Rehab(3)

6.

Wir begleiteten Eugen noch bis in ein Industriegebiet am Rande Wiens. Dort löschte er seine Fracht. Er wollte noch am selben Abend ein Stück des Rückwegs hinter sich bringen, und dann bei Verwandten in Süddeutschland übernachten. Wir hatten die Erlaubnis, die nächsten beiden Nächte auf dem Firmengelände zu verbringen. Von dort aus fuhr einmal in der Stunde ein Bus bis zur Ringstraße, der letzte um einundzwanzig Uhr. Für einen abendlichen Ausflug in die Stadt war es damit zu spät. Wir aßen an einer Imbissbude mitten im Industriegebiet und gingen früh schlafen.

Ich war froh über das Sonntagsfahrverbot, das uns einen freien Tag in Wien ermöglichte. Schnell wurde klar, dass sich unsere Vorstellungen von so einem freien Tag kaum überschnitten. Haydn, Schubert, Mahler, Klimt, Schiele, Kraus oder Freud waren einfach nur irgendwelche Nachnamen für Günther; er wäre nie auf die Idee gekommen, das Burgtheater zu besuchen oder den Stephansdom, bei Jugendstil fiel ihm HipHop ein, bei den Wiener Philharmonikern wäre er vermutlich nach fünf Minuten eingeschlafen, und den Spuren der Judenverfolgung ging er auch lieber nicht nach. Worauf wir uns einigen konnten, nachdem ich ihm aufgezählt hatte, was ich in Wien für sehenswert hielt, das waren Naschmarkt, Heurige und Prater. Wir beschlossen also, zusammen auf dem Naschmarkt zu frühstücken, danach bis zum späten Nachmittag getrennter Wege zu gehen, dann einen gemeinsamen Spaziergang über den Prater zu machen, und uns anschließend einen Heurigen für das Abendessen zu suchen. Ich schaffte es in meinen freien Stunden tatsächlich, mir in einem Lunchkonzert das erste von Haydns Russischen Quartetten - gespielt von Mitgliedern der Wiener Symphoniker -anzuhören, und im Kunsthistorischen Museum ein langersehntes Wiedersehen mit Bruegels „Turmbau zu Babel“ und Vermeers „Malkunst“ zu feiern (vor letzterer hatte Sylvia zehn Jahre zuvor meinen begeisterten Vortrag über die Perfektion, mit der Vermeer Oberflächenstrukturen imitierte, durch einen überraschenden ersten Zungenkuss abgewürgt). Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Prater. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich mich ungehemmt kulturellen Genüssen hingegeben hatte, und das auch noch in der Stadt, in der ich das glücklichste Jahr meiner Studentenzeit verbracht hatte. Ich war noch ganz beseelt davon, als ich Günther wieder traf, der mich prompt fragte, ob ich im Puff gewesen sei – so zufrieden habe er mich noch nie gesehen. Er schien mir nicht zu glauben, dass dieser Zustand lediglich durch ein Konzert und ein paar alte Bilder herbeigeführt worden war. Nachdem wir uns eine Weile am Anblick glücklicher Familien und um deren Aufmerksamkeit buhlender Schausteller am Prater erfreut hatten, fanden wir beide, dass es höchste Zeit für den Heurigen war. Wein war nicht Günthers Sache, er trank ihn in großen Schlucken und schüttelte sich eher danach, als dass er den Verästelungen nachschmeckte, aber die zünftige Bedienung und die lachenden Menschen an den Nachbartischen, das gefiel ihm. Wir blieben lange, tranken viel und aßen wenig. Am Ende spendierte ich uns ein Taxi zurück zu dem Firmengelände. Ich spürte die Nervosität des Taxifahrers, der wenig Deutsch sprach, das aber mit breitem Wiener Akzent. Zwei betrunkene Deutsche, davon einer ein Hüne mit wildem Blick und dilettantischen Tätowierungen auf den Unterarmen, ließen sich in ein abgelegenes Gewerbegebiet fahren, das verhieß nichts Gutes. Er sprach immer wieder über Funk mit einem Kollegen in einer Sprache, deren Klang ich keinem Land zuordnen konnte. Ich saß hinten und sah im Rückspiegel, wie seine Augen immer im Wechsel zu Günther, der neben ihm den Beifahrersitz mehr als ausfüllte, und mir wanderten. Er schien auf ein Zeichen zu warten, das unsere bösen Absichten verriet. Als wir vor dem Werkstor anhielten, sprang er noch vor uns aus dem Wagen und sah sich um. Als ich mein Portemonnaie zückte, sah ich, wie auch er in seine Jacke griff, und ich fürchtete schon mich gleich in einer Pfefferspray-Wolke zu winden. Als ich ihm dann einfach das Geld hinhielt und dabei den Betrag auf dem Taxameter großzügig aufrundete, entspannten sich seine Züge kurz. Dann aber griff er ein wenig zu hastig nach dem Geld, bedankte sich knapp und saß im nächsten Augenblick wieder am Steuer und wendete. Günther kramte umständlich in seinen Taschen nach dem Zettel, auf dem er sich den Code für das Werkstor notiert hatte. Als er ihn schließlich fand, hatte er Mühe seine eigene Schrift zu lesen, und es brauchte drei Anläufe, bevor sich das Tor quietschend öffnete und den Weg zu unserem Sattelzug freimachte. Orangene Laternen, an die ich noch an meinem letzten Arbeitstag so sehnsüchtig gedacht hatte, tauchten das ruhende Firmengelände in warmes Licht, das bis in unsere Kojen drang. Im Einschlafen kamen mir davon die Erinnerungen an frühe Nachtfahrten mit meinen Eltern zu Verwandten nach Masuren, durch menschenleere Ortschaften mit fremden Namen, die oft in dem gleichen warmen Licht dalagen, stumm und ungerührt vom Tuckern des alten Dieselmotors.

7.

Am nächsten Mittag schon wälzten wir uns im Blechstrom auf einer überfüllten Tangente an Budapest vorbei. Alles, was zwischen Österreich und Griechenland lag, waren für mich Länder, die ich nur aus Büchern, Artikeln und Nachrichtensendungen kannte. Ich war aufgeregt, obwohl es mit den touristischen Erkundungen fürs Erste vorbei war. Neu waren nur die fremden Worte und Namen auf den Autobahnschildern und die nachlassende Qualität des Straßenbelags außerhalb der von der EU subventionierten Streckenabschnitte. Auch die Fahrzeuge auf den zahlreichen Baustellen ähnelten jenen aus Deutschland. Die Pflanzen an den Böschungen wirkten aber schon trockener, südlicher.

Für die Nacht steuerten wir einen Rastplatz nahe der serbischen Grenze an. In der Schlange des Restaurants, wo wir uns mit – was sonst? – Gulasch eindeckten, kam Günther mit zwei ukrainischen Fahrern ins Gespräch, und sie luden uns ein, noch ein bisschen bei ihnen zu sitzen. Ich verstand etwas von dem, was sie untereinander sprachen, weil meine Großeltern immer Polnisch mit mir gesprochen haben. Die Sprachen ähneln sich. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich über uns lustig machten, über Günthers Krallenhand und mein Hinken. Vielleicht hatte ich sie auch nicht richtig verstanden. Auf jeden Fall hatte ich bald keine Lust mehr, noch draußen in der Kälte mit ihnen um ihren kleinen Ethanolofen zu sitzen und mir ihre Ausführungen anzuhören, über die Qualitäten von Frauen unterschiedlicher Nationalitäten und über die verweichlichten Schwuchteln, die in Westeuropa alles bestimmen würden. Günther dagegen hatte offenbar kein Problem mit solchen Ansichten, auch wenn er selbst sich nicht so äußerte. Er schien Aufmunterung zu brauchen, nachdem Eugen uns verlassen hatte, und lachte selbst bei den ekelhaftesten Sprüchen mit. Ich verabschiedete mich und ging zum Lastwagen. Nach dem langen Sitzen fühlte ich mich steifer als gewöhnlich. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand mich sah, machte ich noch ein paar Dehnübungen an der Beifahrertür. Sylvia hatte mir geschrieben und gefragt, ob ich meine Entscheidung schon bereute. Ich war versucht zu bejahen, aber diesen Triumph wollte ich ihr nicht gönnen. Ich stieg in meine Koje über den Sitzen, nahm die Prothese ab und kroch in meinen Schlafsack. Ich versuchte, noch ein bisschen Orhan Pamuk zu lesen, aber mir fielen die Augen zu. Seltsam, dachte ich noch, dabei habe ich heute so gut wie nichts gemacht.

Ich konnte noch nicht lange geschlafen haben, als mich eine Erschütterung weckte. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wo ich war und stieß im Hochfahren mit dem Kopf an das Dach der Kabine. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl. Ich ließ mich sachte hinunter auf meinen Sitz gleiten und sah mich um. Durch die Fenster sah ich den nächtlichen Rastplatz ruhig daliegen. Die Stellplätze um uns her waren alle von anderen Lastwagen belegt. Drüben auf dem Autoparkplatz standen nur wenige Fahrzeuge. Dahinter schimmerte rot die Tankstelle. Ich sah in den Rückspiegel. Da stand ein dunkel gekleideter Mensch weit hinten am Ende unseres Auflegers, sah sich prüfend um und sprach mit jemandem, der noch weiter hinten stehen musste. Es war nicht Günther, da war ich mir sicher. Ich fischte mein Telefon aus der Koje über mir und rief Günther an. „Karl“, fragte er verwundert, „schläfst du noch gar nicht?“ – „Da macht sich jemand an unserer Fracht zu schaffen“, flüsterte ich. „Was?“, rief Günther - ich glaubte zu hören, wie er aufsprang. „Soll ich die Polizei rufen?“, fragte ich. „Warte, wir kommen“, sagte Günther. Seine mächtige Silhouette tauchte zwischen zwei Lastwagen auf, gefolgt von zwei weiteren, wahrscheinlich den beiden Ukrainern. Ich beeilte mich, meine Prothese umzuschnallen. Draußen hörte ich Geschrei, stark gedämpft durch die Schallisolierung der Fahrerkabine. Ich hatte Schwierigkeiten, in der Enge der Kabine meine Prothese richtig zu justieren. Als ich endlich soweit war, und über die Beifahrertür ausstieg, war es draußen schon wieder still. Ich sah niemanden. „Günther“, rief ich – „Hier hinten“, kam es vom Ende unseres Zuges - 16,5 Meter, das hatte ich mir gemerkt – zurück. Günthers Oberkörper tauchte hinter dem Aufleger auf. Er winkte mir zu. Es wehte ein eisiger Wind. Ich hatte mir noch meine Winterjacke übergeworfen, trug darunter aber nur T-Shirt und Shorts, in die der Wind kroch. Die Prothese war in ihrer ganzen Künstlichkeit zu sehen; und ich bemerkte, wie die beiden Ukrainer zurückwichen, als sie mich sahen.

„Die wollten tatsächlich bei uns einbrechen“, sagte Günther, und zeigte mir die Spuren, die das Brecheisen an den Schlössern hinterlassen hatte. „Dreiste Bande.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Die Ukrainer nickten zustimmend. „War das nicht ein bisschen gefährlich?“, fragte ich, „die hätten doch auch bewaffnet sein können.“ – „Ach“, sagte Günther, „Gewalt ist schlecht für deren Geschäft.“ – „Und wenn sie mit Verstärkung wiederkommen?“, wollte ich wissen. „Ach was“, sagte Günther, „die kommen nicht wieder, die versuchen es jetzt woanders.“



8.

Ich war nicht überzeugt. Günther ließ sich immerhin noch erweichen, der Polizei den Vorfall zu melden. Die kamen auch irgendwann, und ließen sich alles, so gut es ging, auf Englisch erzählen und die Einbruchsspuren zeigen, aber keiner schien auch nur im Entferntesten zu glauben, dass man die Diebe fassen könne. „Das sind gut organisierte Banden“, erklärte mir Günther, „keine Chance, die zu verfolgen.“ Günther legte sich hin und schnarchte sofort, wie ich es noch aus dem Krankenhaus kannte, ich dagegen schlief noch schlechter als sonst, nickte immer nur kurz ein, und schreckte bei jedem neuen Geräusch wieder auf. Die Vorstellung, dass wir am Morgen nach Serbien hinüber und hinaus aus der EU rollen würden, half nicht, meine Sorge zu lindern. Günther winkte ab, als wir losfuhren. „Serbien ist sicher“, sagte er. „Für uns, jedenfalls“, fügte er hinzu. Er behielt Recht; an der Grenze wurden wir von einer stark geschminkten Zollbeamtin in perfektem Deutsch begrüßt und sehr freundlich behandelt. Alle Schilder waren doppelt in lateinischen und kyrillischen Buchstaben beschriftet. Ich war erstaunt über den guten Zustand der Autobahnen, der hier nicht auf EU-Hilfen zurückzuführen sein konnte. Günther erklärte mir das serbische Mautsystem, über das sich in diesem wichtigen Transitland offenbar genug Devisen für die Infrastruktur generieren ließen. Vorbei die Zeiten, als sich entlang der jugoslawischen Straßen die Spuren vieler, oft tödlicher Unfälle zogen. Die Fotos, die ich Sylvia schickte, dokumentierten hinreichend den guten Straßenzustand, aber ich spürte ihr anhaltendes Befremden angesichts dieser Fahrt in ihren knappen Antworten auf meine Nachrichten, in denen ich kleinere Erlebnisse schilderte, immer bemüht, möglichst harmlos zu klingen. Den Vorfall an der Raststätte erwähnte ich vorsichtshalber nicht.

9.

Anfangs hatte ich noch versucht mit Günthers Blase, die mehrere Liter fassen musste, mitzuhalten, aber irgendwann hatte ich aufgegeben und ihn um gelegentliche Pinkelpausen gebeten. Ihm war es recht, es gab ihm die Möglichkeit zu rauchen. Oft war ich dann dankbar, wenn es auf dem Parkplatz kein Klo gab, und ich so einen Grund hatte, mich wenigstens einen kurzen Augenblick mit Pflanzen zu umgeben, nach all dem Grau, das wir ständig vor Augen hatten. Zum Glück war da noch der Himmel mit seinen wechselnden Farben, den weißen und grauen, hohen und tiefen, dichten und lockeren Wolken, der schrägen blassen Novembersonne, an klaren Morgen die Sterne in der letzten Dunkelheit, der Orion mit seinem treuen Begleiter Sirius; einmal war ich mir sogar sicher, knapp über dem Horizont den Merkur zu sehen, über dem flachen ungarischen Land, wo einst das Mittelalter damit begonnen hatte, dass das Heer Ottos des Großen den Ansturm der Magyaren, der Reiter aus Asien, soweit gebremst hatte, dass diese es vorgezogen hatten, dort sesshaft zu werden, wo das Land noch am ehesten ihren heimischen Steppen glich. Auf der Straße waren wir die Größten, niemand kam an uns vorbei, wenn wir es nicht wollten, aber ein Blick nach oben genügte immer, mir unsere Armseligkeit bewusst zu machen. Armselig war meistens auch das Grün, in das ich mich schlug, um auszutreten, kränklich von den Abgasen und von allzu vielen Reisenden, die es mir schon gleich gemacht hatten. So fragwürdig diese Abwechslung von der klimatisierten Kabine war, in der wir den größten Teil des Tages verbrachten, ich genoss sie trotzdem, vor allem weil ich durch die sich langsam verändernde Luft und die neuen Pflanzen an den Böschungen, die die gewohnten ablösten, überhaupt erst ein Gefühl dafür bekam, dass wir uns tatsächlich von der Stelle bewegten.

Auch akustisch gab es nicht viel Abwechslung auf unserer Reise. Die Vierer-CD-Box mit Country- und Western-Musik, die Günther als Soundtrack nahezu ununterbrochen durchlaufen ließ, hätte ich irgendwann komplett mitsingen können, aber das machte Günther schon selbst in einem rührend lautmalerischen Schuljungen-Englisch, und meistens einen guten Viertelton unter dem Original. Fast vierhundert Kilometer ging es durch Serbien, dieses fremde isolierte Land, den Schurkenstaat der Neunzigerjahre, der seinen Schrecken – wenigstens für uns – völlig verloren hatte. Ja, ich muss sogar gestehen, dass ich mich von Peter Handkes Parole „Gerechtigkeit für Serbien“ angezogen fühlte, ohne wirklich etwas über das Land zu wissen, oder mehr als Auszüge aus Handkes Apologien gelesen zu haben.

Obwohl die Novembersonne auch hier tief stand, war es doch schon eine andere, südlichere Sonne, die mehr Kraft in ihrem Lauf gewann. Sie vergoldete die Raststätte, auf der wir die Mittagspause verbrachten, einen ansonsten tristen Ort, der noch deutlich die Begeisterung für rohen Beton erkennen ließ, die in den Sechzigerjahren allgegenwärtig gewesen war. Immerhin konnte ich mich danach rühmen, einmal Serbische Bohnensuppe in Serbien gegessen zu haben. Schließlich kamen wir nach Bulgarien, zurück in die EU. Wir spürten jedoch wenig Erleichterung, denn selbst der Tunnelblick, der sich auf so langen Autobahnfahrten unweigerlich einstellt, konnte uns nicht davor bewahren, immer deutlicher die Armut wahrzunehmen, die aus den Weiten des Landes gierig auf die Unmengen an Gütern starrte, die in endlosen Karawanen, ungerührt von der weit verbreiteten Not, auf der Autobahn vorbeizogen, dorthin, wo man für sie bezahlen konnte. Ich spürte Günthers Anspannung, wenn es langsamer voranging. Er wollte es unbedingt noch über die Grenze in den europäischen Teil der Türkei nach Edirne schaffen, möglichst ohne eine Strafe wegen überzogener Lenkzeit. „Bloß nicht in Bulgarien übernachten“, sagte er ohne weitere Erklärungen. Wir schafften es gerade noch auf einen Rastplatz bei Edirne, wo wir uns mit reichlich gegrillten Fleischspießen belohnten. Ich vertraute auf Günthers Urteil, dass wir dort sicher waren. In einem abendlichen Videogespräch mit Nina zeigte ich ihr die Platte mit den aufgetürmten Fleischspießen, und sie sagte, ich solle nach dem Rezept fragen, und wenn ich wieder da sei, würden wir auch so einen Berg aus gegrilltem Fleisch auftürmen. „Hast du mir nicht erzählt, du willst Vegetarierin werden wie Lisa“, fragte ich. Nina fand, das könne warten bis nach den Fleischspießen.





10.

An Günthers Schnarchen hatte ich mich mittlerweile wieder gewöhnt; trotzdem lag ich noch lange wach in meiner Koje. Jetzt war der Bosporus nicht mehr weit. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich einmal für eine Hausarbeit an der Uni über den Untergang Konstantinopels 1453 gelesen hatte: Bis Mehmed der Zweite beschloss, dem letzten Rest des Oströmischen Reiches den Todesstoß zu versetzen, war Edirne die Hauptstadt des Osmanischen Reiches gewesen, quasi die Speerspitze des Islam, die in das christliche Europa hineinragte. Und Konstantinopel mit seinem letzten römischen Kaiser, Konstantin dem Elften, war die letzte christliche Enklave in Kleinasien gewesen, ein sicherer Hafen und Umschlagplatz für die geschäftstüchtigen Venezianer und Genueser, wenn auch schon lange dem Osmanischen Reich tributpflichtig. Der Kaiser hatte der Vorbereitung seines Untergangs zusehen können: die „Rumelische Festung“, ein sicherer Rückzugsort für die künftigen Belagerer, entstand, für die Byzantiner gut sichtbar, gegenüber auf der anderen Seite der Meerenge. Auf die Hilfegesuche an das Abendland folgten nur leere Versprechungen. Der letzte römische Kaiser fiel im Kampf um die Mauern der Stadt, heißt es. Die griechischen Gelehrten, die nach Westeuropa flohen, sollen dort den Weg für den neuzeitlichen Humanismus und die Renaissance bereitet haben. Damit hatte Mehmed der Zweite in einem einzigen Streich nicht nur die letzte in die Antike reichende Kontinuität gekappt, sondern auch noch der Weg zum Ende des Mittelalters gebahnt. Nichts auf dieser Autobahnraststätte erinnerte an diese Geschichte, und doch bildete ich mir ein, ihre Präsenz noch zu spüren, Untergang und Neuanfang, eng miteinander verschränkt. Schon damals war der Bosporus ein Ort gewesen, an dem viele unsichtbare Linien zusammentrafen. Aber welcher der Kaufleute, die damals ihre Schiffe den Winden und den Launen der Mächtigen anvertrauten, hätte sich vorstellen können, was wir sahen, als am nächsten Mittag endlich die Meerenge vor uns lag? Tanker und Frachter in allen Größen, dicht an dicht, dazwischen kreuzende Fähren, kaum, dass man noch das Wasser zwischen ihnen sah. Hätte ich nicht einmal eine Dokumentation darüber im Fernsehen gesehen, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass unterhalb dieses Getümmels immer noch Seetiere lebten. Ich freute mich darauf, Nina von diesem Anblick und meinen Gedanken in unserem Abendgespräch zu erzählen.

Wir tauchten ein in das Häusermeer Istanbuls und überquerten die Meerenge über die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke; wir waren ein Schwebteilchen im endlosen Warenstrom, der sich in beiden Richtungen zwischen Europa und Asien wälzte. Ich spürte Günthers zunehmende Erleichterung, je näher wir unserem Ziel kamen. Dabei war dieses Ziel auch nur wieder einer dieser zubetonierten Nicht-Orte, wie die meisten unserer Stationen auf dem Weg dorthin. Sie unterschieden sich fast nur darin, wie gut sie instandgehalten wurden, ob die Löcher, die schwankende Witterungen und tonnenschwere Gespanne in die Asphaltdecke rissen, geflickt wurden, ob jemand den Müll entsorgte, ob es irgendwelche Einrichtungen gab, um wenigstens die Basis der menschlichen Bedürfnispyramide –Essen, Trinken, Ausscheiden, Schlafen - zu befriedigen, und ob irgendjemand auf den Zustand dieser Einrichtungen achtgab. Immer wieder kam mir dabei eine Liedzeile von Dota Kehr in den Sinn, die das Absurde meines touristischen Unterfangens auf den Punkt brachte: „Komm wir machen Urlaub im Containerhafen von Venedig…“



11.

Unser Ziel glich unserem Ausgangspunkt so sehr, dass mir ein „Oh wie schön ist Panama“ entfuhr. Aus Günthers Blick entnahm ich, dass er kein Janosch-Leser war. Asphaltflächen, Lagerhallen, Verladerampen, Kräne, Container, Zapfsäulen, andere Sattelschlepper, hohe Zäune, von Stacheldraht gekrönt, und ab und zu ein Streifen tristen Grüns, das war die Welt, in der wir uns bewegten, seit ich mit Günther aufgebrochen war. Er schien damit völlig einverstanden zu sein, ich dagegen musste mich anstrengen, um nicht zu deprimieren. Wenn er von früheren Fahrten, verschiedenen Ladungen und Begegnungen mit anderen Truckern erzählte, leuchtete sein Gesicht vor Begeisterung, und ich gab mir Mühe, meine Langeweile zu verbergen.

Günther war schon häufiger zu Gast bei Aksim Auto Parts gewesen; sie kannten seinen Namen hier; ich musste viel Händeschütteln und Schulterklopfen über mich ergehen lassen; und natürlich gab es starken Tee mit viel Zucker. Der tat gut, denn über den Parkplatz pfiff ein kalter Wind, mit dem ich nicht gerechnet hatte, und obwohl der Stumpf unter der Prothese gegen jeden Luftzug geschützt war, kroch die Kälte doch in ihn hinein und entfachte ein eisiges Feuer. Endlich waren alle Papiere unterschrieben und die Fracht gelöscht. Drei Übernachtungen, das war das Maximum gewesen, das Günther hatte aushandeln können, und viel mehr hätte er vermutlich Sayas wegen auch nicht gewollt. Günther versuchte zwischendurch immer wieder, Kemal auf seinem Mobiltelefon zu erreichen, kam aber nicht durch. Ohnehin war es für eine Weiterfahrt zu spät. Ich hatte keine Lust auf eine weitere Nacht in der Koje. Günther war zunächst skeptisch, als ich ihm vorschlug ein Hotel in der Stadt zu nehmen, aber als ich ihm ein Bild des Hotels zeigte, wo ich ihm ein Einzelzimmer spendieren wollte, direkt neben dem Taksim-Platz, wurde er zwar etwas verlegen, willigte aber doch dankbar ein. Ich telefonierte auf Englisch mit dem Hotel und spürte dabei Günthers bewundernden Blick auf mir, angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der ich dies tat. Wir fuhren mit dem Taxi zu dem Hotel ins Stadtzentrum. Nach so viel sparsamem Hausen auf engem Raum, waren wir schon von der Lobby mit ihrem großen Kronleuchter völlig überwältigt. Es war ein Moment, wie ich ihn mir als junger Mann manchmal gewünscht hatte, wenn ich allzu lange mit kaum Geld in der Tasche per Anhalter unterwegs gewesen war. Einfach mal ein bisschen Luxus. Wir ließen uns das Gepäck von einem Jungen im Livree auf die Zimmer tragen, und ich gab großzügig Trinkgeld. Wir verabredeten, dass ich Günther eine Stunde später abholen würde, und wir dann gemeinsam essen gehen und danach das Nachtleben um den Taksimplatz erkunden würden. Ich atmete auf, als ich die schwere Zimmertür hinter mir zugezogen hatte: es war der erste private Augenblick seit meinem Spaziergang durch Wien. Das Zimmer war sehr sauber, mit dunklem Holz getäfelt und hatte ein großes Fenster. Wenn ich mich ganz rechts an das Fenster stellte, konnte ich links am Ende der Straße einen kleinen Ausschnitt des Taksim-Platzes erkennen. In der mehrsprachigen Informationsbroschüre, die ich auf dem Schreibtisch fand, wurde zwar erklärt, dass der Taksim-Platz die höchste Erhebung im Stadtteil Beyoglu sei, von wo aus schon die Römer ihre Wasserleitungen in alle Richtungen Konstantinopels verteilt hatten, aber von der langen Reihe an blutig niedergeschlagenen Protesten, die erst ein Jahr zuvor einen neuen Höhepunkt erfahren hatte, als die Menschen gegen den Abriss kemalistischer Bauten und die Abholzung des Gezi-Parks demonstriert hatten, fand keine Erwähnung. Ich schob meinen Rucksack in den Kleiderschrank, klopfte den Staub von meiner gefütterten Jacke, die, wie ich feststellte dringend einer Wäsche bedurfte, hängte sie an einem der Messinghaken auf, setzte mich auf den Bettrand, wobei ich tief in die weiche Matratze einsank, krempelte mein ebenfalls nicht mehr ganz sauberes Hosenbein hoch, schnallte die Prothese ab und ließ mich mit ausgestreckten Armen nach hinten auf die makellos weiße Bettdecke fallen. Ich sah über mir den riesigen grünen Deckenventilator, der reglos auf den Sommer wartete. Für den Augenblick war ich froh, dass die Heizung funktionierte. Ich konnte mich noch gut an den einen mediterranen Winter erinnern, den ich in einem kaum zu heizenden Haus in Südfrankreich verbracht hatte. Aber auch wenn der Ventilator stillstand, erfasste mich das kreisende Gefühl, das mich immer befiel, wenn in fremden Räumen die Anspannung einer langen Reise nachließ. Ich schloss die Augen für einen Moment, und sofort sah ich wieder die Markierungen auf dem Asphalt und die Leitplanken an mir vorbeiziehen. Ich richtete mich mühsam auf und hüpfte zum Bad hinüber. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, war ich mir plötzlich unsicher, ob das Leitungswasser trinkbar sei. Also hangelte ich mich wieder zurück, suchte und fand die Minibar, auf der sogar eine offenbar kostenlose kleine Flasche stillen Mineralwassers stand. Ich leerte sie fast in einem Zug, und war gerade noch geistesgegenwärtig genug, mir einen Schluck für meine Abendmedikamente aufzubewahren. Ich überlegte, das Pregabalin vorzuziehen, denn ich spürte schon deutlich wie es im Stumpf zu arbeiten begann. Erst als ich auf die Uhr sah, merkte ich, dass ich tatsächlich eingeschlafen sein musste, als ich auf dem Bett lag. Es war schon Zeit, Günther abzuholen. Ich holte meinen Wochen-Dispenser aus dem oberen Fach des Rucksacks, entleerte das Abendfach in die hohle Hand und spülte alle Tabletten auf einmal mit dem letzten Schluck aus der Flasche hinunter. Ich schnallte meine Prothese wieder an, spritzte mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht, legte ein bisschen Deo nach und ging hinüber zu Günther. Der war tatsächlich geduscht und umgezogen, nach seinem Verständnis wahrscheinlich sogar schick gemacht mit einem bunten Hemd und einer eng sitzenden Jeans. Bis dahin hatte er immer nur weite Cargohosen getragen. Die oberen zwei Knöpfe seines Hemds waren geöffnet, und es quollen nicht nur seine Brusthaare sondern auch Wolken von schwerem Männerparfüm heraus. Ich nickte anerkennend. „Du hast wohl noch einiges vor heute?“, fragte ich ihn. „War doch dein Vorschlag, mit dem Nachtleben“, sagte er. Wir gingen hinüber zum Taksim-Platz, die Hälse in die Jacken gedrückt, um dem kalten Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ich deutete auf das Denkmal in der Mitte des Platzes und sagte: „Kemal Atatürk, der Gründer der Türkischen Republik.“ Günther schüttelte den Kopf. „Du vereimerst mich“, sagte er. „Nein, wieso?“, fragte ich. „Ach, nur so“, sagte er und marschierte immer noch kopfschüttelnd an dem Marmorsockel vorbei. Wir stiegen in die historische Straßenbahn, die die große Einkaufs- und Ausgehmeile Istiklal Caddesi abfährt, und ließen bis zur Endhaltestelle am Galataturm bringen. Nach so viel Autobahn-Eintönigkeit konnte ich mich gar nicht sattsehen an den vielen Menschen links und rechts der Gleise, deren Gesichter im Widerschein der bunten Schaufenster leuchteten. Ich drängte Günther, mit mir den Galataturm zu besteigen, um uns einmal die Stadt von oben anzusehen. Er zögerte. Erst als er hörte, dass es einen Aufzug gab, konnte ich ihn überreden. Die letzten beiden Etagen ging es aber nur noch über eine hölzerne Treppe bis zur Aussichtsplattform, und das war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, wie schnell Günther sich bei Anstrengungen erschöpfte. Als wir oben waren, konnte er kaum zwei Worte aneinanderreihen ohne nach Luft zu ringen. Aber der Anblick schien es auch ihm wert zu sein. Wir sahen den Bosporus im Sonnenuntergang, und die Lichter der Altstadt nach und nach aufleuchten, und lauschten dem scheppernd verstärkten Gesang der Muezzine aus den Minaretten. Am Ende, als uns schon richtig kalt war, bedankte sich Günther bei mir. Er sei schon so oft in Istanbul gewesen, sagte er, aber nie auf die Idee gekommen, irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Wir aßen in einem Grillrestaurant in einer Seitenstraße der Istiklal Caddesi zu Abend. Diesmal bestand Günther darauf, zu bezahlen. Ich zog mich noch kurz in einen Bereich zurück, in dem die Tische leer standen, und tätigte meinen Abendanruf bei Nina. Sie zeigte mir stolz die Umhängetasche, die sie im Kunstunterricht genäht hatte, und für die sie eine Eins bekommen hatte. Als ich zurückkam, standen zwei volle Rakigläser auf dem Tisch, und Günther grinste mich an. Wir stießen an. „Ich habe Kemal erreicht“, sagte Günther, „er hat mir eine Wegbeschreibung geschickt. Ich glaube, Bus und Bahn können wir vergessen.“ – „Wir mieten ein Auto“, sagte ich. „Auf meine Kosten, selbstverständlich. Aber wenn es keins mit Automatik gibt, musst du fahren.“ – „Wenn’s weiter nichts ist“, sagte Günther. Wir bestellten noch einen Raki. Vor dem Restaurant sprach uns ein junger Mann auf Deutsch an. Er kenne gute Clubs hier im Viertel, nicht teuer, schöne Mädchen. Ich bedankte mich artig und wollte weiter, aber Günther war interessiert. Ich versuchte, ihm mit den Augen zu verstehen zu geben, dass das nichts als Abzocke sein konnte, aber er schien mich nicht verstehen zu wollen. Ich weigerte mich, mit dem jungen Mann mitzugehen, Günther zuckte mit den Achseln. Es schien ihm egal zu sein, ob er betrogen wurde, Hauptsache, es wurde eine aufregende Nacht. Und so trennten sich unsere Wege wieder. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn ziehen zu lassen, aber ich wollte mich auch nicht in irgendein Schmierentheater hineinziehen lassen. Ich sah den beiden nach, wie sie in der Menge der Feierlustigen verschwanden. Alleine weiterzuziehen erschien mir witzlos, also kehrte ich ins Hotel zurück, trotz der vielen weiteren Angebote junger Männer, die in meinen Augen alle verblüffend ähnlich aussahen, die gleichen treu blickenden braunen Augen und freundlichen Gesichter, die Kleidung mit den Logos berühmter Sportartikelhersteller, die überdeutlich einladende Körpersprache, die verletzten Mienen, wenn ich dankend ablehnte.

Im Hotelzimmer schnallte ich die Prothese ab und ließ mir ein Bad ein. Die hoteleigene Badeseife schäumte schnell bis über den Rand. Das heiße Wasser beruhigte meinen Stumpf. Wenn ich die Schaummassen auseinander schob, lag er da am Grund der Badewanne wie ein breitmäuliger Wels, bereit sich den nächsten vorbeischwimmenden Stichling zu schnappen.

Ich nahm mir die 0,2er Flasche Efes Pilsen aus der Minibar und die Fernbedienung mit ins Bett und ging einmal alle Kanäle durch. Erdogan war da schon lange Präsident, aber die Verfassungsänderung, mit der er sich nahezu zum Alleinherrscher machte, lag noch in der Zukunft. Trotzdem war seine Präsenz im Staatsfernsehen auch damals schon übermächtig, soviel verstand ich auch ohne Sprachkenntnisse. Auch die Inhalte der privaten Kanäle erschlossen sich mir, ohne dass ich mehr als ein paar Lehnwörter verstand. Eine Weile blieb ich noch bei CNN hängen. Angesichts des G20-Gipfels ging es um Ebola, das Klima, den Islamischen Staat und den inoffiziellen Krieg in der Ukraine. Mir fielen immer wieder die Augen zu. Ich schaltete den Fernseher aus und lauschte durch das gekippte Fenster den Großstadtgeräuschen. Bald schlief ich so fest wie lange nicht mehr. Ich träumte, dass Günther ermordet worden war, und keiner wollte irgendetwas gesehen haben.

12.

Als ich frühmorgens aufwachte, schien mir der Traum noch so real, dass ich mir eilig die Prothese anschnallte und den Hotel-Bademantel überwarf. Günthers Zimmer lag direkt neben meinem. Ich hämmerte wild an die Tür. Ewig tat sich nichts. Ich wollte schon zurück aufs Zimmer, in der Lobby anrufen und Günther als vermisst melden, da ging die Tür auf. Günther sah erbärmlich aus. Sein Gesicht war verschwollen, seine Lippen leicht bläulich und die paar Strähnen, die noch von seinem Haupthaar geblieben waren klebten an seinem mächtigen Schädel. Außer dass er viel getrunken und wenig geschlafen habe, fehle ihm nichts, beteuerte er. Im Gegenteil, er habe eine großartige Nacht hinter sich, und ich wüßte ja nicht, was ich verpasst hätte. „Und du solltest einfach auch noch ein bisschen schlafen, statt hier so einen Terz zu machen, Karl“, sagte er, drehte sich um, und schlurfte in sein Bett zurück. Ich kehrte etwas beschämt, aber vor allem erleichtert, auf mein Zimmer zurück, zog mich richtig an und fuhr mit demAufzug hinab zum Frühstücksraum. Ich gönnte mir ein großes vor Fett triefendes Stück gebratener Sücük-Wurst und hoffte, dass Günther es mir später gleichtun würde. Sonst musste ich mich darauf einstellen, dass er sich auf der Fahrt zu Kemal dauernd über meinen Knoblauchgeruch beschweren würde. Andere strenge Gerüche schienen ihm wenig auszumachen, aber bei Knoblauch war er eigen, dass hatte ich schon mehrfach erstaunt feststellen müssen. Ich fragte an der Rezeption nach einem Mietwagen. Der junge Concierge strahlte so, dass ich vermutete, dass er eine Provision dafür kassieren würde. Sollte er. Ich wollte möglichst wenig Umstände. Eine Viertelstunde später war alles arrangiert: pünktlich zum Check-out würde ein Kleinwagen mit Automatikgetriebe am Hotel vorfahren, und wir brauchten nur noch einzusteigen. Kreditkarten sind manchmal etwas Feines. Als ich auf dem Weg zurück in mein Zimmer aus dem Fahrstuhl treten wollte, stand plötzlich Günther vor mir. Er sah immer noch ziemlich mitgenommen aus, aber sehr zufrieden dabei. Ich empfahl ihm Sücük zum Frühstück. Er wollte es sich überlegen. Als er eine halbe Stunde später bei mir klopfte, hatte ich schon gepackt. „Hast du schon eine Idee, wie wir zu Kemal kommen“, fragte er. Ich erzählte ihm von dem Mietwagen, und er schüttelte nur wieder ungläubig den Kopf. „So einfach ist das also, wenn man Geld hat“, sagte er. „Pack deine Sachen“, sagte ich, „wir wollen nicht zu spät los.“ Nachdem ich mich so viele Tage seinem Alltag untergeordnet hatte, befreite es mich, die Führung zu übernehmen, und Günther schien auch bereit, sie mir zu überlassen. Eine knappe Stunde später schoben wir uns mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit durch die überfüllten Straßen im Stadtzentrum. Am Anfang warf Günther noch misstrauische Blicke in meinen Fußraum, und warnte mich immer wieder vor den Motorradfahrern, die tollkühn durch jede sich bietende Lücke links und rechts an uns vorbeidrängten. Aber mit der Zeit fügte er sich in seine Beifahrerrolle und schien mir auch zuzutrauen, alleine meinen Weg zu finden. Das eingebaute Navigationsgerät hatte ziemlich lange gerechnet, bis es angab, die beste Route zu den Koordinaten zu kennen, die Kemal Günther durchgegeben hatte. Es dauerte ewig, bis wir die letzten Ausläufer der Stadt hinter uns gelassen hatten. Irgendwann sahen wir zu unserer Linken das Schwarze Meer graublau daliegen, während sich zu unserer Rechten das Pontische Gebirge immer höher auftürmte. Es ging es noch mehrere Stunden auf einer Schnellstraße die Küste entlang, schließlich fuhren wir ab. Aus Straßen wurden löchrige Sträßchen, schließlich Schotterpisten. Ich wollte schon bereuen, dass ich mich gegen einen Allradantrieb entschieden hatte. Überall zweigten jetzt Auffahrten zu kleinen Anwesen ab, vieles schien noch im Bau. Ich hatte mir die Schwarzmeerküste ähnlich karg vorgestellt wie die vielen Küsten des Mittelmeers, die ich in meiner Jugend bereist hatte. Und das Wissen um die Lebensfeindlichkeit des Schwarzen Meeres, das ab einer gewissen Tiefe fast keinen Sauerstoff mehr enthält, hatte die Erwartung von Öde noch verstärkt. Stattdessen fuhren wir an nebligen Hängen entlang, an denen sich Tee-, Tabak- und Haselnussplantagen hinzogen. Hätte mir jemand die Bilder gezeigt, die wir während der Fahrt aufnahmen und mich gefragt, wo das sei, hätte ich vermutlich „Indien“ geantwortet.

13.

An einem dieser Hänge, so weit abseits, dass keines unserer Mobilgeräte mehr ein Signal empfing, fanden wir nach einigem Suchen Kemals Haus, oder das, was davon schon stand. Kemal kam uns aus dem Haus entgegen, als wir im hohen Gras neben einem rostigen Pflug parkten. Kemal lief noch breitbeiniger als in meiner Erinnerung. Ich fragte mich, ob seine Polyneuropathie noch weiter fortgeschritten war. Er sah dabei wie immer unverschämt gut aus, braungebrannt, schlank, und noch muskulöser als damals im Krankenhaus. Er strahlte und umarmte uns beide, als wir aus dem Auto stiegen. Die Luft war kühl und feucht und erinnerte mich an Spätsommer in deutschen Mittelgebirgen. Hinter Kemals tauchten weitere Gesichter auf, Kinder mit großen braunen Augen und zwei Jugendliche, die respektvoll Abstand hielten. Kemal führte uns zu ihnen, es mussten an die zehn sein, und stellte sie uns als Neffen und Nichten vor, mit vielen Namen, die ich noch nie gehört hatte und gleich nach dem Händeschütteln wieder vergaß. Kemals halbfertiges Haus war offenbar ein beliebter Abenteuerspielplatz. Die Kinder kletterten auf halbfertigen Mauern herum, sprangen durch die noch unverglasten Fenster und hangelten sich an freiliegenden Stahlträgern entlang. Wir waren ihnen ein willkommenes Publikum, insbesondere Günther, der bei besonders waghalsigen Sprüngen großzügig applaudierte. Kemal deutete auf die zwei schlaksigen Jugendliche, Kazim und Kaan, die sich der Akrobatik-Show nicht angeschlossen hatten. Sie seien die einzigen, mit denen er hier etwas anfangen könne, sagte Kemal, sie seien zu Besuch aus dem Osten, dort wo seine Frau herkomme, sie seien auch Lasen, wie seine Frau. „Lasen?“, fragte Günther. „Ja, Lasen“, sagte Kemal. Ich sprang ein und erklärte Günther, was ich gelesen hatte, dass die Lasen ein kleines Volk mit einer eigenen Sprache an der östlichen Schwarzmeerküste seien. „So so, Lasen“, sagte Günther. „Ohne die beiden wüsste ich oft gar nicht, wie ich weitermachen soll“, sagte Kemal, „die ganzen kleinen Sachen, Löcher bohren, Verfugen, die kann ich nicht mehr, ich merke meine Hände oft kaum noch.“ Er hielt seine schwieligen Pranken hoch und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll, ich bin doch erst fünfzig.“ Alle Freude war auf einmal aus seinem Gesicht gewichen. „Mensch Kemal, stimmt ja“, rief Günther da und haute Kemal mit seiner gesunden Hand auf die Schulter, „du hattest doch gerade erst Geburtstag, herzlichen Glückwunsch.“ Kemal rang sich ein Lächeln ab. „Habt ihr denn nicht groß gefeiert?“, fragte Günther. „Das ist bei uns nicht so üblich“, sagte Kemal. „Wo sind denn deine Frau und deine Töchter?“, fragte ich. „Zuhause in Castrop-Rauxel“, sagte Kemal, „ist ja noch Schule. Außerdem kommen meine beiden Großen jetzt in ein Alter, wo wir erklären müssen, warum wir sie noch niemandem versprochen haben.“

Kemal führte uns herum. Das zweigeschossige Haus war in den Hang hineingebaut. An den Felsen hinter dem Haus entdeckte ich Sprenglöcher. Wo einmal der Garten entstehen sollte, wuchs noch dichtes Gestrüpp, durch das nur zwei Pfade führten. Auf dem einen kam man zu einer hölzernen Latrine, auf dem anderen zu einem gemauerten Grill, dessen Boden vollkommen mit einer fettig glänzenden Rußschicht ausgekleidet war, so als werde er schon seit Ewigkeiten ausgiebig genutzt. Neben dem Grill standen auf einer kleinen gerodeten Fläche zwei weiße Plastiktische und jede Menge Plastikstühle. Nach der Besichtigung der „Außenanlagen“ betraten wir den Rohbau über die schon fertig gegossene Terrasse. Wir stiegen über eine ungesicherte Betontreppe in den ersten Stock, der bisher nur aus dem Boden und einigen Pfeilern bestand. Von dort aus konnten wir das Meer sehen und links und rechts die grüne Küste. Kemal strahlte wieder, als er die Anerkennung in unseren Gesichtern sah. „Ihr müsst unbedingt noch einmal kommen, wenn das Haus fertig ist“, sagte er. Unten zeigte er uns die Feldbetten in zwei ansonsten kahlen Räumen, in denen wir schlafen würden. „Oder wollt ihr lieber wieder zusammen in ein Zimmer, wie damals“, fragte Kemal. Er grinste, als ich schnell beteuerte, dass das so in Ordnung sei. Auch er erinnerte sich wahrscheinlich noch lebhaft an Günthers durch die Resonanz in seiner tonnenförmigen Brust gewaltig verstärktes Schnarchen, das ich in den letzten Nächten erneut zu fürchten gelernt hatte. Die Wasserleitungen zum Haus waren schon verlegt, aber es gab nur einen Wasserhahn außen am Haus. Das Wasser floss in ein grob gemauertes Becken ab. Für den Strom betrieb Kemal einen alten Dieselgenerator, dessen lautes Tuckern man wahrscheinlich noch unten an der Küste hören konnte. Dort, wo einmal die Küche entstehen sollte, stand ein grob gezimmertes Regal, das ein bisschen zusammengewürfeltes Geschirr und Besteck enthielt. In der Mitte stand ein ebenfalls grober Holztisch mit weiteren weißen Plastikstühlen. Der Strom für den Kühlschrank kam tagsüber aus dem Dieselgenerator; nachts war es kalt genug, dass auch so nichts schlecht wurde, erklärte uns Kemal. In dem Kühlschrank lagerte reichlich Fleisch: Rind, Lamm und Ziege, sowie mehrere der unbeschrifteten Raki-Flaschen, an die wir uns aus der gemeinsamen Krankenhauszeit noch lebhaft erinnerten.



14.

Die Vorfreude, die der Inhalt von Kemals Kühlschrank geweckt hatte, erfüllte sich am Abend. Wir saßen, in Flickendecken gehüllt, an dem Tisch neben dem Grill und spielten Skat wie damals. Kazim wendete die Fleischstücke auf dem Rost für uns. Das Fett triefte zischend in die Glut, die Schwaden von Grillaroma, die herüberzogen, ließen mir buchstäblich das Wasser im Munde zusammenlaufen. Noch bevor die ersten Stücke durchgebraten waren, hatten wir die erste Rakiflasche geleert, mit nichts als ein paar gesalzenen Sonnenblumenkernen im Magen. Kemal hatte uns gezeigt, wie wir die Kerne mit den Zähnen und der Zunge aus ihren Hüllen befreien konnten. Wir hatten uns beide abgemüht, aber die Anstrengung, um an die Kerne zu kommen, hatte mehr Energie verbraucht, als wir uns durch den Genuss der Kerne zuführen konnten. Unsere Bemühungen hatten die Kinder erheitert, die in respektvollem Abstand zu uns ihre eigenen Grüppchen bildeten. Kaan hatte die Kleineren zurechtgewiesen, und ab da schwiegen sie. Es war den ganzen Tag nicht warm gewesen, aber zumindest kühlte die feuchte Luft am Abend nicht zu sehr ab, sodass wir noch lange im Dunkeln sitzen blieben, auch als wir die Karten kaum noch erkennen konnten und sie schließlich weglegten. Wir erzählten uns gegenseitig unsere mehr oder weniger erfolgreichen Wiedereingliederungsgeschichten. Günther berichtete von dem verkehrsmedizinschen Gutachten, dass er auf Anraten des Betriebsarztes hatte erstellen lassen: „Den hättet ihr sehen sollen, den Gutachter, als ich ihm erzählt habe, welche Medikamente ich alles schlucke. Ich glaube, der dachte erst, ich verarsche ihn. Und dann bei den Tests: alles im grünen Bereich. Sowas hat er noch nie gesehen, hat er gesagt.“ Kemal erzählte, dass er in einen Bereich versetzt worden war, wo er nicht mehr so vielen giftigen Dämpfen ausgesetzt war. Aber das Kribbeln und die Gefühllosigkeit in seinen Händen und Füßen schritten trotzdem weiter voran. Er hoffte auf genügend Prozente für die Frühverrentung. Ein Anwalt, dem er schon viel Geld gezahlt hatte, hielt seine Chancen für gut. Günther sagte, er werde sich eher umbringen, als früher mit der Arbeit aufzuhören– dabei zwinkerte er mir so demonstrativ zu, dass mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Wenigstens konnte ich davon ausgehen, dass Kemal das im Schein der Glut nicht bemerkte. Ich hörte Günther nicht weiter zu, so schmerzhaft war die Erinnerung an meinen Selbstmordversuch zurückgekehrt. Ich konnte schon lange nicht mehr verstehen, was mich damals geritten hatte. Heute erschien mir meine Aktion auf dem Balkon unfassbar kindisch. Ich war über mich selbst erstaunt, als ich mich im Anschluss an Günthers Ausführungen sagen hörte, dass mir mein Job eigentlich keinen Spaß mehr mache, und dass ich überlegte, mir etwas anderes zu suchen. Die beiden wurden neugierig; was mir denn da so vorschwebe, wollte Günther wissen. In seiner Branche würden immer Leute gesucht, flachste er. Ich sagte: „Irgendwas, wo nicht jeder vom anderen denkt, der will mir doch bloß mein Pausenbrot klauen, irgendwas Ruhiges, wo man nicht nur zu denen nett ist, die einem gerade nützen.“ Das konnten beide verstehen. Sie fanden, auf der Arbeit müsse man füreinander einstehen, damit die Chefs nicht mit einem machten, was sie wollten. Günther erzählte, wie sie unter Tage einmal alle beschlossen hatten, ab sofort nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, und wie der Vorarbeiter nach zwei Wochen angekrochen gekommen sei, und vor versammelter Mannschaft Zugeständnisse gemacht habe. Kemal, der bei einem Karosseriebauer arbeitete, erzählte, wie sie den ersten Betriebsrat gegründet hatten, nachdem der Betrieb sich soweit vergrößert hatte, dass die Arbeiter nun ein Recht darauf hatten. Ich musste grinsen bei der Vorstellung wie Lennart und Lasse beim ersten Aufkeimen von innerbetrieblicher Arbeitnehmerorganisation mit Gegenargumenten loslegen würden: das Herzblut, aus dem die Firma hervorgegangen sei und von dem sie bis heute lebe, die flache Hierarchie, die kreativen Freiräume, die sie ihren Mitarbeitern ließen, die gute Gesprächskultur; lange hatte ich ihnen diese Worthülsen tatsächlich abgenommen. Mittlerweile sah ich nur noch, wie sehr die beiden auf die Selbstausbeutung jedes Einzelnen setzten, um noch mehr Gewinn zu machen. Dabei war es durch die schiere Masse an Aufträgen, die sie uns anzunehmen nötigten, gar nicht zu schaffen, Ergebnisse zu liefern, die einen selber befriedigten. Da war ich schon an die zweitausend Kilometer weit weg von diesem täglichen Irrsinn, aber es reichte immer noch nicht, um mich davon frei zu machen - ich wollte wirklich weg aus meinem alten Leben, das nicht mehr das alte war, seitdem mir ein Fuß und ein halber Unterschenkel fehlten, und ich jeden Tag Tabletten schlucken musste, um die Schmerzen auszuhalten. Das sah ich zum ersten Mal so klar an jenem Abend, als die übrige Welt im Rakidunst verschwamm – oder waren es die Nebelbänke, denen ich schon den ganzen Abend dabei zugesehen hatte, wie sie vom Meer her die Hänge hochkrochen? Hatten sie uns erreicht und hüllten uns jetzt ein?

15.

Wie ich in mein Feldbett gekommen war und wer mir die Schuhe ausgezogen hatte, wusste ich am nächsten Morgen nicht mehr. Unter den drei Wolldecken war es warm, aber meine Nase fühlte sich eisig an. Ich sah den Wolken kondensierten Atems nach, den sie ausstieß. Ich war froh, dass ich meine Mütze immer noch aufhatte. Mir war nicht übel, ich hatte keine Kopfschmerzen, aber ich fühlte mich unendlich schwach und klein unter meinen Decken in dem nackten Raum, in den blasses Licht aus einem wolkenverhangenen Himmel fiel. Es gab noch keine Türen und ich hörte Günther im Nachbarraum schnarchen. Während seiner langen Atemaussetzer hörte ich die Blätter in den umgebenden Büschen rascheln. Wenn ich die Augen wieder schloß, sah ich immer noch die Autobahn vor mir, die beinahe meditative Eintönigkeit des Asphalts, die wandernden Lichter in der Nacht, ich spürte wieder das einschläfernde Vibrieren des riesigen Dieselmotors, ich hörte den nie abreissenden Strom der vorbeiziehenden Autos, ich roch wieder die allgegenwärtigen Abgase. Aber auch der wandernde Horizont tauchte wieder auf, Berge und weite Ebenen, Felder und Weiden, ab und zu das Glitzern der Donau, dort, wo die Autobahn nah genug an sie herangebaut worden war, und über allem die immer schräg stehende Sonne auf ihrem geduckten Gang über den Herbsthimmel. Es kam mir vor, als hätte ich schon Stunden so gelegen, als schließlich Kemal mein Zimmer betrat. „Frühstück ist fertig“, sagte er. „Ich dachte, ihr schlaft beide noch“, sagte ich. Im gleichen Moment dröhnte wieder ein gewaltiger Schnarcher von nebenan herüber. Wir grinsten uns an. Ich schwang mich aus dem Bett. Die Kälte und der Kater hätten mich um ein Haar wieder in die Horizontale zurückgezwungen. Kemal sah mich am Bettrand wanken und mich wieder zurückfallen lassen, und bedeutete mir, es mit dem Aufstehen nicht noch einmal versuchen. Er verließ das Zimmer, rief etwas, und kurz darauf erschien Kazim, mit einer dampfenden Mokkatasse auf einem kleinen Plastiktablett. „Warte einen Augenblick, bis der Kaffee sich gesetzt hat“, rief Kemal aus dem Nachbarzimmer. Ich versuchte, meine kalten Hände an der kleinen Tasse zu wärmen und schloss noch einmal die Augen. Nach ein paar Minuten nippte ich zum ersten Mal. Sofort fühlte ich mich kräftiger. Im ersten Augenblick hatte es mich befremdet, dass Kemal den Jungen geschickt hatte, mir den Kaffee zu bringen, aber dann ahnte ich, dass er selbst vermutlich auf dem kurzen Weg den ganzen Kaffee verschüttet hätte. Viel schneller als mir lieb war, hatte ich beim weiteren Nippen nur noch krümeligen Kaffeesatz im Mund, aber nach einem weiteren Mokka zu fragen traute ich mich nicht. Ich schlüpfte in meine Jacke und ging Kemal nach ins Freie. Unterwegs hielt ich kurz an dem Wasserhahn über dem gemauerten Becken an und drehte ihn auf. Erst stotterte er etwas, aber dann kam klares Wasser mit hohem Druck aus der Leitung geschossen. Ich schöpfte mir etwas von dem eiskalten Wasser ins Gesicht und trank auch ein paar Schlucke, bis es wehtat an den Zähnen. Ich fand Kemal auf einem kleinen Vorsprung, der einem bei klarerem Wetter wahrscheinlich einen Rundumblick ermöglicht hätte. Das Meer war vor lauter Nebel nicht zu sehen. Einzelne Schwaden blieben ringsum in den Büschen hängen. „Irgendwie hatte ich mir deine Heimat anders vorgestellt“, sagte ich zu Kemal, dessen Blick sich im Nebel verlor. „Und ihr redet immer davon, wie schön grün Deutschland ist“, sagte er. „Naja, Castrop-Rauxel ist da vielleicht nicht repräsentativ“, sagte ich. „So wie hier, dieses Grün“, sagte er, „das zieht sich die ganze Schwarzmeerküste entlang. Wusstest du, dass fast alle Haselnüsse in Deutschland von dieser Küste hier kommen? Meine Eltern, die haben als junge Leute ihr Geld mit Haselnussernten verdient, bevor sie nach Deutschland gekommen sind. Jedes Mal, wenn ihr euch morgens euer geliebtes Nutella aufs Brot schmiert, schmeckt ihr, wie fruchtbar dieses Land hier ist, wie reich es sein könnte; aber die Preise für Haselnüsse und Tee, die bestimmen andere Leute, die irgendwo weit weg in teuren Büros sitzen und teure Anzüge tragen.“ „Wirklich schön hier“, sagte ich.
 



 
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