Rehab(2)

18.

Das Wiedersehen mit Sylvia und Nina war viel herzlicher als noch bei ihrem letzten Besuch. Ich freute mich zum ersten Mal wieder, die beiden zu sehen. Mein Kater war wie weggeblasen. Ich hob Nina in die Luft und zeigte ihr, wie gut ich schon auf meiner Prothese laufen konnte. Sylvia traute sich erst, als wir das Krankenhaus verlassen hatten, ihren Arm um mich zu legen. Ich zog sie zu mir heran und küsste sie, und sie strahlte mich an wie früher, wenn wir uns lange nicht gesehen hatten. Wir hielten unterwegs an der besten Eisdiele der Stadt und deckten uns mit Gurken- und Safraneis und Schokoladensorbet ein. Sylvia gab Gas, das Eis sollte nicht schmelzen, bevor wir zusammen auf der Terrasse saßen. Aber obwohl sie sich so beeilte: bis ich den Blütenstaub von dem geerbten Tropenholz-Tisch gewischt hatte, Sylvia den Kaffee dazu aufgesetzt hatte, und Nina das Eis wie einen geweihten Kelch vor sich her durchs Wohnzimmer auf die Terrasse getragen hatte, schwammen die Kugeln schon in geschmolzenen Schlieren. Nina und ich begannen einen Wettbewerb, wer geräuschvoller die süße Brühe aus den Pappbechern schlürfen konnte. Dann klingelte es schon wieder, und eine ihrer Freundinnen holte Nina zum Spielen ab. Als Nina weg war, blieben wir einen Augenblick betreten sitzen, bevor sich unsere Blicke trafen. Dann stand Sylvia auf und trat an meinen Stuhl heran. Schon glaubte ich, sie wolle sich wieder wie früher oft auf meinen Schoß setzen, und zuckte unwillkürlich zurück bei der Vorstellung, wie weh sie mir dabei tun konnte. Aber sie ging neben meinem Stuhl in die Hocke, legte ihre Hände auf meine Rechte, die noch immer die Stuhllehne umkrallte, legte ihr Kinn auf ihren Händen ab, und sah mich liebevoll von unten an. Ich strich ihr durchs Haar, beugte mich zu ihr und wir küssten uns lang und bedächtig.

Ich blieb krankgeschrieben, ging zunächst dreimal die Woche zur Physio- und Ergotherapie, dann, drei Wochen später noch einmal für vier Wochen in die Reha, diesmal mit Erfolg. Ich lernte nach und nach, wieder im Alltag zurechtzukommen. Der Stumpf veränderte zunächst noch weiter seine Form, wurde dabei aber immer derber und belastbarer. Schließlich war es soweit, dass ich die Interimsprothese gegen eine definitive austauschen konnte, eine zweiteilige mit einer Art Vakuum-Strumpf, an dessen Ende das Fußteil einrasten konnte. „Tja, die Zeiten von Käpt‘n Ahab mit seinem Holzbein sind wohl endgültig vorbei“, sagte ich zu dem älteren Orthopädietechniker, der die Prothese anpasste. Er sah zu mir hoch. „Kennen Sie den alten Film mit Gregory Peck?“, wollte er wissen. „Ja, den kenne ich“, sagte ich, „kommt aber nicht an das Buch ran.“ – „Ist das nicht eher ein Kinderbuch?“, fragte er. „Kann man so nicht sagen“, sagte ich. „Großartige Szene auf jeden Fall“, sagte er, „wie Ahab die Golddublone an den Mast nagelt, dieser irre Blick…“ – „Ich fand ja Gregory Peck ein bisschen jung für die Rolle“, sagte ich. „Naja, so alt wurden die damals aber auch nicht“, sagte er. „Ich habe mir Ahab trotzdem immer älter vorgestellt“, sagte ich. „Wird bestimmt bald neu verfilmt“, sagte er, „dann können Sie sich ja auf die Rolle bewerben.“ Ich fragte mich, ob ich wirklich älter als Gregory Peck in dem Film aussah. Laut sagte ich, während ich auf der Prothese probelief: „Na, mit so einer Prothese kriege ich dieses bedrohliche Klacken auf Deck wohl nicht hin. Damit bekomme ich keine Crew dazu, alles stehen und liegen zu lassen, um mit mir ein weißes Monster zu jagen.“ – „Nein, das ist eher Modell Rehab als Ahab“, sagte er trocken.

Als ich nach Hause kam, war Nina fasziniert von dem schmatzenden Geräusch des Vakuumverschlusses und von dem abnehmbaren Fuß. Sie hatte jede Scheu vor meiner Behinderung verloren. Oft kam sie von sich aus und half mir mit der Prothese. Das tat mir gut, auch wenn ich die Hilfe nicht brauchte. Sylvia dagegen vermied es immer, anwesend zu sein, wenn ich die Prothese an- oder abschnallte. Mit der Zeit konnte ich auch die Schmerzmedikamente wieder reduzieren. Und ich schlief besser: fünf, sechs Stunden am Stück, wenn es eine richtig gute Nacht war. Ich fühlte mich wacher, nicht mehr wie von Nebelwänden umgeben, aus denen Menschen und Gegenstände plötzlich auftauchten und mich erschreckten. Mein Interesse an der Welt kehrte zurück: Ich las die Zeitung, hörte Musik, traf mich mit alten Freunden in Köln. Sogar Fahrradfahren ging wieder, wenn auch nicht mehr mit meinen alten sportlichen Ambitionen.

Das Ende meiner Arbeitsunfähigkeit rückte näher, und meine Unruhe wuchs. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie sich das anfühlen würde, mich wieder zwischen lauter schönen, erfolgreichen, schnell denkenden, schnell sprechenden und schnell handelnden Menschen zu bewegen. Ich hatte mir eine bedächtige Art angewöhnt, seit jede unglückliche Bewegung mich aus dem Gleichgewicht bringen und mich wie einen Zirkusclown hinfallen lassen konnte. Sylvia sprach mir Mut zu, ermunterte mich, mich schon vorher mit Kollegen zu treffen, bei der Arbeit vorbeizugehen, die Scheu abzubauen – aber die Scheu war riesig, und ich fand immer neue Ausreden.

19.

„Arbeitsbelastungserprobung“, kurz:ABE, ist eines dieser wunderbaren Amtsdeutsch-Komposita, über die sich der Rest der Welt gerne amüsiert. Konkret hieß das, dass ich in der ersten Woche nur zwei Stunden am Tag zur Arbeit kommen musste, dann jede Woche zwei Stunden mehr, und dass die Wochen, die ich noch nicht voll arbeitete, noch von der Berufsgenossenschaft bezahlt würden. Irgendwann war er plötzlich da, der ersten Tag meiner ABE. Sylvia ließ mich unten am Eingang des Büroturms aus dem Auto und fuhr von dort aus weiter zum Gericht. Ich fuhr mit dem Aufzug hoch zu meiner Firma. Vor dem Unfall hatte ich immer die Treppen genommen, als Gratis-Fitness-Einheit, aber davon war ich immer noch weit entfernt. Und die Aufregung machte es nicht besser. Nachdem ich aus dem Aufzug gestiegen war, musste ich tatsächlich kurz stehen bleiben und eine kleine Atemübung einschieben, die mir Frau Kayser beigebracht hatte; erst dann fühlte ich mich fähig, meinen Mitarbeiterausweis an den Türöffner zu halten. Die Kollegen, an denen ich vorbei zu meinem Schreibtisch musste, sahen alle in ähnlicher Weise kurz auf, grüßten lächelnd, und wendeten sich rasch wieder ihrer Arbeit zu. Es wirkte wie eingeübt. Ich war mir sicher, dass ich, wenn ich mich umsähe, viele dabei ertappen würde, wie sie mir nachschauten, vielleicht fasziniert davon, wie wenig man durch Hose und Schuhe sah, dass mir der halbe Unterschenkel fehlte. Trotz der demonstrativen Freundlichkeit in den Gesichtern kam es mir vor wie ein Spießruten-Lauf. Ich war erleichtert, als ich meinen Schreibtisch erreicht hatte, und niemand mich bis dahin angesprochen hatte. Einen Moment lang befürchtete ich, sie könnten gleich alle aufspringen und eine Überraschungsfeier für mich abhalten. Aber nichts geschah. Auf meinem Schreibtisch lag lediglich eine Karte mit einem Willkommensgruß der Geschäftsleitung. Ich fuhr meinen Rechner hoch und musste einige Zeit überlegen, bis mir mein Passwort wieder einfiel. In den ersten Wochen im Krankenhaus hatte ich noch den Ehrgeiz gehabt, geschäftliche E-Mails zumindest noch mit einem Hinweis auf meinen unfallbedingten Ausfall zu beantworten. Irgendwann hatte ich mir diese Mühe nicht mehr gemacht. So war ich nun die vollen zwei Stunden damit beschäftigt mich durch mein Postfach zu arbeiten. Zwischendurch kam Lennart kurz vorbei, legte mir eine warme Hand auf die Schulter und sagte: „Schön, dass du wieder da bist, Karl.“ Lennart hatte es –anders als sein Partner Lasse, den man kaum noch im Büro sah - immer verstanden, ohne viel Aufwand jedem Mitarbeiter das Gefühl zu vermitteln, unverzichtbar für die Firma zu sein. Und die Leute dankten es ihm mit vielen Überstunden, die auf keinem Stundenzettel auftauchten. Auch ich fühlte mich gleich wieder bereit, alles zu geben, damit der Laden lief. Tatsächlich war ich aber schon nach den zwei Stunden völlig erschöpft. Der Stumpf tat weh, ich hätte gerne die Prothese abgeschnallt, hatte aber Sorge um den Effekt, den das an den Nachbarschreibtischen und in den Sitzecken haben würde. Also riss ich mich zusammen. Seit ich Gabapentin einnahm, ein Mittel, das gegen meine Nervenschmerzen helfen sollte, obwohl es eigentlich gegen epileptische Anfälle entwickelt worden war, fiel es mir schwerer, mir Dinge zu merken; ich musste mir für jedes Telefonat, jede Anfrage zusätzliche Notizen machen, um nicht beim Folgetermin auf eine weiße Wand in meinem Kopf zu schauen.

Als ich das Büro verließ – es war zwar schon Ende September, aber die Luft war heiß und schwül, und ein Gewitter zog herauf – war mir von der ungewohnten Anstrengung schwindlig, und ich musste auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle mehrmals anhalten und mich stabilisieren. Ein umgebauter Firmenwagen war vorerst nicht für mich vorgesehen, stattdessen zahlte die Firma mir das Monatsticket. Zwar hätte Sylvia mir das Auto überlassen und wäre mit dem Fahrrad zum Amtsgericht gefahren, aber unser Auto hatte ein Schaltgetriebe, das kam für mich nicht mehr infrage. Bis wir das Auto verkauft und dafür eines mit Automatikgetriebe gefunden hätten, würde ich mir die Enge der Straßenbahn mit den Schülern und Geringverdienern dieser Stadt teilen müssen.

An der Straßenbahnhaltestelle traf ich auf die neue Praktikantin, die ich schon während der ganzen zwei Stunden im Büro dabei beobachtet hatte, wie sie unsicher um Lennart herumschlich, der sich ihr hin und wieder sehr aufmerksam zuwandte, nur um sie im nächsten Augenblick wieder völlig zu ignorieren. Wie viele junge Frauen bei diesem Wetter hatte sich die Praktikantin sehr knapp gekleidet, sodass ich nicht recht wusste, wo ich hinsehen sollte, als wir uns grüßten. Außerdem war es mir peinlich, wie schweißgebadet ich von der kurzen Strecke zu Fuß war. Sie streckte mir ihre Hand hin, sagte, sie heiße Helena, studiere eigentlich BWL und mache während der Semesterferien ein Praktikum bei uns. „Und Sie müssen der Karl Frantek sein“, sagte sie, „ich habe schon von Ihnen gehört.“ Ich bejahte und bat sie, mich wie alle in der Firma zu duzen. „Das muss ja ein ganz schlimmer Unfall gewesen sein, den du gehabt hast“, sagte sie. „Ich habe Glück gehabt, dass ich noch lebe“, sagte ich - so eine Standardphrase, aber ich war mir sicher, dass ich das in diesem Moment zum ersten Mal sagte, und vielleicht sogar zum ersten Mal dachte. „Bestimmt“, sagte sie, „aber das mit deinem Bein ist ja trotzdem ganz schön schlimm.“ – „Wie man’s nimmt“, sagte ich, „zumindest schwitzt meine Prothese bei diesem Wetter nicht.“ Sie lachte, als sei das ein wirklich guter Witz. Die Bahn kam, wir setzten uns gegenüber auf einen Vierer. „Darf ich mal sehen“, fragte sie, und sah zu meinen Schuhen hinunter. Ich sah mich unwillkürlich nach weiteren Neugierigen um, bevor ich mein Hosenbein ein Stück hochzog. „Krass“, sagte sie. Ich sah auf ihren langen braungebrannten Nacken, als sie sich zu der Prothese herunterbeugte. Wir plauderten noch ein wenig über die Firma, über Lennarts Charme und Lasses Bissigkeit, über das ungewöhnlich heiße Wetter im September, und ob das wohl mit dem Klimawandel zusammenhinge, und mir wurde plötzlich bewusst, wie sehr mir gerade solche unbekümmerten Gespräche gefehlt hatten. Nach wenigen Stationen waren wir am Hauptbahnhof angekommen, und dort trennten sich unsere Wege: sie musste nach Querenburg ins Wohnheim neben der Universität, ich mit dem Bus schon fast aus der Stadt hinaus ins reiche Stiepel. Meine Erschöpfung war wie weggeblasen, ich lief für meine neuen Verhältnisse fast leichtfüßig die paarhundert Meter bis zu unserem Haus. Ich war der Erste, der zurückkam. Nina war noch in der Schule, Sylvia bei Gericht. Ich machte mich ans Kochen, immer noch beschwingt von dieser Begegnung, der ersten mit einem erwachsenen Menschen, die mir mehr von Neugier als von Mitleid oder professionellem Interesse geprägt schien.

Alle zwei Wochen musste ich zwei Stunden länger am Tag arbeiten. Es fiel mir immer noch schwer, mich längere Zeit zu konzentrieren oder still zu sitzen. Mir blieb nichts anderes übrig, als immer wieder Pausen zu machen, kurz herumzugehen, und jedes Mal spürte ich die prüfenden Blicke der anderen auf mir. Ich sehnte mich zurück in den Außendienst, in mein altes Einzelkämpfer-Dasein, die vielen unbeobachteten Stunden im Auto.

Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, war ich meistens so erschöpft, dass ich nur noch dasitzen und an die Wand starren konnte. An Lesen war nicht zu denken, Musik störte mich, selbst Fernsehen war mir zu viel. Manchmal überredeten Sylvia und Nina mich zu einem Gesellschaftsspiel. Ich spielte ohne teilzunehmen, wie ein Roboter. Meistens hatten dann auch die beiden anderen schnell keine Lust mehr.

Als es kälter und dunkler wurde, und schließlich auch der Herbst sich dem Ende zuneigte, konnte ich zwar Witze darüber machen, dass ich jetzt nur noch einen kalten Fuß bekommen konnte, aber in Wirklichkeit graute mir vor dem Winter. Der Stumpf brauchte Wärme; wenn es kalt war, entfachte er sein eigenes Feuer.



Teil 2

1.

Ich hatte noch drei Wochen Resturlaub durch die lange Krankheit, die verfallen würden, wenn ich sie nicht bis zum Jahresende nähme. Als ich noch überlegte, was ich mit dieser geschenkten Zeit anfangen sollte, rief Günther an. Wir waren tatsächlich in Kontakt geblieben. Er war fast zeitgleich mit mir in die Arbeitsbelastungserprobung gegangen, und wir hatten uns gegenseitig ermutigt, auch an harten Tagen dran zu bleiben. Diesmal aber rief er an, um mir einen Vorschlag zu machen. Ich kam gerade aus der Dusche und fast wäre ich, einbeinig hüpfend wie ich war, auf den feuchten Fliesen ausgerutscht, als ich durch die Badezimmertür nach dem Telefon auf der Ablage im Flur griff. Ich hatte Günther bei unserem letzten Telefonat von meinem Resturlaub erzählt, und er schlug vor, ich könne ihn auf einer längeren Fahrt in die Türkei begleiten. Er plante die Gelegenheit zu nutzen, um Kemal zu besuchen, der angekündigt hatte, den größten Teil des Winters auf seiner Baustelle am Schwarzen Meer verbringen zu wollen. Ich zögerte einen Augenblick, dann sagte ich zu. Sollte es tatsächlich einmal wieder ein Abenteuer in meinem Leben geben? Bis zu Ninas Geburt hatte ich mich immer gerne auf ungewisse Unterfangen eingelassen, aber das erschien mir mittlerweile sehr weit weg.

Sylvia war wenig begeistert. Sie hatte eher auf Unterstützung im Haushalt gehofft, als ich ihr von dem vielen Resturlaub erzählt hatte. Lennart sah ebenfalls säuerlich drein, als ich den Urlaubsantrag bei ihm einreichte. Er schien gehofft zu haben, ich würde den Urlaub freiwillig verfallen lassen. Er jammerte über das kaum zu schaffende Arbeitspensum in der Vorweihnachtszeit, als hoffe er, mich noch umstimmen zu können. Ich dachte da schon längst nur noch an den bevorstehenden Roadtrip in wärmere Gefilde und an das Wiedersehen mit meinen beiden Leidensgenossen; die viele Arbeit dagegen, die – schon wieder – liegenblieb, war mir ziemlich egal.

2.

Samstag früh sollte es losgehen. Am Freitag versuchte ich noch, so gut es ging, meinen Schreibtisch zu leeren. Als ich das Büro verließ, war es dunkel, es hatte geregnet und die Pfützen, die das grelle weiße Licht der neuen LED-Sraßenlaternen spiegelten, sahen aus wie mit Eis überzogen. Sehnsüchtig dachte ich an das warme Orange der alten Straßenbeleuchtung zurück, die nachts der ganzen Stadt etwas Magisches gegeben hatte, und nun nach und nach durch das energiesparende LED-Licht ersetzt wurde. Ich freute mich schon darauf, bald wieder durch Orte zu fahren, in denen das neue Jahrtausend sich noch nicht so breit gemacht hatte wie bei uns. Als ich nach Hause kam, war niemand da. Nina hatten wir bei ihrer Lieblings-Übernachtungsfreundin Lea ausquartiert. Deren Mutter hatte ihre beruflichen Ambitionen aufgegeben und brachte den Kindern beim Spielen immer Teller mit kleingeschnittenem Obst und Süßigkeiten ins Zimmer. Das Klappbett, in dem Nina dort neben Lea schlief, war immer frisch bezogen und das Bettzeug duftete nach Zimt – ganz anders als bei uns, fand Nina. Sylvia war auch noch nicht zurück, eher untypisch, an einem Freitag. Wahrscheinlich schmollte sie noch. Ich holte meinen zerschlissenen Wanderrucksack aus dem Keller. Bevor ich ihn befüllen konnte, musste ich den Putz, der über die Jahre auf ihn herabgerieselt war abklopfen. Ich versuchte, den muffigen Kellergeruch auf der Terasse aus dem Rucksack herauszuschütteln. Dabei fiel ein Zettel aus dem oberen Fach. Darauf hatte ein Schweizer, den ich in einem Hostel in Casablanca kennengelernt hatte, seine Adresse geschrieben. Es war sein letzter Abend gewesen, und er hatte mir seinen Reiseführer vermacht, mit der Bitte, ihm den zurückzuschicken, wenn ich ihn nicht mehr brauchte. Das hatte ich lange machen wollen und irgendwann komplett vergessen. Jetzt packte mich noch einmal kurz das schlechte Gewissen, und ich überlegte ernsthaft, nach dem völlig veralteten Reiseführer zu suchen und ihn mit einem Gruß an wiedergefundene Adresse zu schicken. Gleich darauf kam ich mir albern und sentimental vor. Der Rucksack war immer noch der gleiche, mit dem ich während des Studiums in Zügen und Bussen und manchmal auch per Anhalter durch Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und eben Marokko gereist war. Damals war ich auch manchmal auf Sattelzügen mitgefahren. Ich fragte mich, ob auch Günther seine Fahrerkabine mit Pin-up-Bildern, Lichterketten und Heiligenbildchen, wie sie in meiner Erinnerung an jene Zeit aufschienen, dekoriert hatte. Ich dachte zurück an eine besonders skurrile Begegnung mit einem Fahrer, der mitten auf der Autobahn eine Margarinepackung aus seiner Kühlbox geholt hatte, sie geöffnet, mit bloßen Fingern ins Fett gegriffen und einen schwarzen Haschischklumpen ausgebuddelt hatte, aus dem ich ihm eine Tüte bauen sollte. Er hatte mir triumphierend erklärt, dass die Margarine den Haschischgeruch vor den Nasen der Zollhunde verberge. Ich hoffte, dass Günther über solche postpubertären Machenschaften erhaben wäre. Ich stopfte vor allem bequeme Sachen in den Rucksack, aber sicherheitshalber packte ich noch ein bügelfreies Hemd und einen Sakko dazu. Man weiß ja nie.

Als Sylvia endlich nach Hause kam, war ich längst mit dem Packen fertig. Sylvia sah blass und erschöpft aus. Als ich fragte, ob alles in Ordnung sei, sagte sie mir, ich solle sie bitte in Ruhe lassen, sie brauche erst einmal ein bisschen Zeit für sich, um runterzukommen. So schroff war sie sonst selten. Sylvia verzog sich ins Schlafzimmer, während ich die Bücherregale im Wohnzimmer nach der passenden Reiselektüre absuchte. Mein Blick hielt kurz bei Jack Kerouac inne, aber das schien mir doch zu plakativ. Auf „Tschick“ hätte ich noch einmal Lust gehabt, aber das war zu kurz für eine so lange Fahrt. Am Ende ich entschied mich für Orhan Pamuks „Schnee“, das schien mir am passendsten für eine Reise in die türkische Provinz.

Günther hatte mir einen Screenshot geschickt, der die geplante Route auf einer Europakarte zeigte, und mir am Telefon seinen Plan erläutert: wir wären voraussichtlich sieben Tage von Duisburg nach Istanbul unterwegs, vorbei an Wien, Budapest, Belgrad und Sofia. In Istanbul würden wir unsere Fracht – Autoteile – löschen. Günther hatte ausgehandelt, dass uns dann drei Tage vor Ort blieben, während derer wir Kemal in seinem halbfertigen Haus an der Schwarzmeerküste, gut vier Autostunden von Istanbul entfernt, besuchen würden. Dann ginge es, diesmal mit Elektronik beladen, auf der gleichen Route zurück ins Ruhrgebiet. Von den geplanten Transitländern hatte ich Sylvia Serbien verschwiegen, darauf vertrauend, dass ihr die Topographie Südosteuropas nicht hinlänglich vertraut war. Ich war mir sicher, wenn sie Serbien hörte, würde sie sich noch mehr Sorgen machen; dabei war das Land wahrscheinlich genauso sicher oder unsicher, je nach Sichtweise, wie seine Nachbarländer – das Bild des Landes blieb geprägt durch die Erinnerung an die vielen Berichte über Kriegsverbrechen. Ähnlich musste es Reisenden früher mit Deutschland gegangen sein. Ich überlegte noch kurz, ob ich „Schnee“ nicht noch durch eines der Serbienbücher von Peter Handke austauschen sollte, blieb dann aber bei meiner ursprünglichen Wahl.

3.

Als ich am nächsten Tag aufbrechen wollte, war Sylvias Schmollen einer ernsten Sorge gewichen. Sie hielt die Reise immer noch für eine Schnapsidee. Günther und Kemal waren ihr bei ihren Besuchen suspekt gewesen. Sie schien gehofft zu haben, dass es sich mit unserer Skatrunde nach dem Krankenhaus erledigt haben würde. Sie fürchtete Günthers Anrufe, auf die manchmal Treffen folgten, von denen ich jedes Mal sturzbetrunken nach Hause kam. Einmal hatte mich Günther auch mitten in der Nacht betrunken angerufen und mir von einer Schlägerei erzählt, bei der er Seite an Seite mit seinem Sohn Isko eine Gruppe Libanesen in die Flucht geschlagen habe. Er hatte geweint am Telefon, die Schmerzen in seiner Hand seien wieder so stark, seitdem, und er hatte geklagt, dass er ohne seinen Sohn verloren gewesen wäre. Und Sylvia war von dem Telefonat aufgewacht und wütend geworden.

Sylvia versuchte noch einmal, mich zu überzeugen noch abzusagen, aber sie spürte meine Entschlossenheit, strich mir noch einmal über die Wange wie einem trotzigen Teenager, und ging kopfschüttelnd ins Haus zurück.

Die ungewohnte Last des Rucksacks drohte mich immer wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen, während ich erst mit dem Bus, dann mit der Straßenbahn in aller Frühe durch die feuchte Novemberdunkelheit zu Günther nach Gelsenkirchen fuhr. Saya und er lebten in einem der Sechzigerjahre-Mietshäuser, die sich, wie in so vielen deutschen Industriestädten, in Gelsenkirchens Peripherie aneinanderreihten, mit langweiligen Grünstreifen, verwaisten Sandkästen und rostigen Gestängen für Wäsche, die kaum noch jemand nutzte. Immerhin: die Wohnung war geräumig und hatte einen Balkon, zu dem kaum Straßenlärm empordrang, und sie kostete wenig Miete. „Was will man mehr?“, fand Günther.

Ich war froh über das Metallgeländer mit dem roten kunststoffbeschichteten Handlauf, an dem ich mich mit meinem Rucksack emporziehen konnte, während der Blick auf den Waschbeton der Stufen meinen Dauerschwindel eher noch verstärkte. Ich wischte pflichtbewusst meine Sohlen an der Türmatte in Form eines lächelnden Igels mit einer schwarzen Kugelnase ab. Saya öffnete im Morgenmantel. Unfrisiert und ungeschminkt ähnelte sie ein wenig dem Igel, an dem ich mir gerade die Schuhe abgestriffen hatte. Sie begrüßte mich freundlich wie immer. Aus der Wohnung drängte der Zigarettendunst hinaus in den unbeheizten Flur. Sie bat mich hinein und in die Küche. Am Aschenbecher auf der Wachstuchdecke schwelte noch der Rest ihrer Morgenzigarette. Günthers Zigarette lag bereits ausgedrückt auf der feinen weißen Ascheschicht, die kein Ausklopfen mehr vom Boden des schwarzen Aschenbechers lösen konnte. Zwei benutzte geblümte Tassen ohne Untersetzer und ein Süßstoffspender zeugten noch von einem spartanischen Abschiedsritual. Ohne zu fragen stellte Saya eine weitere Tasse dazu, nahm die gläserne Kanne aus der alten Filterkaffeemaschine, machte meine Tasse voll und füllte ihre nach. Sie lud mich ein, auf einem der beiden Metallstühle am Küchentisch Platz zu nehmen. Ich freute mich, die heiße Tasse zwischen meine Hände nehmen zu können. Ich war so viel kälteempfindlicher geworden seit dem Unfall. Vor allem das feuchte Spätherbst-Wetter machte auch meinem Stumpf zu schaffen. Daran konnten auch die Medikamente nichts ändern. Mittlerweile konnte ich die Rentner, die es nach Süden zog, erschreckend gut verstehen. Der Kaffee war mir eigentlich zu stark. Ich wartete vergeblich auf die übliche Milch- /Zuckerfrage. Zu Süßstoff konnte ich mich nicht überwinden. Saya hatte ihren Zigarettenrest noch einmal aus dem Aschenbecher genommen, obwohl kaum ein Zentimeter bis zum Filter blieb. Sie sog den Rest in einem Zug weg und blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Nebenan ging die Klospülung. Den Wasserhahn hörte ich nicht. Im nächsten Augenblick hatte ich Günthers gesunde Hand auf der Schulter. „Gut, dass du pünktlich bist“, sagte er. Er deutete auf meinen Rucksack, „ist das dein ganzes Gepäck?“ Ich nickte. „Das ist gut“, sagte er, „dann lass uns aufbrechen.“ Er strich Saya wie einem Kind über den Kopf und sagte leise: „Ciao, Baby.“ Saya hielt ihre Kaffeetasse fest und sah weiter aus dem Fenster. „Sie hasst es, wenn ich wegmuss“, sagte Günther, als wir im Treppenhaus waren. „Kann ich verstehen“, sagte ich, „meine Frau hat auch ziemlich sparsam geschaut, dabei ist es bei mir nur dieses eine Mal.“ - „Ach, wer weiß“, sagte Günther, „wahrscheinlich steigen sie jedes Mal auf den Tisch und tanzen, wenn erstmal die Tür hinter uns zu ist.“

4.

Günther fuhr einen Opel Meriva, das hässlichste Auto der Welt, wie er es nannte, aber es passe viel hinein. Wie alles, mit dem Günther in Berührung kam, roch auch das Innere des Autos nach kaltem Rauch. Daran änderte auch der Duftbaum am Rückspiegel nichts. Die Vorstellung, dass es in seiner Fahrerkabine nicht anders sein würde, ließ mich noch ein letztes Mal zögern, ob ich ihn wirklich begleiten wollte. Der Weg zum Firmensitz war zum Glück kurz. Vom Personalparkplatz aus mussten wir noch ein ganzes Stück zu Fuß zu der großen Asphaltfläche, auf der sich eine eindrucksvolle Zahl an riesigen völlig gleich aussehenden Sattelzügen reihte. Die Schlepper waren blau lackiert und auf beiden Türen mit dem Firmenlogo verziert. Es waren allesamt Vierzigtonner, wie Günther mir erklärte, zwei Achsen am Schlepper, zwei am Aufleger, jede mit maximal 11,5 Tonnen belastbar, europäischer Standard. „Irgendwie hatte ich mir deine Firma anders vorgestellt“, sagte ich zu Günther, „kleiner, familiärer…“. Er schüttelte den Kopf. „Ist schon ganz gut in einem so großen Laden zu arbeiten“, sagte er, „die achten mehr darauf, dass die Regeln eingehalten werden, und die können auch einem Krüppel wie mir mal entgegenkommen.“ Ich hasste es, wenn er sich selbst als Krüppel bezeichnete, ich wollte nicht, dass wir uns so sahen. Andererseits dachte ich: wenn uns einer so nennen darf, dann wir selber.

Die Flotte war gerade erst erneuert worden, das sah man. Statt eines vergilbten Trucker-Idylls bestiegen wir eine Kabine, die eher der Kommandobrücke eines Raumschiffs glich. „Die Dinger fahren sich heutzutage fast von alleine“, sagte Günther. Rauchen war im Innenraum verboten, ich war erleichtert. Die Sitze waren so bequem und gefedert, dass ich am liebsten gleich sitzen geblieben wäre, um mich von Günther ins erste Morgengrau hinaus kutschieren zu lassen. Wir mussten aber erst noch ins Büro. Wir verstauten das Gepäck hinter den Sitzen und liefen um große Pfützen herum hinüber zu einer Art Hangar aus gewelltem Aluminium, in dem der ältere Teil des Fuhrparks untergebracht war, Siebeneinhalbtonner und Transporter vor allen Dingen. Im hinteren Teil der Halle ließ sich eine Werkstatt erahnen. Die Büros waren in Containern gleich neben dem Fußgängereingang untergebracht. Die Sekretärin, mit der Günther sprach, hatte rot gefärbte Haare und trug eine Brille mit Goldrand, die zu groß für ihr schmales zerfurchtes Gesicht erschien. Der Aschenbecher auf ihrem Schreibtisch quoll über. Ich fragte mich, ob es möglich war, so früh am Morgen schon so viele Zigaretten geraucht zu haben, oder ob noch andere sich zu ihr gesetzt und mitgeraucht hatten, oder ob sie den Aschenbecher einfach nicht so oft leerte. Ihre Stimme klang so tief und knarzend, dass ich mich für Variante A entschied. Ich musste mehrere Erklärungen unterschreiben, damit ich im Falle eines Unfalls keine Rechtsansprüche an die Firma würde geltend machen können, und mich strafbar machte, wenn ich Informationen über die Firma oder deren Kunden an Dritte weitergäbe. Die Sekretärin sah mich prüfend an, während ich die Erklärungen überflog. Ich konnte mir gerade noch den Waschmaschinen-Spruch verkneifen. Als ich unterschrieben hatte und schon dabei war hinauszuhumpeln, fragte sie mich noch, was denn mit meinem Bein sei. Statt zu antworten, lächelte ich sie an und zog das Hosenbein weit genug hoch, dass sie die Prothese sehen konnte. „Oh, das tut mir leid“, sagte sie. Während Günther die restlichen Formalitäten erledigte, spazierte ich ein bisschen durch die Halle, in der auch früh am Samstagmorgen schon erstaunlich viele Menschen arbeiteten. In Stiepel kannte man solche Arbeitszeiten nur bei Ärzten. Das große Tor war zur Hälfte geöffnet, die Fahrzeuge kamen und gingen. Gelegentlich traf mich ein neugieriger Blick, einige der Fahrer und Mechaniker grüßten mich auch. Die meisten von ihnen sahen blass und müde aus; das kalte Neonlicht verstärkte diesen Eindruck noch.

5.

Günther stellte mir Eugen vor, einen kleinen unruhigen Mann, dessen junges Gesicht damals noch nicht zu dem zerknitterten Bild passte, das ich mir von LKW-Fahrern gemacht hatte, und dem Günther so exakt entsprach. Auch konnte ich mir Eugen kaum stundenlang mehr oder weniger reglos am Steuer sitzend vorstellen, so zappelig, wie er wirkte. Und dennoch: Günther schien Eugen zu mögen, und ich verstand, warum; die beiden waren vom gleichen freundlichen Wesen, dem die Schwere des Morgens nichts anzuhaben vermochte. Eugen würde gemeinsam mit uns aufbrechen und bis Wien auf der gleichen Strecke bleiben. Günther freute das, ich freute mich für ihn. Günther und Eugen rauchten noch eine Zigarette am Eingang der Halle, dann gingen wir hinüber zu den Sattelzügen.

Wir stiegen ein, die pneumatisch gefederten Sitze zischten, und das Armaturenbrett leuchtete auf, als Günther den Chip, der den Zündschlüssel ersetzt hatte, vor den zugehörigen Sensor hielt. Wir rollten vom Hof, Eugen in einem identischen Schlepper hinter uns her. Das Gitter öffnete sich von selbst, ich fragte mich, ob durch einen weiteren Sensor, oder weil wir noch von irgendwem beobachtet wurden. Als es sich hinter uns schloss, atmete ich auf; es war das gleiche Gefühl, das ich vor meinem Unfall immer gehabt hatte, wenn ich die Firma für einen Außentermin verließ, mit der köstlichen Aussicht auf unbeobachtete Stunden, auf gute Musik und schweifende Gedanken. Günther grinste mich an, er schien etwas Ähnliches zu denken. Das verband uns offenbar, diese Freude am unbeaufsichtigten Arbeiten. „Gut, oder?“ Mehr sagte er nicht dazu. Bis Duisburg, wo wir unsere Fracht aufnehmen sollten, waren die Straßen noch dunkel und wenig befahren. Als wir an der Ladezone des Autoteile-Herstellers rangierten, graute bereits ein Morgen, der grau zu bleiben versprach. Ich blieb im Nieselregen auf der nächsten trostlosen Asphaltfläche stehen und sah zu, mit welchem instinktiven Geschick Günther mit dem Gabelstapler hantierte, ein Maschinenmensch durch und durch. Das Wort Entfremdung, das ich als Student noch so gerne in den Mund genommen hatte, schien mir hier fehl am Platz. Verschmelzung traf es besser. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie es aussehen würde, wenn ich versucht hätte, die Ware mit dem Gabelstapler zu verladen. Ich dachte an den Kurzfilm „Gabelstaplerführer Klaus“ und fragte Günther, ob er den kenne. Er hatte noch nie von dem Film gehört. Aber auch so hatte er mir von vorneherein verboten mit anzufassen. „Wegen der Versicherung“, sagte er, „und außerdem hast du Urlaub.“ Dabei hätte ich mich wohler gefühlt, wenn ich hätte mit anpacken können. So kam ich mir wie Ballast vor und spürte, dass mich auch die Arbeiter in der Ladezone als solchen ansahen.

Ich war froh, als es endlich richtig losging. Durch die Fracht war unser Sattelzug viel träger geworden, ich spürte, wie der Motor zu unseren Füßen richtig arbeiten musste. Trotzdem blieb es leise in der Kabine. Mir kam es vor, als schwebten wir über dem lächerlichen PKW-Verkehr unter uns. Und wehe dem Spielzeuggefährt, das uns zu nahe kam! Eugen blieb immer dicht hinter uns. Niemand kam auf die Idee, sich zwischen uns zu drängen. Am meisten Spaß schien es Günther zu machen, andere, meist ältere Lastwagen, oft mit osteuropäischen Kennzeichen, zu überholen. Eugen scherte immer unmittelbar nach uns aus, und dann arbeiteten wir uns gemeinsam Zentimeter um Zentimeter an den anderen vorbei, während die Autoschlange im Rückspiegel wuchs. Niemand hätte es gewagt, uns mit der Lichthupe zu bedrängen, wir waren die Herren der Straße. Ich hatte auf meinen Anhalter-Touren immer wieder Fahrer erlebt, die sagten, dass sie sich keinen anderen Beruf mehr vorstellen konnten. Damals hatte mich das befremdet. Ich verstand nicht, was so toll daran sein sollte, tagein tagaus allein auf der Autobahn unterwegs zu sein. Aber jetzt, hier mit Günther, der über die Freisprechanlage mit Eugen witzelte, und dem die Zufriedenheit mit diesem Leben aus jeder Pore stieg, steckte mich sein Enthusiasmus an. Das Hochgefühl hielt noch an, als wir an die erste Baustelle kamen. Bis wir über die Grenze nach Bayern hinüberfuhren, folgten noch vier weitere Baustellen mit zäh fließendem Verkehr. Während das ständige Anfahren und Abbremsen Günthers Laune nicht zu trüben schien, fühlte ich mich schon nach den ersten vier Stunden zermürbt; ich hatte mehr als genug von Leitplanken, Lärmschutzwänden, gelben Straßenmarkierungen und rotweißen Pollern, vorbeiziehenden Autos und lässig grüßenden Truckern.

Bei Würzburg waren viereinhalb Stunden Lenkzeit um, die Zeit drängte für die Mittagspause, fünfundvierzig Minuten schrieb die EU vor; und der elektronische Fahrtenschreiber überwachte das unerbittlich. Eugen schwenkte neben uns auf dem Parkplatz im hinteren Teil der Raststätte ein. Im Nu hatten die beiden einen Esstisch und drei Stühle zwischen den beiden Lastwagen aufgestellt. Beide waren sie von ihren Frauen reichlich mit Essen versorgt worden, sodass bald russische neben philippinischen Leckereien auf dem Tisch standen: Chicken Adobo neben Pelmeni, Reis-Dampfnudeln neben Rote-Beete-Salat. Das war viel besser als die befürchtete Bockwurst mit Kartoffelsalat für einen Preis, für den man woanders ein Entrecôte mit Rosmarinkartoffeln bekommt. Zwischen den beiden Lastwagen waren wir einigermaßen vor dem schneidenden Wind geschützt, und die schräge Sonne wärmte sogar noch ein wenig. Eugen hatte auch noch gesüßten Tee in einer Thermoskanne dabei. Für einen Samowar reiche die Pausenzeit leider nie, entschuldigte er sich.

Die halbe Stunde war schnell vorbei, und das Campingmobiliar rasch verstaut. Kaum dass wir wieder auf unseren rundum gefederten Sitzen thronten, war ich auch schon eingeschlafen. Als ich wach wurde, waren wir schon am Grenzübergang in Passau. An Günther konnte ich immer noch kein Zeichen von Müdigkeit entdecken. Das erschien mir beinahe unheimlich. Ich fragte mich, ob er irgendwelche Aufputschmittel nahm, aber eigentlich konnte ich mir das bei ihm nicht vorstellen.
 



 
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