmal merkten, wie es in mir aussah, würden sie mich wahrscheinlich in die „Geschlossene“ bringen und mich so mit Beruhigungsmitteln vollpumpen, dass ich zu gar nichts mehr in der Lage sein würde, oder am besten gleich lobotomieren, wie Jack Nicholson damals, in „Einer flog übers Kuckucksnest“. Dann hätte ich auch noch jemanden finden müssen, der mir das Kissen ins Gesicht drückt. Fünfter Stock, das müsste doch wohl reichen, dachte ich. Am besten kopfüber. Ich stellte die Krücken neben mir ab und lehnte mich immer weiter über das Geländer, spürte wie mein Körperschwerpunkt mitwanderte – und schreckte dann doch zurück. Ich atmete viel zu schnell, mein Herz trommelte von innen gegen meine Rippen, und ich klammerte mich an das Geländer und starrte auf meine abblassenden Knöchel. Langsam, Karl, langsam, dachte ich, so ein letzter Schritt, der will überlegt sein. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, hüpfte ich zu meinem Bett hinüber, streckte mich angezogen darauf aus und begann zu überlegen, was alles noch geklärt werden musste, bevor ich mich einigermaßen guten Gewissens aus dem Leben verabschieden konnte. Natürlich galt meine Hauptsorge Sylvia und Nina. Sylvia verdiente zwar mehr als ich, aber ob das reichen würde, um das Haus abzubezahlen? Ich war mir nicht sicher, was im Falle eines Selbstmords aus meiner Lebensversicherung würde. Natürlich waren da auch noch Sylvias Eltern im Hintergrund, aber denen wollte ich den Triumph nicht gönnen, einspringen zu müssen.

Meine beiden neuen Zimmergenossen Kemal und Günther kamen aus dem Bewegungsbad zurück, die Haare noch feucht, und mit Handtüchern um den Hals. Kemal trug ein knappes T-Shirt über seinem durchtrainierten Oberkörper, der einen neidisch machen konnte; aber er lief dabei breitbeinig und unsicher wie ein Kind mit voller Windel. Das war wegen der Nerven an seinen Fußsohlen, wie ich bald erfuhr, die hatte der Dunst zerstört, den er als Lackierer zu viele Jahre ohne anständige Schutzausrüstung eingeatmet hatte. Jetzt zahlte ihm die Berufsgenossenschaft den Aufenthalt hier, damit etwas gegen das Brennen in seinen Füßen unternommen würde. Günther hatte seinen mächtigen Leib in einen Trainingsanzug aus Ballonseide gehüllt, wie ich ihn seit den Neunzigerjahren nicht mehr gesehen hatte. Damals war sein Haar noch voll und braun und er trug es halblang und nach hinten gegelt. Seine linke Hand hielt er leicht vom Körper abgespreizt. Sie ragte seltsam verkrümmt und bläulich verfärbt aus dem Ärmel heraus, und war offenbar der Grund, warum er auf der Schmerzstation gelandet war. Die beiden begrüßten mich freundlich. Ich dagegen tat, als hätten sie mich geweckt, und als ob ich weiterschlafen wolle. Dabei lag mir nichts ferner. Seit ich mich ausgestreckt hatte, arbeitete es wieder in meinem Stumpf, und darunter, im Nichts, kroch es wie Kugelblitze auf der Bettdecke herum.

Wie schon in der Reha-Abteilung war ich umringt von Malochern, die es irgendwann einmal erwischt hatte. Günther, zum Beispiel, hatte versucht, eine herunterkippende Palette von der Ladefläche seines LKWs aufzufangen, und die Palette hatte ihm die Hand so eingequetscht, dass kaum ein Knochen heil blieb. In der Folge hatte sich auch noch ein sogenannter Morbus Sudeck entwickelt, ein Krankheitsbild, das mich an die „Verdorrte Hand“ erinnerte, die Jesus laut dem Markus-Evangelium geheilt haben soll, und vor der ich mich schon als Kind im Kindergottesdienst gegruselt hatte. Andere waren von Gerüsten gestürzt, von Gabelstaplern angefahren worden, oder waren in Pressen, Sägen oder Messer geraten. Viele dieser Geschichten kamen mir bekannt vor. Es war die Sorte Schauergeschichten, die mein Vater am liebsten von der Arbeit erzählt hatte, weil meine Schwester und ich dann an seinen Lippen hingen. Damals, als er noch selbst zuhören und erzählen konnte. Dabei ist ihm selbst nie etwas passiert in 43 Jahren bei Thyssen Krupp. Ich frage mich, ob es diese Unfallgeschichten waren, die meine Schwester dazu bewogen, Medizin zu studieren. Es kamen jedenfalls immer auch Notärzte in diesen Geschichten vor, die den Verunfallten auf nahezu magische Weise ihre Schmerzen nehmen konnten.

Am wenigsten Glück hatten diejenigen Patienten auf der Schmerzstation, deren Unfälle nicht bei der Arbeit oder auf dem Weg dorthin passiert waren, oder die einfach so, ohne vorher einen Unfall gehabt zu haben, dauernde Schmerzen entwickelt hatten, und die seitdem viel Zeit damit verbrachten, ihre Krankenkassen um weitere Maßnahmen anzubetteln. Mir fiel außerdem auf, dass niemand auf der Schmerzstation dem Milieu entstammte, in das ich spätestens durch die Heirat mit Sylvia aufgestiegen war, keiner hatte studiert oder mit reiner Kopfarbeit sein Geld verdient. Darin hatte ich ihnen allen schon wieder etwas voraus, wie schon vor dem Unfall: ich hatte den halben Unterschenkel verloren, aber nicht mein Kapital auf dem Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: in Zukunft würde ich auch noch als Behinderter eine bevorzugte Behandlung geltend machen können. Gut, ich war kein französischer Staatsangestellter, der hoffen konnte, an die Cote d’Azur versetzt zu werden, wie in dem Film „Bienvenu chez les Ch’tis“, aber auf das ein oder andere Privileg würde ich bestehen können. Den anderen dagegen, vor allem den Ungelernten, von denen es mehr gab, als ich gedacht hatte, würde nicht viel bleiben in der Welt da draußen, die schon vorher nicht auf sie gewartet hatte. Trotzdem schienen fast alle leichter an ihrem Schicksal zu tragen als ich. Sie schoben einander in Rollstühlen zum Rauchen vor den Haupteingang, sie stachelten sich gegenseitig mit derben Sprüchen an wie alte Arbeitskollegen, und redeten wie am Stammtisch über Fußball, Politik, Urlaube. Ich dagegen wankte auf meiner Interimsprothese zwischen den Therapieräumen herum wie ein krankes Tier. Alle schienen zu wissen, wer ich war, obwohl ich höchstens mit Kemal und Günther ein paar unvermeidbare Worte wechselte. Anfangs fragten mich die beiden immer noch, ob ich mit nach draußen käme, aber bald gaben sie es auf. Danach hoben sie nur noch grüßend die Hände, jedes Mal wenn ich an ihrem Rauchergrüppchen vorbei durch den Haupteingang ging. Ich rang mir höchstens ein Kopfnicken in ihre Richtung ab. Ich hasste insgeheim jeden, der mir freundlich zulächelte.

13.

Die folgende Woche nutzte ich, auf die Anonymität meiner Daten vertrauend, um meinen Sprung vorzubereiten. Ich suchte nach Vorkehrungen, die Sylvia und Nina finanziell gut dastehen lassen würden, ich versicherte mich, dass mein Sturz aus dem 5. Stock auf jeden Fall tödlich sein würde, ich verfasste ein Abschieds- Dokument an Sylvia und einen handgeschriebenen Brief an Nina, den sie erst zu lesen bekommen sollte, wenn sie älter war. Ich war mir noch unsicher, auf welchem Wege ich mich von meinen Eltern und meiner Schwester verabschieden sollte. Mein Vater war schon fast blind, meine Mutter musste ihm alles vorlesen, aber das meiste verstand er trotzdem nicht, weil er auch sehr schlecht hörte. Ich musste lachen bei dem Gedanken, wie meine Mutter ihm meine Abschiedsnachricht ins Ohr brüllen müsste, und wie er trotzdem immer wieder nachfragen würde: „Wer ist tot?“ Wenn niemand ihn störte, verbrachte er seinen Ruhestand vor dem viel zu laut gestellten Fernseher, ohne ersichtlichen Anteil am Geschehen auf dem Bildschirm zu nehmen. Meine Mutter verkroch sich meistens vor dem Lärm in die Küche oder ins Schlafzimmer, kochte Essen, von dem sie nur wenig und mein Vater fast gar nichts aß, bestickte Tischdecken und Servietten, die dann ungenutzt in den Schrank wanderten, oder löste Sudokus so schnell, dass sie wahrscheinlich in irgendeiner Show damit hätte auftreten können. Wie die beiden wirklich auf einen Abschiedsbrief reagieren würden, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Wenn wir zu Besuch dort gewesen waren, hatte sich meine Mutter immer gleich auf Nina gestürzt, was der schon als ganz kleines Kind schnell zu viel wurde. Sylvia war oft gar nicht erst mitgekommen. Ich hatte dann bei meinem Vater gesessen, der ab und zu nickte und „Karl, Karl“ sagte. Dabei waren sie gute Eltern gewesen, was heißt: sie waren mit allem Blödsinn, den ich in meiner Jugend angestellt hatte, gelassen umgegangen. Erst als ich angefangen hatte zu studieren, hatten wir uns immer weniger zu sagen gehabt; die Welt in die ich in Köln eingetaucht war, blieb ihnen fremd. Warum ich, wenn ich schon studierte, mir nicht etwas Ordentliches ausgesucht hätte, wollte mein Vater einmal wissen. Er hätte noch ergänzen können: wie meine Schwester. Die war mittlerweile Ärztin, arbeitete Teilzeit im Krankenhaus, hatte drei Kinder und einen Mann, der auch Arzt war. Alles richtig gemacht, also. Meine Schwester und ich waren uns nie besonders nahe gewesen, aber seit sie mir immer als leuchtendes Beispiel präsentiert wurde, hatten wir uns erst recht nichts mehr zu sagen. Da sie mittlerweile in der Nähe von Stuttgart lebte und höchstens noch über Weihnachten ins Ruhrgebiet kam, liefen wir uns auch nicht zufällig über den Weg. Immerhin, nach meinem Unfall hatte sie sich mehrfach bei Sylvia erkundigt und auch ihren ärztlichen Rat angeboten. So wäre es wohl an mir gewesen, mich zu melden. Irgendeine letzte Geste hätte ich auch gerne an sie gerichtet, schon aus Anstandsgründen. Aber mir fiel nichts ein, was ich ihr schreiben wollte.

13.

Seltsam war, dass ich mich dabei von Tag zu Tag besser fühlte. Ich war mir nicht sicher, ob das an meinem Entschluss lag, mich umzubringen, oder ob es die Medikamente waren, die langsam zu greifen anfingen, oder ob es das ungeheuchelt erscheinende Interesse an meinem Wohlergehen war, dass mir von mehreren Seiten entgegengebracht wurde, von der fast mütterlichen Stationsärztin, von dem strengen aber gutmütigen Krankengymnasten, von der geduldigen Ergotherapeutin mit ihren Spiegeln und anderen eigenartigen Hilfsmitteln, von der mit freundlicher Bestimmtheit alle meine Ausflüchte entlarvenden Psychologin; sie alle schienen sich ernsthafte Gedanken darüber zu machen wie mir am besten zu helfen sei, und offenbar sprachen sie sich auch noch untereinander ab; jedenfalls deckten sich ihre Aussagen oft auf verblüffende Weise. Wie dem auch sei, die Attacken ließen in ihrer Heftigkeit nach, ich schlief besser, und die Menschen um mich her regten mich nicht mehr so auf.

Trotzdem blieb ich bei meinem Entschluss, mein abgehacktes Leben lieber gleich ganz zu beenden. Ich hatte mich mit mir selbst auf den dritten Mai geeinigt. Das wäre auf den Tag genau neun Jahre, nach dem mir mein Magister artium der Geschichts- und Kulturwissenschaften – Schwerpunkt Medievalistik - verliehen worden war, dieser krönende Abschluss wilder Jahre, der mich ins Nirgends entlassen hatte. Alle die Verlags- und Zeitschriftenpraktika hatten damals nicht dazu geführt, dass mir in der Medienhauptstadt Köln irgendein Job angeboten wurde. Ich kellnerte deswegen einfach weiter im „Thunder“, wie schon das ganze Studium hindurch, nur jetzt auf Lohnsteuerkarte. Ohne Bafög war das Geld knapper denn je. Sylvia studierte immer noch und bekam Geld von ihren Eltern. Aber davon wollte ich nichts ab.

Über ein Jahr und achtzig Bewerbungen später wurde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Bei einer Beratungsfirma für Kulturinstitutionen, die in Zeiten immer knapperer staatlicher Subventionen vermehrt die Nähe zu privaten Investoren suchten. Es war eher eine von den vielen Verlegenheitsbewerbungen gewesen, die ich verschickt hatte, damit ich am Ende sagen konnte, dass ich alles versucht hatte. Dass dieses Ende kommen würde, dass ich es zu keiner anständigen Erwerbsbiografie bringen würde, mich den Rest meines Lebens im Geringqualifizierten-Sektor herumtreiben würde, und schließlich nur noch auf das Erbe meiner rechtschaffen arbeitenden Eltern hoffen konnte, schien mir da schon sicher. Ich hatte auch schon angefangen, mir das Ganze als Bohemien-Schicksal schönzureden. Wenigstens würde ich so immer genug Zeit zum Schreiben haben, sagte ich mir.

Ich erzählte Sylvia von der Einladung, und sie war sofort begeistert, auch, weil die Firma in ihrer Heimatstadt Bochum saß, und sie schon länger mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, nach dem Studium dorthin zurückzukehren. Mir selbst, der ich ebenfalls im Ruhrgebiet, allerdings im benachbarten Witten, aufgewachsen war, missfiel die Vorstellung, das lustige Großstadtleben, das ich während meines Studiums genossen hatte, wieder gegen die postindustrielle Schwerfälligkeit einzutauschen, die ich mit dem Leben entlang der Ruhr verband, auch wenn wir uns dann endlich eine größere Wohnung leisten konnten und auf großelterliche Unterstützung hoffen durften, sobald es ums Kindergroßziehen gehen würde. Sogar der Karneval war mir über die Jahre ans Herz gewachsen. Weniger die Umzüge und Sitzungen, dafür umso mehr die Anarchie des Kneipenkarnevals – selbst, wenn ich mir in einer der irren Nächte die Finger an den Kölschhähnen im „Thunder“ hatte wundzapfen müssen, am Ende hatte sich immer gelohnt. Ich versuchte Sylvia zu vermitteln, wie gering meine Chancen waren, und wie wenig Lust ich auf einen solchen Job hatte. Aber sie ließ sofort alle Prüfungsvorbereitungen liegen, schob mich aus unserer geliebten kleinen Wohnung im 8.Stock eines Hochhauses am Kölner Stadtrand, und ehe ich mich versah, saßen wir in der Straßenbahn Richtung Innenstadt, um mir einen Anzug fürs Bewerbungsgespräch zu kaufen. Sylvia fachsimpelte ausgiebig mit der Verkäuferin und erzählte ihr von meinem Bewerbungsgespräch, während ich immer wieder belämmert in irgendwelchen schlecht sitzenden Anzügen vor dem Spiegel stand. Irgendwann hatten die beiden doch noch die passenden Teile für mich gefunden, und ich war selbst erstaunt über den Unterschied: plötzlich sah man nichts mehr von meinen leicht hängenden Schultern, von den etwas zu langen Armen, von meinem kleinen Schmerbauch, den ich mir während des Schreibens der Magisterarbeit angefuttert hatte. Ich hätte für eine Modezeitschrift posieren können.

Das änderte sich erst wieder, als ich einige Tage später in besagtem Anzug das Büro der Beratungsfirma in einem der wenigen, weithin sichtbaren Hochhäuser unweit des Bochumer Hauptbahnhofs betrat. Die Szenerie, auf die ich dort traf, hätte ich eher in Köln erwartet als im behäbigen Bochum: da saßen zwei Jungs, ungefähr in meinem Alter, Lennart und Lasse, wie sie sich vorstellten, hingefläzt auf bunten Sitzsäcken, von denen sie mir auch einen anboten. Sie waren zwar wahrscheinlich teuer, aber völlig informell gekleidet, ganz anders, als sie sich auf den Fotos im Netz präsentiert hatten. Ich kam mir albern vor, als ich in meinem dunklen Anzug in den Sitzsack einsank, bis meine Knie fast an den Ohren angekommen waren. Ich sollte von mir erzählen, aber bald schon unterbrach mich Lasse und fing an, ihre noch junge Firma zu preisen; Lennart stimmte ein, und die beiden gaben sich gegenseitig die Stichworte für ihr Eigenlob, während ich interessiert tat. Sie kamen auch auf meinen Anzug zu sprechen, und dass es wichtig sei, in bestimmten Situationen seriös aufzutreten, und dass es durchaus Termine gebe, zu denen auch sie im Anzug erschienen, dass ihnen aber innerhalb der Firmenräumlichkeiten ein familiärer Umgang wichtig sei, um den kreativen Prozess am Laufen zu halten, usw., das übliche Geschwafel. Geschmack hatten sie dabei, das musste ich ihnen lassen. Durch die bodentiefen Fenster kam viel Licht, das auf wenig Widerstände in seinem Weg durch den Raum traf; der Dielenfußboden, die geschwungenen Designerlampen, Sofas, Sitzkissen, Stehpulte, höhenverstellbaren Schreibtische, die offene Teeküche, die Schalen mit frischem Obst auf niedrigen Tischen, die überall verfügbaren Steckdosen, alles lud dazu ein, sich seine Ecke zu suchen und gleich loszulegen mit dem kreativen Arbeiten. Während unseres Gesprächs kamen mehrfach freundliche, gut gekleidete junge Menschen vorbei und grüßten mich wie einen der ihren. Ich kam mir vor wie in einem Werbeclip. Aber bei aller Skepsis färbte doch etwas von dem Optimismus dieses Ortes auf mich ab.

Zu meinem großen Erstaunen bekam ich die Stelle. Mit geliehenem Geld, aber in dem sicheren Wissen es bald zurückzahlen zu können, lud ich Sylvia mehrmals in schicke Restaurants ein und ging sogar mit ihr einkaufen. Und noch vor meinem ersten Arbeitstag war Sylvia schwanger, unsere winzige Wohnung hatte einen Nachmieter, und wir selbst hatten einen Mietvertrag für eine großzügige Drei-Zimmer-Altbauwohnung in der Nähe des Bochumer Schauspielhauses unterschrieben, für nahezu die gleiche Miete wie vorher in Köln.

Zunächst sah es so aus, als hätten Lennart und Lasse nicht zu viel versprochen. Allen schien es wichtig zu sein, dass ich gut eingearbeitet würde, ich konnte jeden jederzeit fragen. Unheimlich war nur, dass alle immer erreichbar erschienen, egal, ob sie im Büro saßen, oder zu Außenterminen fuhren, oder – wie manche mit Kindern – von zuhause aus arbeiteten. Ich gewöhnte mich jedoch schnell daran, dass auch ich, noch während meine Hand auf Sylvias schwangerem Bauch ruhte, oder ich mit alten Schulfreunden, die in der Region geblieben waren, in der Kneipe saß, E-Mails beantwortete, oder nachts noch schnell einen Bericht zuhause fertig schrieb. Es war mein erster richtiger Job, er machte Spaß, ich wollte gute Arbeit abliefern und gelobt werden; alles war anders als beim Kellnern im „Thunder“; ich schaute nie nach der Uhr und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben erwachsen.

Dann kamen die Außentermine hinzu. Ich durfte bei den „Großen“ mitspielen. Ich bekam einen Dienstwagen, anfangs nur einen kleinen Japaner, immerhin schon ein Hybridmodell - man wollte sich ja grün präsentieren - später, als auch deutsche Edelmarken mit Hybriden nachzogen, und ich die ersten größeren Aufträge akquiriert hatte, wurde es luxuriöser. Autos waren bis dahin für mich nur ein manchmal notwendiges Übel gewesen, über das ich so wenig wie möglich nachdachte, aber spätestens als ich das erste Mal in meiner neuen Limousine saß, entwickelte ich Spaß daran, die Strecken zwischen den Terminen in immer kürzerer Zeit zu schaffen. Ich fühlte mich absolut sicher in diesem Panzer mit seinen Assistenzsystemen, das Ganze hatte mehr etwas von einem Videospiel als von notwendiger Fortbewegung.

Bis zu jenem Tag Anfang Januar, nach fast acht Jahren, die ich größtenteils im Außendienst verbracht hatte: es war nass auf der A42, ich gab gleich hinter einer Baustelle wieder richtig Gas. Ich war spät dran, es war ein wichtiges Treffen; es ging um die Rettung des Musiktheaters im Revier, diesem herrlich verlorenen Posten der Hochkultur mitten im tiefverschuldeten Gelsenkirchen, jener Stadt, die als dauerhaft letztplatzierte im deutschen Städte-Ranking traurige Berühmtheit erlangt hatte, und die erst später - als Günthers Heimatort - eine persönliche Bedeutung für mich bekam. Auf einmal verloren die Reifen die Haftung, das Heck brach aus, ich sah noch die Leitplanke auf mich zukommen, hörte es krachen und spürte, wie ich mich überschlug. Danach sind es nur noch verschwommene Sequenzen, die bis heute noch in meinen Träumen auftauchen. Das Gelb des Airbags, in dem ich glaubte ersticken zu müssen. Mein rechter Fuß, der mich zurückhielt, als ich versuchte, unter dem Airbag hervorzurobben. Das Regenwasser, das durch die zersplitterten Scheiben zu mir drang. Das Rauschen der vorbeirasenden Reifen auf der nassen Fahrbahn. Der Geruch der aufgerissenen, vollgesogenen Erde an der Böschung, dann Blaulicht, Scheinwerfer, Funksprüche. Irgendwann hob sich das Dach meines Autos, als sei es immer nur ein lose aufliegender Deckel gewesen. Plötzlich war da ein bärtiges Gesicht neben mir, und stellte mir mit Knoblauchatem komische Fragen. Jemand nahm meinen Arm, klopfte darauf herum und rammte etwas hinein, und dann wurde auf einmal alles warm und gut und sicher. Nur wenn es von einer Trage auf die andere ging, war da dieser gräßliche bohrende Schmerz in meinem Bein, und ich wollte etwas sagen, wollte schreien und konnte nicht. Und dann wurde auf einmal die Luft immer knapper, ich bekam Panik, merkte auch, wie sie um mich her wieder hektischer wurden. Jemand verlangte nach einer Drainage. Dann rammte sich etwas in meine Brust, mir war, als würde ich mit einem Speer durchbohrt. Aber im nächsten Augenblick konnte ich wieder atmen, wenn auch unter Schmerzen, und dann wurde es auch schon wieder dunkel und warm.

Irgendwann lag ich im Bett, und am Bettende lag mein Bein, zusammengehalten von einem Gestänge, dessen Streben mitten durch den Knochen verliefen, ohne dass ich etwas davon merkte. Wenn etwas wehtat, dann waren es der Kopf, der Rücken, die Brust beim Atmen, nichts davon so sehr, dass es mich beunruhigt hätte. Ich dachte, ich hätte es geschafft, ich sei gerettet. Nichts in meinem bisherigen Leben hatte mich auf das monatelange Martyrium vorbereitet, das nun folgte.

14.

Wie erleichtert ich war, als der dritte Mai endlich da war! Keine Nacht länger, in der mich das Gespensterbein heimsuchen würde. Stattdessen würde ich ihm bald Gesellschaft leisten, im Reich der Geister.

Ich wartete noch das Abendessen ab. Als ich mir sicher sein konnte, dass Günther und Kemal auf dem Weg zu ihrer Verdauungszigarette waren, erhob ich mich vom Bett. Ich ließ meinen Rechner aufgeklappt auf dem Nachttisch zurück, und den elektronischen Abschiedsbrief an Sylvia geöffnet. Die Passwortsperre hatte ich aufgehoben. Daneben legte ich den handschriftlichen Brief an Nina. Ich strich mein Bettzeug gerade und hinkte, immer noch etwas unbeholfen, auf meiner Prothese zum Balkon und rückte einen der Aluminiumstühle direkt ans Geländer. Ich setzte mich und schnallte die Prothese ab. Wäre doch schade um das teure Ding. Ich stieg auf den Stuhl schwang mich von dort auf das Balkongeländer. Beinahe hätte ich dabei schon das Gleichgewicht verloren; dabei wollte ich mich doch erst noch einen Augenblick sammeln, bevor ich sprang. Ich fing mich wieder und saß nun auf dem Geländer, ganz lässig, wie früher als Schüler im Treppenhaus; das gesunde Bein klemmte ich zwischen den Metallstreben ein, den Stumpf ließ ich baumeln. So saß ich, blickte von oben auf die Rückfront der Mietshäuser gegenüber, auf die Blumenkästen und Gartenmöbel auf den Balkonen, machte nicht den Fehler, nach unten zu sehen in die Baugrube, die schon ein Stück weiter ausgehoben war, sondern atmete ruhig, und versuchte noch einmal an die Dinge zu denken, die schön gewesen waren in diesem Leben: das Versteck unter der eisernen Treppe, die an dem Haus, in dem meine Eltern immer noch im Hochparterre wohnten, in den Garten führte, zum Beispiel. Von der Treppe aus rankte eine Glyzinie bis zum Dach empor, und solang sie Laub trug, war man unter der Treppe vor allen neugierigen Blicken geschützt. Dort hatte ich meine Sandkastenliebe Marion zum ersten Mal auf die Wange geküsst. Oder die ersten Reisen in fremde Länder: Italien, Großbritannien, Frankreich, der Ärmelkanal, die felsigen Mittelmeerküsten und die Sandstrände des Atlantiks. Aber auch die Ruhrwiesen, wo wir als Jugendliche am Feuer gesessen hatten, und die Gitarre und den Schnaps kreisen ließen, später die WG in Köln, kein Wochenende ohne Feiern, legal oder illegal, mit oder ohne Drogen, die erschöpften glücklichen Gesichter im Morgengrauen, dann das ERASMUS-Jahr in Wien, die Nacht, in der Sylvia und ich das erste Mal Hand in Hand über den leeren Naschmarkt spaziert waren - für eine Jurastudentin war eigentlich nur Österreich für ein Auslandssemester in Frage gekommen - was für ein Glück, hatte ich damals gedacht…. da machte ich ihn doch, den Fehler: ich sah nach unten, und auf einmal drehte sich alles und ich wankte auf dem Geländer, versuchte mich festzukrallen, wollte plötzlich nicht mehr fallen, und spürte doch, wie es mich hinunterzog. Es war zu spät, ich würde fallen! Da legte sich etwas Schweres, eine Hand, mehr schon eine Pranke auf meiner Schulter. Es war Günthers, die gesunde Rechte natürlich, mit der er mich zurückhielt. Mein Schwerpunkt wanderte unter ihrem Zug wie in Zeitlupe zurück über das Geländer Richtung Balkon. „Langsam, Kumpel“, sagte er, „das ist ziemlich gefährlich, was du da machst. Komm, lehn dich zurück, ich fang dich auf.“ Er sagte es so freundlich und bestimmt, als sei es völlig selbstverständlich für ihn, so mit mir zu reden. Einen kurzen Moment schwankte ich noch, ob ich mich nicht doch von ihm losreißen und nach unten stürzen sollte, aber dann ließ ich mich, erschlaffend, rücklings in seine mächtigen Arme sinken. Zwar schien er mich mit Leichtigkeit halten zu können, doch als ich seine schlimme Hand im Heruntersinken berührte, ächzte er auf. Kaum, dass er mich auf dem Boden abgesetzt hatte, umgriff er mit der Rechten sein steifes Handgelenk, presste es zusammen und stampfte mit den Füßen. Dabei verzog er das Gesicht zu einer grotesken Grimasse. „Diese Scheiß-Hand“, flüsterte er, „manchmal könnte ich sie einfach nur abhacken“. Ich musste fast lachen. Ich zeigte auf meinen Stumpf und sagte: „Wie du an mir siehst, wird’s dadurch nicht besser.“ Jetzt grinste er auch. Und ich, ich sah ihn an, sah das Geländer an und musste wirklich lachen, ein ungläubiges, fast schon hysterisches Lachen. Günther hob mich auf und ich musste mich an ihm festhalten, um nicht umzufallen. Er legte seinen gesunden Arm um mich, sodass mein Gesicht an seiner tonnenförmigen Brust zu liegen kam, und ich lachte halb und heulte halb in sein nach Schweiß und Rauch und billigem Deo riechendes T-Shirt hinein. „Komm rein zu uns“, sagte er. Kemal saß auf seinem Bett und rieb sich die Füße mit einer stechend nach Pfefferminz riechenden Salbe ein. Er sah zu uns herüber, als wir durch die Balkontür eintraten. Ich schnallte meine Prothese wieder um und konnte alleine gehen. Als Kemal mein verheultes Gesicht sah, nickte er mitfühlend. „Kemal, mein Freund“, sagte Günther, „hier ist ein Fall für deinen Raki.“ Kemal nickte immer noch. Dann legte er den Salbentiegel zur Seite, wischte sich die Hände an der Jogginghose ab, langte hinüber zu seinem Nachttisch und zog eine der Mineralwasserflaschen, die man sich umsonst vom Wagen aus dem Flur nehmen konnte, hervor. Er stellte sie auf den weißen Tisch, den wir uns zum Essen teilten. Als er sie öffnete, zischte keine Kohlensäure, stattdessen roch es nach Alkohol. Günther ging hinaus auf den Flur und kam gleich darauf mit drei Gläsern zurück. Kemal füllte alle drei bis zum Rand aus der Flasche, und ein scharfer Schnapsdunst verbreitete sich über dem Tisch. Ich ging schnell zu meinem Rechner, schloss den Abschiedsbrief auf dem Bildschirm und stopfte den Brief an Nina seitlich in die Reisetasche in meinem Spind. Dann setzte ich mich zu den beiden und wir stießen an. „Auf das Schöne in diesem Scheißleben“, sagte Günther und sah mich ermunternd an. Der Schnaps brannte sich direkt unter meine Zunge und ins Innere meiner Wangen. Ich musste mich zwingen, ihn nicht auszuprusten, so scharf war er. Ich verfolgte aufmerksam den flammenden Weg durch meine Speiseröhre und meinte auch noch zu spüren, wie die brennende Flüssigkeit an den Wänden meines Magens herabrann. Der Effekt ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte seit dem Unfall kaum Alkohol getrunken und auch wenig Lust darauf verspürt; der Schwindel, den die Tabletten verursachten, reichte mir schon. Aber jetzt schien mir Schnaps genau das Richtige zu sein. Günther und Kemal kamen schnell ins Schimpfen, auf die Ärzte, die ihre Leiden nicht richtig erkannt hätten, auf die Berufsgenossenschaften, die sich angeblich so zierten zu zahlen, auf das schlechte Essen im Krankenhaus, auf einen Pfleger, den sie beide nicht mochten. Ich saß daneben und hörte ihnen zu und nickte zustimmend und lächelte. Zwischendurch ging es mir immer wieder durch den Kopf, dass ich doch jetzt eigentlich schon hatte tot sein wollen. Irgendwann wandte ich mich an Günther, versuchte sein schwankendes Bild zu fixieren, und bat ihn, so gut es meine träge Zunge vermochte, niemandem etwas von dem, was draußen auf dem Balkon passiert war, zu erzählen. Mir wurde wieder sehr bewusst, dass sie mich direkt in die Psychiatrie stecken würden, wenn irgendwer vom Personal davon erfuhr. Später holte Günther ein Skatspiel aus dem Schrank, und wir freuten uns alle drei, als wir feststellten, dass jeder das Spiel kannte. Gut, ich hatte es zuletzt als Mittelstufenschüler exzessiv und gerne auch während des Unterrichts unter der Bank gespielt, aber die Regeln hatte ich schnell wieder parat. Günther erzählte, dass er jahrelang jeden Sonntagvormittag um Kleingeld in der Kneipe gespielt habe, und ab und zu sogar zu Turnieren gefahren sei, aber nie etwas gewonnen habe. Woher Kemal Skat kannte, konnte oder wollte er uns nicht so richtig erklären, aber er konnte es auf jeden Fall sehr gut, wie sich schnell herausstellte.

Das Spiel ging uns allen dreien so locker von der Hand, dass wir bald auf andere Themen kamen: es stellte sich heraus, dass sie beide fast zur gleichen Zeit geboren waren, Günther in Oberhausen, Kemal in Recklinghausen, damals noch stolze Zentren des Kohlebergbaus, auch wenn dessen Niedergang schon begonnen hatte. Kemals Eltern schienen das geahnt zu haben, sie rieten ihm von einer Laufbahn unter Tage ab. Maler und Lackierer, die würde man immer brauchen, solange es Häuser und Autos gab. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass die ganze Chemie, die er täglich an schlecht sitzenden Masken vorbei einatmete, dazu führen würde, dass er eines Tages seine Füße und Hände kaum noch spürte, außer wenn sie schmerzten. Günther dagegen war allen Unkenrufen zum Trotz dem Beispiel seiner Vorväter gefolgt und Bergmann geworden. Wann genau der erste Gauthier zum Kohlehacken ins Ruhrgebiet gekommen war, wusste keiner. Nur die Geschichten, wie Günthers Großvater während der französischen Besetzung des Ruhrgebiets immer wieder von seinem Nachnamen profitiert hatte, erzählte man sich noch immer gerne in der Familie. Solange die Nazis an der Macht gewesen waren, hatte sein Vater dagegen darauf bestanden, dass der Name Gau-Tier ausgesprochen wurde, wohl in der Hoffnung, dass das bei den Nazis so beliebte Wort „Gau“ für positive Assoziationen sorgen würde. Seit Kriegsende aber bestand die gesamte Familie wieder auf der französischen Aussprache. Für Günther war tatsächlich irgendwann Schluss gewesen mit dem Leben als Kumpel. Immerhin: die Umschulung zum Schweißer hatten sie ihm noch bezahlt, und er schien nichts zu bereuen. Warum er später nicht mehr als Schweißer, sondern als LKW-Fahrer arbeitete, erfuhr ich damals noch nicht. Soviel aber wusste ich nun: Beide waren nicht nur gute fünfzehn Jahre älter, sondern hatten auch schon über fünfundzwanzig Jahre länger gearbeitet als ich, bevor sie etwa gleichzeitig mit mir zu „schwierigen Fällen“ wurden. Als ich ihnen - schon mit etwas in die Länge gezogener Aussprache - von meinem Studium erzählte und meiner Arbeit, unter der sie sich wenig vorstellen konnten, spürte ich wieder diese seltsame Mischung aus Belustigung und Ehrfurcht, die ich damit bei den vielen Malochern, die mich neuerdings umgaben, auslöste. „So“, sagte Günther, dem der Alkohol überhaupt nicht anzumerken war, „deine Arbeit besteht also darin, anderen zu erklären, wie sie ihre Arbeit besser machen.“

Günther hatte sich versichert, wer von den Pflegenden im Spätdienst für uns zuständig war: von Ecki hatten wir nichts zu befürchten; dem war es egal, was wir auf dem Zimmer trieben, solange es ruhig dabei blieb. Wenn er gedurft hätte, hätte er sich wahrscheinlich noch dazugesetzt, und wir wären auf Doppelkopf umgestiegen. Irgendwann war ich zu betrunken, um dem Spiel noch zu folgen. Und auch Kemal fielen die Karten aus den tauben Händen. Günther, der schon nüchtern alles nur mit rechts machte und oft zu vergessen schien, dass er überhaupt eine linke Hand besaß, machte immer umständlichere Bewegungen und fing an in fragwürdiger Weise seinen Mund zu benutzen, um sein Blatt zu handhaben. Wir wurden uns einig, dass es Zeit war aufzuhören. Ohnehin blieb nur noch ein kümmerlicher Rest in der Mineralwasserflasche, die Kemal gewissenhaft in seinem Nachtschrank verstaute. Mein neu antrainierter einbeiniger Gleichgewichtssinn war mir völlig abhandengekommen. Die beiden mussten mich links und rechts stützen, damit ich ins Bett kam. Als sie mich ablegten, beugte ich mich zu Günthers Ohr und flüsterte ihm noch einmal flehend zu, niemandem etwas von meiner Aktion auf dem Balkon zu erzählen. Ich schlief unruhig und träumte wild, aber wenigstens schlief ich überhaupt einmal wieder mehr als ein, zwei Stunden am Stück, was mir seit der ersten Woche nach der Amputation nicht mehr gelungen war. Und der Alkohol machte die Schmerzen zumindest etwas dumpfer.

15.

Dafür wachte ich am nächsten Morgen mit dem übelsten Kater meines Lebens auf. Mein Kopf pulsierte wie ein sterbender Stern kurz vor der Supernova. Mir war speiübel, während meine Zunge sich anfühlte, als würde sie jeden Moment zu Staub zerfallen. Wenigstens saßen wir, wenn es um Schmerztabletten ging, an der Quelle. Die beiden anderen gingen ihren Morgenroutinen nach, als sei nichts gewesen. Ich ertappte sie dabei, wie sie sich amüsierte Blicke zuwarfen, während ich mich abmühte, meinen Körper wieder unter meine Kontrolle zu bringen.

Eine halbe Stunde später saß ich immer noch ziemlich zittrig bei der Ergotherapeutin und versuchte vergeblich, mich auf die Spiegelübungen zu konzentrieren. Die junge Therapeutin sah mir eine Weile mitleidig zu, tröstete mich dann, dass das ganz normal sei, dass man einmal einen schlechten Tag habe, und massierte für den Rest der Stunde an meinem Stumpf herum, was sich zum ersten Mal irgendwie gut anfühlte.

Die unsichtbaren Wände, mit denen ich Günther und Kemal in unserem Dreibettzimmer von mir ferngehalten hatte, waren in sich zusammengefallen. Ich hielt mich nicht länger abseits und begleitete sie öfters zu ihren mehrmals täglichen Ausflügen zur Raucherecke vor dem Haupteingang. Ich rauchte sogar einmal mit, aber da hätten sie mich fast wieder ins Bett bringen müssen, so kodderig wurde mir. Die beiden stellten mich nach und nach den anderen Stammgästen in der Raucherecke vor, fast durchweg Menschen, die sich ihr Geld immer nur mit den Händen und oft genug unter sehr ungesunden Bedingungen verdient hatten, und deren Körper irgendwann nicht mehr so gewollt hatten wie sie. Die Stimmung war freundlich, die Sprüche grob. Ich stand meistens nur dabei und hörte zu, wie sie sich gegenseitig in der farbigen Schilderung ihrer Unfälle und Krankheiten zu übertreffen versuchten. Die Männer redeten auch über die Schwestern und Therapeutinnen und glichen ihre persönlichen Ranglisten miteinander ab, ohne Rücksicht auf die anwesenden rauchenden Frauen. Auch wenn mich das Getue und Geprahle immer noch nicht sonderlich interessierte: ich war froh unter diesen im Wesentlichen gutmütigen Menschen zu sein und dank meiner Verstümmelung als einer der ihren wahrgenommen zu werden. Ich, der bis dahin nie ein Problem damit gehabt hatte, mit mir allein zu sein, war plötzlich zufrieden, Teil dieses Haufens zu sein, den eigentlich nur das Stigma der Versehrtheit zusammenhielt. Wirklich dankbar aber war ich für meine beiden Zimmergenossen. Günther schwieg über meinen unrühmlichen Abgangsversuch, ich glaube sogar Kemal gegenüber, der die Aktion auf dem Balkon nicht mitbekommen zu haben schien, oder wenn, dann niemals darauf anspielte. Dabei gab Günther Acht darauf, dass ich nicht zu lange irgendwo alleine blieb, ich spürte oft seinen wachsamen, fast mütterlichen Blick auf mir. Wenn wir gemeinsam an den Sportgeräten waren, wo er mit seiner gesunden Rechten Gewichte stemmte, die ich mit zwei Armen nicht hochbekam, kam er immer zu mir herüber, lobte mich, gab mir Tipps, feuerte mich an. Wenn wir aßen, bot er mir immer wieder seinen Nachtisch an. Er fand, ich sei viel zu dünn. Es stimmte, dass ich seit dem Unfall an die fünfzehn Kilo verloren hatte, aber schließlich fehlte mir ja auch ein Stück, und eigentlich war ich ganz froh, dass mein Wohlstandsbauch eingeschmolzen war.

16.

Günther und ich machten Fortschritte über die Wochen. Er bekam eine Spritze in den Rücken, nach der seine Hand plötzlich nicht mehr so berührungsempfindlich war. Mir spritzten sie Botox – ja, genau das gleiche Gift, das sich die reichen Damen ins Gesicht spritzen lassen – an die Nerven in meinem Stumpf, und siehe da: die Attacken wurden weniger. Wir trainierten härter und freuten uns. Der Chefarzt, Professor Weiß, ließ sich bei seiner wöchentlichen Visite unsere Krankheitsverläufe beschreiben, nickte zufrieden und sagte: „Weiter so“. Bei Kemal dagegen schaute er ernst drein, und auch Kemal selbst frustrierte von Tag zu Tag mehr. Er mühte sich beim Sport und in der Physiotherapie ab, bis ihm die Tränen kamen, schmierte sich brav jede Salbe, die sie ihm ans Bett stellten, auf Hände und Füße, ließ sich die Fußsohlen mit Chilipaste verätzen, schluckte jede neue Tablette, egal wie elend ihm davon wurde, aber es half nichts: das Gefühl kehrte nicht zurück, und die Schmerzen blieben. Und immer, wenn ich davon anfing, dass mir ja auch die Gespräche mit der Psychologin über mein Leben außerhalb des Krankenhauses dabei halfen, besser mit den Schmerzen umzugehen, oder dass das Desensibilisierungstraining mit der Ergotherapeutin, bei dem ich mit Wattebäuschen, Schwämmen und Bürsten über meinen Stumpf strich, diesen wirklich unempfindlicher gemacht habe, winkte er ab und sagte, er habe doch keinen an der Klatsche. Was das darüber sagte, wie er über mich dachte, darüber dachte ich lieber nicht weiter nach.

Nach drei Wochen endete die von der Berufsgenossenschaft bewilligte Zeit auf der Schmerzstation. Günther; Kemal und ich waren fast zur gleichen Zeit gekommen, und so fielen auch unsere Abschlussgespräche eng zusammen. Es befremdete mich, wie ein Schüler beim Sprechtag stumm daneben zu sitzen, während die Oberärztin Frau Leiser meine Krankengeschichte in wenigen Worten für den Reha-Manager der Berufsgenossenschaft zusammenfasste, und lobend erwähnte, dass ich nach dem Botox die Schmerzmittel schon habe reduzieren können. Frau Kayser, die Psychologin berichtete, wie sehr ich mich in den vergangenen Wochen „stabilisiert“ hätte, wie gut ich es geschafft hätte, auch die psychologischen und sozialen Komponenten meiner Schmerzerkrankung in den Heilungsprozess mit einzubeziehen. Dabei nahm sie immer wieder Blickkontakt mit mir auf und nickte mir aufmunternd zu, besonders als ich schließlich doch noch selbst gefragt wurde und schildern sollte, wie ich mir meine berufliche Zukunft vorstellte. Ich erzählte von den Gesprächen mit Lennart, der mir am Telefon zugesichert hatte, dass es auch ohne Außentermine genug für mich zu tun gebe, dass sie ohnehin planten, immer mehr Treffen mit Kunden durch Videokonferenzen zu ersetzen. Damit schienen alle zufrieden zu sein. Quasi zur Belohnung wurde entschieden, ich sei nun reif für einen neuen Versuch einer „richtigen“ Reha. Erst wurde mir schlecht bei dem Gedanken, wiederum weitere Wochen in diesem tristen Kasten von einem Krankenhaus zu verbringen, aber dann hörte ich, dass sie Günther genau das Gleiche vorgeschlagen hatten, und auf einmal hatte ich richtig Lust auf Reha. Kemal dagegen wurde –das zu hören tat uns beiden weh - in eine ungewisse Zukunft entlassen.

17.

Unser letzter gemeinsamer Abend kam, es war Freitag, Mitte Mai, die Sonne wärmte auch schon abends, und es wurde spät dunkel. Wir saßen zu dritt mit entblößten Oberkörpern auf dem Balkon und hielten unsere blassen Bäuche in die Sonne. Kemals Raki-Vorrat war leider aufgebraucht. Wir mussten uns mit alkoholfreiem Bier vom Krankenhaus-Kiosk begnügen. Kemal erzählte von dem Grundstück an der Schwarzmeerküste, auf dem er angefangen hatte, ein Haus zu bauen, in dem er seinen Lebensabend verbringen wollte. Er zeigte uns Fotos von dem Stahlbeton-Skelett, das schon stand, von sich selbst an der Schaufel, am Betonmischer, inmitten von Kabelgewirr. Alle Urlaube der letzten Jahre hatte er dort verbracht; mittlerweile war er sehr lange nicht dort gewesen, und machte sich Sorgen, dass sich andere an seiner Baustelle bedient haben könnten. Durch den langen Krankheitsausfall hatte er aber jetzt noch eine Menge Resturlaub, und er hatte sich auch schon die Erlaubnis der Berufsgenossenschaft geholt, dass er in die Türkei fliegen dürfe.

Als der Nachtpfleger seine letzte Runde drehte, saßen wir immer noch draußen, obwohl es mittlerweile dunkel war und kühler wurde. Schließlich verabschiedete sich Kemal ins Bett. Günther und ich dagegen wurden unternehmungslustig, als wir aus der Innenstadt das Scheppern von Live-Musik hörten. Wir baten den schon halb schlafenden Kemal, uns bei Nachfragen zu decken, und stahlen uns durch die nur noch spärlich bevölkerten Krankenhausflure hinaus. Ich konnte mittlerweile schon richtig weite Strecken auf meiner Prothese zurücklegen, aber bis in die Innenstadt war es doch weiter als gedacht. Als er merkte, wie ich langsamer wurde, bat Günther an, mich zu stützen, und so kamen wir tatsächlich Arm in Arm auf der Flaniermeile an. Günther schien sich zwar nichts aus den teils neugierigen, teils angeekelten Blicken, die uns einige Jugendliche zuwarfen, zu machen, aber ich spürte doch, wie sich sein Körper straffte, und ich war mir sicher, dass ein dummer Spruch genügt hätte, und ihm wäre seine kaputte Hand egal gewesen. Dass er diese Kampfbereitschaft ausstrahlte, trug vermutlich dazu bei, dass uns niemand etwas hinterherrief. Günther strebte ohne Zögern auf eine der letzten traditionellen Kneipen zu, deren Inhaber sich dem allgemeinen Trend zu immer grelleren Dekorationen widersetzt hatte. Günther machte schnell klar, wie er sich die weitere Abendgestaltung vorstellte, indem er für uns beide ein Herrengedeck bestellte. Das frisch gezapfte Bier erfrischte wie früher nach einer langen Radtour oder einer anspruchsvollen Bergwanderung, der Korn dagegen brachte mich innerlich zum Glühen, wir fingen an, von Eskapaden unserer Jugend zu reden, von Gelagen mit Freunden und Liebesabenteuern. Günther erzählte, wie er seine philippinische Frau Saya kennengelernt hatte: nicht, wie ich befürchtet hatte, über irgendeine Partnerschaftsvermittlung, sondern tatsächlich auch im Krankenhaus, wo er als junger Mann mit gebrochenem Bein gelegen hatte, nachdem ihn ein ins Pendeln geratener Kran von einem Gerüst gefegt hatte. Damals war alles folgenlos verheilt, und er hatte das Krankenhaus mit Sayas Nummer in der Tasche und der Aussicht verlassen, sie zu einem Abendessen im Biergarten wiederzusehen. Ich hatte Saya einmal gesehen, als sie Günther besucht hatte, eine ernste zierliche Frau, die Günther kaum bis zur Brust reichte. Badrag und und Isko, ihre gemeinsamen Söhne, waren auch dabei gewesen, 18 und 16 Jahre alt, ansehnliche junge Männer mit glatten schwarzen Haaren, der Ältere auch damals schon deutlich größer als Mutter und Bruder, aber doch nicht so riesig wie Günther. Isko, der Jüngere, hatte schon beim Hereinkommen eine Geschmeidigkeit wie ein Tänzer, ausgestrahlt, und irgendetwas hatte sich immer, während des gesamten Besuchs an ihm bewegt; was mit dazu beigetragen hatte, dass ich nicht aufhören konnte, ihn zu beobachten; Stillstehen schien ihm unmöglich zu sein. Günther hatte später stolz erzählt, dass der Junge schon einmal Vize-Westfalenmeister im Taekwondo geworden sei. Badrag dagegen hatte einen etwas ungelenken Eindruck gemacht, so als sei etwas bei seinem schnellen Wachstum nicht nachgekommen. Er war seinem Vater mit ernster Miene gegenübergetreten und hatte ihm mitleidig die Hand auf die Schulter gelegt, gerade als ob er in Günthers Abwesenheit dessen Platz als Familienoberhaupt habe einnehmen müssen. Dabei hatte Saya gewirkt, als habe sie die Lage zuhause auch ohne ihren Mann und ohne die Unterstützung ihrer Söhne sehr gut im Griff.

Der weitere Abend verlief auf erwartbare Weise: bis die letzte Runde ausgerufen wurde, hatten wir einige neue Bekannte gewonnen, und die Fanfreundschaft zwischen dem FC Schalke und dem VfL Bochum war ausführlich besungen worden. Ich beglich eine beachtliche Rechnung für uns beide, inklusive einiger spendierter Lokalrunden. Auf dem Rückweg aus der Innenstadt war ich völlig auf Günthers Unterstützung angewiesen; die mühsam wieder erlernte Gangsicherheit hielt dem Ansturm des Alkohols auf meine Synapsen nicht stand. Ich weiß nicht mehr, wie wir es am Sicherheitsdienst des Krankenhauses vorbei zurück aufs Zimmer schafften. Was ich noch weiß, ist, dass Kemal sich nicht rührte, als wir beim Versuch, uns in unsere Betten zu stehlen, arg herumpolterten.

Am Samstagmorgen muss ich so blass gewesen sein, dass die besorgte Schwester lieber noch einmal die diensthabende Ärztin holte, um zu entscheiden, ob ich wirklich das Krankenhaus verlassen durfte. Die sah mich misstrauisch an und fragte, ob ich selbständig etwas an meiner Schmerzmedikation geändert hätte. Ich verneinte, und schob meinen Zustand auf einen Migräneanfall. Das schien ihr zu reichen. Günther hingegen war das Gezeche des Vorabends auch diesmal nicht anzusehen. Er war gut gelaunt wie immer. Als mir die Schwester Bescheid gab, dass meine Frau und meine Tochter am Stützpunkt auf mich warteten, umarmte er mich und klopfte mir mit seiner gesunden Hand so fest auf den Rücken, dass ich husten musste. Auch Kemal umarmte mich zum Abschied. Wir hatten alle drei unsere Telefonnummern ausgetauscht, aber ich bezweifelte damals, dass wir uns je wiedersehen würden.
 
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