Rehab(4)

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16.

Nach dem Frühstück, zu dem auch Günther erschienen war und schweigsam auf seinem Börek herumgekaut hatte, fuhren wir zu dritt mit dem Mietwagen hinunter zur Küste. Die beiden anderen wateten mit hochgezogenen Hosen ins Wasser. Ich sah ihnen aus sicherer Entfernung zu. Salzwasser war Gift für meine Prothese, und auf einem Bein ins Wasser zu hüpfen konnte ich mir damals nicht vorstellen. Heute mache ich das einfach. Auch schwimmen geht längst wieder, wenn auch nur Kraul und Rücken. Damals schien es mir unmöglich, dass ich mich jemals wieder genussvoll durchs Wasser bewegen würde. Kemal dagegen schwor darauf, dass das Schwarzmeerwasser das einzige sei, was gegen das Kribbeln in seinen Füßen helfe. Zu Mittag aßen wir sehr frischen Fisch in einem Lokal, das aussah, als sei es aus Treibholz zusammengezimmert worden; es lag ganz nah am Meer, aber das Meer war durch den Nebel nicht zu sehen. Wir hörten dem Brechen der Wellen am Ufer zu und sprachen nicht viel, was sicher gesünder war, denn der Fisch, so lecker er schmeckte, steckte voller Gräten. Nach dem Essen fuhr ich die beiden die Serpentinen wieder hinauf zu Kemals Baustelle. In der Zwischenzeit hatte sich weitere Verwandtschaft eingefunden, jetzt waren auch Erwachsene gekommen. Ein paar Frauen schalten Kemal dafür, dass er uns mit ihm auf der Baustelle hatte übernachten lassen. Man bot uns an, in eines der fertigen Nachbarhäuser umzuziehen, aber wir zogen es vor, bei unserem alten Leidensgenossen zu bleiben. Zu uns gesellte sich noch ungefragt Cousin Mehmet, der viele Jahre in Deutschland verbracht und in dieser Zeit offenbar genug Geld verdient hatte, um hier als eine Art Grandseigneur aufzutreten. Er fuhr mit einer neuen schwarzen S-Klasse auf der Baustelle vor. Seine teure Sonnenbrille trug er wie einen Haarreifen auf dem Kopf und übergoss uns drei mit einem Redeschwall, der Kemal völlig verstummen ließ. Aber auch Günther, der sonst den Jovialen in unserer Runde gab, schien durch Mehmets Auftreten verunsichert. Bald wussten wir, ohne eine einzige Frage gestellt zu haben, genau Bescheid, wie viel sich als Zwischenhändler in der Belieferung türkischer Supermärkte in Deutschland verdienen ließ. Mehmet betonte auch immer wieder, wie oft er Kemal angeboten habe, bei ihm einzusteigen, und wie bockig der bei seinem Knochenjob geblieben sei. „Und schaut euch an, was er davon hat“, sagte Mehmet und deutete auf Kemals Hände und Füße, „die haben ihn kaputt gemacht in Deutschland, so viele von unseren Leuten haben sie kaputt gemacht in Deutschland.“ Mehmets Stimme überschlug sich; ich fragte mich, ob gleich noch Tränen fließen würden. Ich sah, wie Kemal sich beschämt abwandte. Ich überlegte, ob ich es auf eine Diskussion ankommen lassen sollte, und war dann dankbar, als Günther einfach das Thema wechselte. „Schönes Auto hast du da, Mehmet“, sagte er, „darf ich mal sehen?“ Steilpass für Mehmet, sofort ging es los wie früher beim Autoquartett: 455 PS, 4,7 Liter Hubraum, von Null auf Hundert in 4,8 Sekunden, die Zahlen kamen ohne einen Moment des Nachdenkens. Aber auch Günthers Augen fingen an zu leuchten. Sie unterhielten sich über die neuen Sicherheits-Features und verglichen die elektronischen Assistenzsysteme der Limousine mit denen von Günthers Schlepper. Mehmet demonstrierte die Leistungsfähigkeit des Audiosystems, indem er einen Tarkan-Hit voll aufdrehte. Dabei umringten uns die Kinder, die ihr Spiel auf der Baustelle unterbrochen hatten, um andächtig der Unterhaltung zu lauschen, obwohl sie nichts verstanden. Am Ende lief es natürlich auf einen erneuten Ausflug zu viert in Mehmets Auto hinaus. Mehmet ließ Günther das kurze Stück bis zu Hauptstraße fahren, und Günther machte seiner Begeisterung wortreich Luft. Kemal und ich saßen hinten und sahen aus den Fenstern hinaus in die immerfeuchte Luft. Wenn wir uns ansahen, schüttelten wir beide den Kopf. Wir fuhren tatsächlich fast ausschließlich an riesigen Tee- und Haselnussplantagen vorbei.

Insgeheim ärgerte mich, dass wir schon wieder im Auto unterwegs waren. Das war nie meine Art gewesen, Urlaub zu machen. Bis Nina geboren wurde, und noch in den ersten zwei Jahren danach, als sie noch klein genug gewesen war, um sie im Tragegurt mit sich herumzutragen, hatten Sylvia und ich im Urlaub immer ausgedehnte Wanderungen unternommen. Aber selbst als sie größer war, ertrugen wir oft lieber ihr Gequengel auf Spaziergängen und versprachen Kuchen, Eis, Schnitzel mit Pommes oder Karussellfahrten, als unnötig viel motorisiert unterwegs zu sein. Für Günther, Kemal und Mehmet schien dagegen keine andere Fortbewegungsweise ernsthaft in Betracht zu kommen. Dass mein Bein mir damals noch nicht erlaubte, wieder längere Strecken auf ihm zurückzulegen, dass ich damit tatsächlich auf diese Autofahrten angewiesen war, um wenigstens einen kleinen Eindruck zu bekommen von dem fruchtbaren Landstrich, in dem wir uns befanden, drückte mir aufs Gemüt. Einzig der Trotz gegenüber Sylvia, der ich unbedingt beweisen wollte, dass es eine gute Idee gewesen war, Günther hierher zu begleiten, hinderte mich daran, völlig in Schwermut zu versinken. Damals konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass die Stumpf- und Phantomschmerzen jemals nachlassen würden. Dass ich, wie im Sommer vor dem Unfall, noch einmal eine Hüttenwanderung in den Alpen würde unternehmen können, schien mir völlig ausgeschlossen. Und so starrte ich missmutig durch die getönte Scheibe auf das fast schon obszön üppige Grün um uns. Die Innenkabine der Limousine war so schallgeschützt, dass die Landschaft draußen komplett verstummte; auch von dem viel zu starken Motor, der uns zog, war kaum mehr als ein Summen zu spüren. Als Mehmet auch noch die Anlage aufdrehte, und die Bässe einem durch die Ledersitze in den Hintern krochen, konnte ich nicht mehr anders, als die Augen zu schließen und mich weit weg zu wünschen. Mehmet brachte uns zum Haus eines Haselnuss-Großbauern. Dessen Architekt schien es darauf angelegt zu haben, jedes orientalische Klischee wenigstens einmal irgendwo unterzubringen. Umso erstaunter war ich dann, als ich verstand, dass der kleine freundliche Mann mit den schwieligen Händen, der uns den Tee servierte, der Besitzer dieses Palasts war. Auf meine Nachfrage erzählte Kemal, dass dieser Mann, Orhan, die ganze Pracht nur für seine Frau habe errichten lassen. Er vergöttere seine Frau, die aber sei nie zufrieden, wolle immer noch mehr Luxus. Das Ganze sei eine Schande für die ganze Gemeinde. Die Geschichte erinnerte mich verdächtig an das Märchen vom Fischer und seiner Frau, und ich fragte mich, welche göttliche Strafe die missgünstige Gemeinde wohl für diese Hybris im Sinn hatte.

17.

Als wir abends zurückkamen, und Mehmet gleich wieder die Glut im Grill anfachte, gab ich vor, mich krank zu fühlen und zog mich in meine Mönchszelle zurück. Ich wollte allein sein. Außerdem fühlte sich mein ganzer Körper nach so viel Herumsitzen verkrümmt und verkürzt an. Mein Rücken war eine einzige Verspannung, und der Stumpf schmerzte wieder mehr. Ich fing vorsichtig mit Übungen an, die ich in der Physiotherapie gelernt hatte, und hoffte, dass mich keiner der anderen dabei erwischte. Natürlich kam Günther genau in dem Moment herein, als ich im Handstand an der Wand lehnte. Er leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. „Karl? Was ist denn hier los?“ Er brach in Gelächter aus, das nahtlos in ein angsteinflößendes Husten überging. Er musste sich am Türrahmen abstützen. „Ist es mal wieder so weit, dass du am Rad drehst?“, fragte er. „Quatsch“, sagte ich und stieß mich möglichst sachte von der staubigen Wand ab, um ihm nicht noch mehr Anlass zum Spotten zu bieten. Ich landete tatsächlich halbwegs elegant auf meinem linken Fuß und konnte mich dann mit der Prothese rechts abstützen. Das war das erste Mal, dass mir das gelang, seit ich diese Übung in mein Programm aufgenommen hatte. „Mal ernsthaft“, sagte Günther, „was wird das hier?“ – „Ich mache einfach da weiter, wo sie in der Therapie mit uns aufgehört haben“, sagte ich. „Ich war mal ein sportlicher Mensch, da will ich wieder hin.“ Günther schüttelte den Kopf. „Ach Karl, mach dir doch nichts vor, wir sind Krüppel, wir bleiben Krüppel.“ – „Ich kann gar nicht glauben“, sagte ich, „dass das von dir kommt: du kannst mir doch nicht erzählen, dass deine Hand ganz von alleine wieder so gut geworden ist.“ – „Ja klar“, sagte Günther, „irgendwie mache ich es auch so, wie sie es im Krankenhaus gesagt haben. Ich benutze die Hand einfach, so gut es geht. Aber von dem ganzen Übungsquatsch halte ich nichts. Das hat mir nichts gebracht.“ – „Weißt du doch gar nicht“, sagte ich. „Doch, das merkt man doch“, sagte Günther. „Naja“, sagte ich, „mir hat sowas immer gut getan.“ – „Klar“, sagte Günther, „du sitzt ja auch die ganze Zeit nur rum bei der Arbeit.“ – „Na komm“, sagte ich, „ist jetzt auch nicht so, als würdest du dich beim LKW-Fahren die ganze Zeit bewegen.“ – „Das stimmt“, sagte Günther, „aber LKW fahren, das mache ich auch erst seit die anderen Sachen nicht mehr gehen. Ist schließlich schon mein dritter Beruf. Erst unter Tage, dann als die Zeche dichtgemacht hat, haben sie mir die Umschulung zum Schweißer bezahlt. Und erst als das nicht mehr ging, wegen der Lunge, habe ich angefangen mit LKW-Fahren. Manchmal ärgere ich mich noch, dass ich da erst so spät drauf gekommen bin. Jetzt ist die Lunge schon im Arsch, da ist nix mehr zu machen. Aber als das mit der Hand kam, dachte ich, nee, so nicht, das Fahren lasse ich mir nicht auch noch nehmen. Und du siehst ja, wie gut das klappt, mit der ganzen Elektronik, die für einen arbeitet.“ – „Ja“, sagte ich, „manche Sachen sind tatsächlich besser als früher.“ Günther nickte bedächtig, so als hätte ich da etwas sehr Tiefgründiges gesagt. „Komm“, sagte er „lass uns essen, du bist doch gar nicht wirklich krank.“

Es war unser tatsächlich schon unser letzter Abend vor der Rückreise, da konnte ich schwer nein sagen. Ich hielt mich dieses Mal aber zurück mit dem Raki, während die drei anderen es sichtlich darauf anlegten, dass irgendwann gar nichts mehr ging. Als sie sich immer öfter in den Armen lagen und Fußballlieder grölten und mir reihum mit saurem Atem Geheimnisse anvertrauen wollten, verabschiedete ich mich doch wieder. Ich lag noch lange wach auf meinem Feldbett, sah meinem kondensierenden Atem zu und lauschte abwechselnd dem Gegröle und dem Rauschen der Nacht.

18.

Am nächsten Morgen trank ich noch einen Abschiedskaffee mit Kemal, der von dem Gelage des Vorabends wie immer wenig angefasst schien. Wir wärmten uns an der letzten Glut im Grill. Um uns her lag wieder dichter Nebel. Mehmet war noch nachts nach Hause gefahren, was ihm vermutlich nur dank der vielen Assistenzsysteme in seiner Limousine gelungen war. Ich hoffte, dass er unterwegs niemanden überfahren hatte, ohne es auch nur zu merken. Günther ließ wie immer auf sich warten. Als er sich endlich zeigte, sah er zerstört aus, ein vorgealterter, hustender und fluchender Mann, der kaum seinen Kaffee herunterbekam. Wir warteten noch, bis sich der Nebel ein wenig gelichtet hatte, dann umarmten wir Kemal zum Abschied und machten uns auf den Rückweg nach Istanbul. Jetzt war Günther der, der schweigend aus dem Fenster starrte, während in mir in beim Blick auf das Schwarze Meer die Erinnerungen an die griechischen Sagen zurückkehrten, deren Nacherzählungen ich als Kind wieder und wieder gelesen hatte. Ich erzählte Günther von den Argonauten, dem Goldenen Vlies, Jason und Medea, alles, was sich an dieser damals noch so wilden, den Griechen fremden Küste abgespielt haben sollte. Günther grunzte nur ab und zu; ich war mir nicht einmal sicher, ob er wahrnahm, dass ich redete. Erst als ich auch noch von der Sintflut-Theorie anfing, nach der sich das Becken des Schwarzen Meeres erst gefüllt haben soll, als schon Menschen darin lebten, horchte Günther auf. „Du meinst, es stimmt vielleicht doch alles, was in der Bibel steht“, fragte er. „So einfach ist es auch wieder nicht“, sagte ich. Da erlahmte sein Interesse schon wieder.

Bald musste ich mich wieder ganz aufs Fahren konzentrieren. Je näher wir dem Istanbuler Stadtzentrum kamen, desto dichter und abenteuerlicher wurde der Verkehr. Ich lieferte Günther bei seinem Sattelzug ab. Er kümmerte sich um die erneute beladung de Auflegers und bereitete die Rückfahrt vor, während ich das Auto zurückgab und dann wieder mit dem Taxi zurück ins Industriegebiet fuhr. Der Istanbuler Taxifahrer war ähnlich skeptisch wie sein Wiener Kollege eine Woche zuvor, was ich als offensichtlicher Tourist an einem solchen Ort wollte. Er hätte mich lieber zu einer der Sehenswürdigkeiten gefahren, und weder sein Englisch noch mein Türkisch reichten aus, um ihm den Sachverhalt zu erklären. Als ich ausgestiegen war, blieb er mit laufendem Motor hinter mir stehen. Ich betätigte die Klingel neben dem Rolltor, das die Zufahrt zum Betrieb regelte. Ich betrachtete die Stellen, wo über kleine Risse im türkisen Lack Wasser eingedrungen war und der Rost sich unter der Farbe hindurchgefressen und den Lack von seinem Untergrund abgehoben hatte. Je länger niemand antwortete, desto bohrender spürte ich den Blick des Taxifahrers in meinem Rücken. Irgendwann reichte es mir; ich drehte mich um und versuchte ihn mit Gesten dazu zu bringen wegzufahren – vergeblich. Da schepperte endlich eine unverständliche Stimme durch die Gegensprechanlage. Ich winkte der Kamera über dem Tor zu und erklärte auf Englisch, dass ich zu einem Mister Gauthier gehöre, der seinen Sattelzug bei ihnen stehen habe. „One moment, please“, kam es aus der Gegensprechanlage. Es folgte erneut ein langes Schweigen, und immer noch stand das Taxi da, und der Fahrer wandte seinen Blick nicht von mir ab. Dann bewegte sich plötzlich ohne weitere Ankündigung das Tor. Ich winkte dem Taxifahrer zum Abschied übertrieben freundlich zu und verschwand in den Hof, lange bevor das Tor seinen Endposition erreicht hatte. Günthers Sattelzug stand schon abfahrbereit in der Sonne in der Mitte des Hofs. Günther kam mir von den Büros her entgegen. „Na endlich“, rief er, „steig ein, wir haben noch ordentlich Strecke vor uns.“ Das Elend seines morgendlichen Katers schien vollkommen von ihm abgefallen. Als verleihe allein die Aussicht wieder auf seinem „Bock“ zu sitzen ihm neue Kräfte. Mich dagegen bedrückte die Vorstellung, nun wieder tagelang mit ihm in der kleinen Kabine eingezwängt zu sein und ihn schief seine Country- und Western-Songs mitsummen und -singen zu hören. Aber nichts würde mich daran hindern, Sylvia meine Reise als großartige Erfahrung zu beschreiben. Und tatsächlich: obwohl die Art und Weise, in der wir unterwegs waren kaum dem ähnelte, was ich mir bis dahin unter einer gelungenen Reise vorgestellt hatte, war es das Unterwegssein an sich, das mich mit einer seltsamen Grundzufriedenheit erfüllte, die wohl in etwa dem entsprach, was Günther in Anlehnung an die Texte seiner Lieblingslieder die „große Freiheit“ auf der Straße nannte. Und so sehr mich auch zwischendurch die Langeweile gequält hatte, merkte ich doch, dass ich ihr einen Entschluss verdankte: ich wollte nicht mehr zurück in mein altes Leben; vor allem wollte ich nicht mehr für diese Firma arbeiten, in der alle so taten, als würde es sie vollkommen erfüllen, einen Auftrag nach dem anderen zu akquirieren, um ihn dann mit möglichst wenig Aufwand und entsprechend großer Gewinnspanne so schnell wie möglich und parallel zu drei anderen abzuarbeiten.

19.

Günthers Zeitplan für die Rückfahrt war deutlich straffer. Wir mussten so viele Kilometer am Tag machen, wie der Fahrtenschreiber gerade noch zuließ. Mir war das recht, mein Bedarf an unkonventionellem Tourismus war gedeckt. Ich wollte nach Hause und mein Leben neu ordnen. Sobald wir uns Istanbul genähert hatten, hatte auch mein Telefon wieder Empfang, und neben besorgten Nachrichten von Sylvia und Nachfragen von Nina, wo denn meine abendlichen Videoanrufe blieben, waren auch mehrere Anfragen aus der Firma eingegangen, ob ich nicht während meines Urlaubs die ein oder andere kleine Aufgabe erledigen könne. Doch, dafür war dieser eigenwillige Trip gut gewesen, um mir klar zu werden, dass ich das nicht mehr wollte.

Wir rollten und rollten. Und während Günther dabei immer vergnügter wurde und vollkommen unermüdlich erschien, versetzte mich das endlose Starren auf den Asphalt vor uns und die gesichtslosen Landschaften zu beiden Seiten der Autobahn immer öfter in eine Art mürrische Trance. Günther nahm von meiner Schweigsamkeit wenig Notiz, zwischenzeitlich schien er ganz zu vergessen, dass ich neben ihm saß. Er plauderte munter mit anderen Fahrern über die Freisprechanlage oder sang seine Musik mit. Er konnte aber auch einfach nur stundenlang mit einer Art Buddha-Lächeln durch die Öde fahren, unberührt von allen weltlichen Fährnissen- während ich oft einschlief, wenn es einmal still in der Kabine war, und nur der riesige Motor unter uns vibrierte. Abends war ich glücklich, Ninas Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen. Sie berichtete stolz von ihrer Eins im Bodenturnen und dass sie diesmal auch in der Prüfung den Handstandüberschlag geschafft habe. Als ich ihr erzählte, wie ich in ihrem Alter nicht mal die Rolle vorwärts sauber hinbekommen hatte, lachte sie so vergnügt, dass auch ich nicht anders konnte. Ich zögerte die Gute-Nacht-Gespräche von nun an jedes Mal hinaus, bis Sylvia einschritt. Dann musste ich mich wieder in Günthers nächtliches Sägekonzert fügen.

20.

Je weiter donauaufwärts wir kamen, desto tiefer wurde der Novemberhimmel wieder. Besonders als wir durch den Teil Österreichs kamen, der in seiner Flachheit so gar nicht ins Alpenrepublik-Klischee passen will, schienen die Wolken fast den Boden zu berühren. In den Bergen fing es dann an zu regnen und zu regnen. Die eintönigen Bewegungen des riesigen Scheibenwischers, die entgegenkommenden Lichter, die sich in den Tropfen brachen, die Tropfen selbst, die, vom Fahrtwind getrieben, seitlich an der Scheibe entlangkrochen, führten mich wieder zurück zu den Nächten auf dem Rücksitz des elterlichen Autos; wie damals nickte ich immer wieder ein und hoffte dabei, dass es Günther nicht genauso erging. Aber nichts ließ darauf schließen, dass auch seine Konzentration nachließ. Oft, wenn ich von meinen kurzen Schläfchen hochschreckte, sah er mich amüsiert an. „Karl“, sagte er irgendwann, „egal, was du noch so im Leben machst, Brummifahrer solltest du nicht werden.“ Ich stimmte zu: „Du hast recht, Günther, ich bewundere sehr, wie lange du dich auf die Straße konzentrieren kannst. Ich würde mir auch keinen Vierzigtonner anvertrauen.“ – „Tja“, sagte Günther, „die Dinger machen zwar wirklich viel von alleine mittlerweile, aber gucken musst du trotzdem noch.“ – „Es stimmt aber auch“, sagte ich, „dass ich meinen jetzigen Job nicht länger machen will.“ Günther konnte die Augen in dem dichten Verkehr um uns her nicht von der Straße nehmen, aber ich sah, wie er die Stirn runzelte. „Dabei dachte ich, der sei so toll, dein Job. Als du damals schon vom Krankenbett wieder angefangen hast, zu arbeiten, da dachte ich: Mensch, dem ist sein Job echt wichtig.“ – „Vielleicht war er das mal“, sagte ich, „aber seit dem Unfall fühle ich mich überhaupt nicht mehr wohl dort. Ich glaube sogar, die warten nur darauf, dass ich gehe, obwohl sie immer das Gegenteil behaupten. Aber mit einer Behinderung werden sie dich ja auch nicht so einfach los.“ – „Bei mir haben sich alle gefreut, als ich wiederkam“, sagte Günther. „Fahrer gibt es immer zu wenige, und nicht auf jeden kann man sich so verlassen wie auf mich.“ Ich fand seinen Stolz rührend. „Und was willst du stattdessen machen“, wollte Günther wissen. „Wenn ich das wüsste“, sagte ich. „Was kannst du denn“, fragte er. „Naja, ich kann gut schreiben, Vorträge halten, Verhandlungen führen, Gespräche moderieren…“. Ich sah Günther an, dass er das nicht für Können im engeren Sinne hielt. Er machte trotzdem Vorschläge: Politiker, Fernsehmoderator, Versicherungsmakler…ich bedankte mich artig und wechselte das Thema. Was denn eigentlich seine Söhne machten, die seien doch beide schon raus aus der Schule. Günther erzählte, dass sein Älterer, Badrag, bei einer Versicherung angefangen habe. Der habe schon als kleiner Junge immer davon gesprochen, dass er einmal richtig viel Geld verdienen und ein großes Auto fahren wolle, keinen Lastwagen, wie Papa, sondern so einen richtigen Schlitten. Richtig viel Geld verdiene er als Azubi noch nicht, trotzdem fahre Badrag dank irgendwelcher fragwürdigen Kredite schon jetzt ein größeres Auto als sein Vater. Und Isko, der Jüngere, habe ja dieses Jahr erst seinen Realschulabschluss gemacht und habe dann eigentlich auf dem Berufskolleg weitermachen wollen, sich dort aber nie angemeldet. Eigentlich habe Isko auch nichts anderes als Taekwondo im Sinn, gehe vier, fünf Mal die Woche zum Training, sei fast jedes Wochenende bei irgendeinem Turnier, und trainiere dabei immer noch Kinder und Jungendliche. Trotz der Sorge um die wirtschaftliche Zukunft seines Jüngsten, die in seiner Erzählung mitschwang, schien Günther Isko zu bevorzugen. Mit leuchtenden Augen zeigte er mir ein kurzes Video von einem ungeschützten, wahrscheinlich illegalen Kampf, in dem Isko, die langen schwarzen Haare zu einem Dutt geknotet, mit dem gleichen heiteren Lächeln, wie ich es bei Günther am Steuer beobachtet hatte, seinen viel massigeren Gegner nach weniger als einer Minute mit einem hohen Tritt wie einen Baum fällte.

Die Fahrt über den Balkan, das ungarische Tiefland, die österreichischen Berge, die ganze geschichtsträchtige Strecke entlang der Donau, die mich auf dem Hinweg noch mit ehrfürchtigen Vorstellungen vom Anfang und Ende des Mittelalters erfüllt hatte, mit Bildern der Entscheidungsschlachten, die sich dort über so viele Jahrhunderte und noch bis zum zweiten Weltkrieg abgespielt hatten – auf der Rückfahrt erschien sie mir nur als eine schier endlose Reihe von Kilometern, die es abzureißen galt. Erleichtert las ich bei Passau den von europäischen Sternen umringten Gruß: „Willkommen in der Bundesrepublik Deutschland“. Eine Nacht noch neben Günther in der Koje, dann würde ich endlich wieder in meinem Bett schlafen. Vielleicht würde Nina nachts herüberkommen, aber die schlich sich immer ganz vorsichtig an; das rührte mich jedes Mal so, dass ich gleich wieder einschlief, kaum, dass ich ihren Kinderatem sich neben mir beruhigen spürte.

21.

Bei Aschaffenburg schlugen wir unser letztes Nachtlager auf. Endlich wieder Bockwurst mit Pommes für 12 Euro minus der 50 Cent Rabatt auf den Klo-Schein. Ich wollte auch noch die kostenpflichtige Dusche benutzen, um nicht völlig versifft zu Hause anzukommen. Günther fand das rausgeschmissenes Geld so kurz vor unserer Rückkehr. „Saya nimmt mich auch so“, sagte er und grinste herausfordernd. Ich ging nicht darauf ein, nahm mir mein Handtuch und öffnete mit dem Chip, den ich mir an der Kasse hatte kaufen müssen, die Tür zur Dusche. Neben der Dusche befand sich auch noch ein Waschbecken im Raum hinter der verriegelbaren Tür und daneben hing ein Kondomautomat an der Wand, mit dem gleichen fragwürdigen Sortiment wie am Eingang der Toiletten. Ich versuchte, trotzdem keine Gedanken daran aufkommen zu lassen, zu welchen anderen als Reinigungszwecken diese Dusche genutzt wurde. Immerhin war sie neuerer Bauart und bis auf ein kleines Schamhaar-Konglomerat im Abfluss relativ sauber. Einen Duschhocker gab es leider nicht; ich war genötigt mich an der Wand abzustützen, um das Gleichgewicht zu halten. Trotz dieser unbequemen Pose konnte ich gar nicht genug von dem heißen Strahl bekommen. Ich kam erst wieder darunter hervor, als ich krebsrot angelaufen war. Zum Abtrocknen stützte ich mich an dem eckigen Waschbecken ab und geriet dabei immer wieder an die Lichtschranke, die den Strahl aus dem Wasserhahn auslöste. Auch die Prothese wieder anzulegen dauerte ohne Sitzmöglichkeit länger als gewöhnlich. Aber als ich endlich sauber und mit der letzten frischen Unterhose und dem einzigen Hemd am Leib hinaustrat, fühlte ich mich königlich. Ich verließ das grell beleuchtete Raststättengebäude und trat hinaus in die feuchte Novembernacht. Ich brauchte einen Augenblick, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es wehte ein schneidender Wind, der alle Blätter, die sich am Boden noch nicht ausreichend mit Feuchtigkeit vollgesogen hatten, in die Ecken drängte, wo sie zu raschelnden Haufen anwuchsen. An der gerade erst wieder zunehmenden Mondsichel zogen Wolkenfetzen vorüber. Und etwas lag da, etwas Großes, Gefallenes, kein Blätterhaufen, sondern etwas Schweres, Dichtes. Es lag reglos mitten auf der Durchfahrt zwischen den LKW-Parkbuchten. Ich sah mich um, sah weder Günther noch irgendeinen anderen Menschen auf dem Parkplatz. In der Kabine unseres Schleppers brannte Licht, aber es saß niemand darin. Ich rief nach Günther, aber es blieb still. Im Näherkommen erkannte ich in dem massigen Umriss auf dem Asphalt eine menschliche Gestalt – Günther. Er lag halb auf der rechten Seite, fast so, wie ich die stabile Seitenlage aus dem Führerschein-Erste-Hilfe-Kurs in Erinnerung hatte. Der linke Arm, der noch in seiner unförmigen Winterjacke steckte, lag wie zum Schutz über seinem Kopf. Der Jackenärmel war an mehreren Stellen aufgeplatzt, und die Watte quoll heraus. „Günther“, rief ich noch einmal, als ich schon ganz nah bei ihm war. Er antwortete nicht, aber ich sah dass er zitterte. Ich beugte mich zu ihm und hob vorsichtig den Arm von seinem Gesicht: seine Augen schienen zusammengekniffen, er blutete an der Stirn, aus der Nase, aus dem Mund. „ Günther, hörst du mich?“, rief ich. „Die Huaine… die Huaine“, kam es undeutlich aus seinem grotesk geschwollenen Mund. Ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er ‚Schweine‘ sagen wollte. Wie damals bei Nina, als sie sprechen lernte, ging es mir durch den Kopf, Bume für Blume, Necke für Schnecke. Ich legte Günther die Hand auf die Schulter und sagte. „Ich bin da, Günther, ich hole Hilfe.“ – „Die Huaine, die Huaine“, kam es von ihm zurück. Ich wählte die 112, erklärte, dass ein Mann überfallen und schwer verletzt worden sei, beschrieb die Raststätte und wartete brav, wie ich es einmal gelernt hatte, auf Rückfragen. Die freundliche Stimme am anderen Ende wollte wissen, ob der Täter noch vor Ort sei. Ich sah mich erschrocken um. Auf die Idee, dass es mir gleich noch genauso ergehen könnte wie Günther, war ich gar nicht gekommen. Der Parkplatz lag weiter still da. „Ich glaube nicht“, sagte ich. „Bleiben Sie bei dem Verletzten“, sagte der Mann am Telefon, „wir schicken Ihnen Hilfe.“

Die Polizei traf als erstes ein, sie hielten so, dass Günther und ich von den Scheinwerfern angeleuchtet wurden. Ich fühlte mich wie ein geblendetes Reh kurz vor dem Aufprall. Eine Polizistin und ein Polizist stiegen aus; mit gezückten Waffen sahen sie sich um. Obwohl ich nie besonders gerne Polizeiserien geschaut habe, kam mir die Szene medial vertraut vor. Der Polizist suchte mit einer Taschenlampe den näheren Umkreis ab, leuchtete in die Parkbuchten, in denen sich die Lastwagen reihten, und auch unter die Lastwagen, während die Polizistin sich uns vorsichtig näherte. „Haben Sie uns gerufen“, fragte sie. „Ja“, antwortete ich, „Frantek mein Name, ich habe angerufen.“ Sie schien sich etwas zu entspannen und kam noch näher. „Sind sie verletzt“, fragte sie. „Ich nicht, aber mein Freund hier.“ Sie beugte sich zu Günther, der nur noch ab und zu stöhnte, aber keine erkennbaren Worte mehr von sich gab. Als sie Günthers Gesicht sah, schreckte sie kaum merklich zurück. „Der Notarzt kommt gleich“, sagte sie, „haben Sie den Täter gesehen.“- „Nein“, sagte ich, „er lag hier, als ich aus der Dusche kam. Ich glaube aber, dass es mehrere waren, weil er immer wieder „die Schweine“ gerufen hat, als ich zu ihm kam“ – „Kennen Sie sich denn?“ – „Ja, wir sind zusammen unterwegs, in dem LKW hier neben uns.“ Sie musterte mich, in meinem sauberen, fast noch gebügelten Hemd, in meiner teuren Marken-Winterjacke, in der seltsam anmutenden Pose, zu der meine Prothese mich zwang, dann sah sie zu Günther in seiner zerfetzten Jacke und seinen No Name-Jogginghosen, und sagte nur: „Aha, und wie heißt ihr Freund?“ – „Günther Gauthier.“ – „Wie, Gotjeh?“ – „Ja, so ungefähr.“ Sie notierte sich unsere Namen auf einem Block. Dabei hielt sie den Stift so wie Nina: das Endglied ihres Zeigefinger durchgedrückt, und auch ihre Schrift war eine Mädchenschrift. Sie konnte kam älter als zwanzig sein. Ein weiteres Martinshorn ertönte, noch während wir gemeinsam versuchten, Günthers semistabile Seitenlage zu verbessern. Diesmal war es der Rettungswagen, der neben dem Polizeiauto hielt und die Durchfahrt für andere Fahrzeuge versperrte. Aus dem Rettungswagen stiegen zwei ebenfalls noch sehr junge Frauen aus, schulterten ihre riesigen Rucksäcke und Geräte und baten die Polizistin und mich Platz zu machen. Sie sprachen Günther an, tasteten ihn ab, legten ihn vorsichtig auf den Rücken, öffneten seine Jacke und brachten verschiedene Kabel an ihm an. Es fing an, rhythmisch zu piepen, wie im Fernsehen, allerdings ziemlich schnell, fand ich. Sie hängten ihm einen Tropf an. Erst jetzt, da ich nichts mehr zu tun hatte, fiel mir auf, wie verschmiert meine Hände und die Manschetten meines Hemds von Günthers Blut waren. Auch vorne auf der Hose hatte ich mehrere Flecken. Ich bekam auf einmal Angst, dass jemand mich als Täter verdächtigen könnte. Ein weiterer Wagen traf mit Blaulicht ein. Noch eine junge Frau stieg auf der Beifahrerseite aus. Der Fahrer, ein ziemlich beleibter älterer Mann, blieb zunächst sitzen. Ich hoffte für Günther, dass er mitbekam, wie viele junge Damen sich um ihn bemühten. Die Neueingetroffene stellte sich als Notärztin vor. Wie die anderen trug sie die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, aber statt Piercings trug sie nur eine einzelne Perle im Ohr. Die Polizisten packten mit an, um den stöhnenden Günther auf die Trage zu hieven. Die Jacken der Frauen leuchteten im Scheinwerferlicht auf, als sie ihn in den Rettungswagen schoben. Der dicke Mann war mittlerweile ausgestiegen, kam zu mir und befragte mich zu Günthers Krankengeschichte und Angehörigen. Ich erzählte ihm, was ich wusste. Auch die Polizistin machte sich Notizen, sie wollte Günthers und Sayas Festnetznummer wissen, und in welchem Verhältnis Günther und ich genau standen. Ich erzählte knapp aber wahrheitsgemäß, was uns zu dieser gemeinsamen Reise veranlasst hatte. Ihr Blick blieb misstrauisch. Hinter den Milchglasscheiben des Krankenwagens schienen mir die Bewegungen hektisch zu werden. Der dicke Fahrer des Notarztwagens watschelte los und verschwand hinter dem Rettungswagen. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Er sagte: „Ihr Freund ist so schwer verletzt, dass es besser ist, wenn der Hubschrauber kommt und ihn nach Frankfurt in die Unfallklinik fliegt. Die kleinen Krankenhäuser hier im Umkreis sind mit sowas überfordert.“ Er zückte sein Telefon, wandte sich von uns ab und forderte den Hubschrauber nach. Die Polizisten kümmerten sich um die Absicherung des Landeplatzes. Erst als die Feuerwehr übernahm und mit mehreren Löschzügen anrückte, um den Parkplatz abzuriegeln und auszuleuchten, sahen sie nach unserer Fracht. Ich folgte ihnen. An der Laderampe fanden sie ein paar Kratzer, die von Stemmeisen herrühren konnten, aber offenbar hatten die Räuber ihren Einbruchsversuch nicht mehr fortgeführt, nachdem sie Günther verprügelt hatten. Für mich interessierte sich niemand mehr. Ich fror auf einmal sehr. Ich gab der telefonierenden Polizistin mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich zum Raststättengebäude gehen wolle, um mich zu waschen; sie nickte genervt. Ich lief zitternd hinüber zu dem Gebäude. Der Verkaufsraum war zum Glück leer. Die Frau an der Kasse war so damit beschäftigt, nach dem Blaulicht draußen zu spähen, dass sie nicht bemerkte, wie ich blutverschmiert an ihr vorbei zu den Toiletten hastete. Ich hatte kein Kleingeld mehr in der Tasche, deswegen stieg ich über die Absperrung und hoffte, dass keine Kamera mich dabei filmte, und dass kein Alarm losgehen würde. Nichts geschah, als ich drüben war. Ich sah mich im Spiegel und erschrak. Offenbar hatte ich mir in der ganzen Aufregung auch unbewusst ins Gesicht gefasst, denn an meiner linken Wange und an meiner Stirn hatte ich Streifen getrockneten Bluts. Kaltes Wasser, hat meine Mutter immer gesagt, kaltes Wasser, ist das Einzige, was gegen Blutflecken hilft, bloß keine Seife. Ich stellte den Wasserhahn also auf ganz kalt und wusch mich, so gut es ging, immer hoffend, dass niemand anderes die Toiletten beträte, während große Mengen von mit Blutschlieren durchzogenem Wasser durch das Waschbecken flossen. Irgendwann war ich zwar klatschnass, aber tatsächlich einigermaßen sauber, ganz ohne Seife. Als ich nach draußen trat, fror ich erst recht. So schnell es mir meine weichen Knie erlaubten, kehrte ich wieder an den Ort des Geschehens zurück, an dem es mittlerweile vor Rettungskräften wimmelte. Ein junger Feuerwehrmann hielt mich an und fragte mich, wo ich hinwolle. Ich musste es ihm sehr umständlich und mit klappernden Zähnen erklären, bis er mich zu unserem Sattelzug durchließ. Ich stieg ein, schloss die Tür hinter mir und drehte die Standheizung auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich aufhörte zu zittern. Die Scheiben beschlugen von innen, die Szene draußen wurde immer schemenhafter. Meine Lider wurden schwer. Ich lehnte den Kopf von innen an die Fensterscheibe. Erst das Donnern des nahenden Hubschraubers weckte mich wieder auf. Die Stelle seitlich an meinem Kopf, mit der ich mich gegen die Scheibe gelehnt hatte, fühlte sich eiskalt an, während der Rest meines Körpers in der stickigen Standheizungsluft zu schwitzen begonnen hatte. Mittlerweile hatte die Feuerwehr mit Scheinwerfern den anvisierten Landeplatz auf dem PKW-Parkplatz ausgeleuchtet; die Autos, die dort noch gestanden hatten, als ich mich zurückgezogen hatte, waren verschwunden. Ich blieb in der Kabine sitzen, während der Rotor des Hubschraubers einen apokalyptischen Laubsturm hervorrief. Von unten hatte der herabschwebende Bauch des Hubschraubers mit seinen Strahlern etwas Außerirdisches. Ich war fast erleichtert, dass die Wesen, die ihm entstiegen und die den fest verschnürten, schon an mehreren Schläuchen hängenden Günther einluden, trotz der kugelförmigen Helme und reflektierenden Overalls sehr menschlich aussahen. Erst als der Hubschrauber wieder abgehoben hatte, und der Rotorlärm langsam abnahm, löste sich auch das stroboskopische Geflacker aus Blaulicht und Halogenstrahlern am Boden allmählich auf. Ein Einsatzfahrzeug nach dem anderen drehte ab. Niemand fragte mehr nach mir. Ich rief Saya zuhause an, und hoffte, dass die Polizei sie vor mir erreicht hatte. Ich wollte kein Überbringer schlechter Nachrichten sein. Sie nahm sofort ab, und ihre Stimme war noch leiser als sonst. „Karl?“, fragte sie. Da wusste ich schon, dass sie informiert war. „Es tut mir sehr leid, was passiert ist“, sagte ich. „Warst du dabei“, fragte sie. „Als ich kam, war schon alles vorbei“, sagte ich. „Wer tut so etwas?“, fragte sie. „Es waren wahrscheinlich Diebe“, sagte ich, „die die Fracht stehlen wollten; und Günther hat sie dabei erwischt.“ – „Wie sah er aus, als du ihn gefunden hast?“ – „Er hatte eine Platzwunde am Kopf; deswegen sah es wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist.“ – „Aber wenn es nicht so schlimm ist, warum haben sie ihn dann mit dem Hubschrauber nach Frankfurt geflogen?“ Sie fing an zu schluchzen. „Er hat noch mit mir gesprochen“, sagte ich, „er war richtig wütend. Die Schweine, hat er gesagt. Dein Günther ist zäh, der wird schon wieder.“ „Wo bist du, Karl?“ – „Ich bin immer noch auf dem Rastplatz bei Günthers LKW.“ – „Und wie kommst du da weg?“ – „Ich werde hier übernachten. Morgen früh finde ich schon einen Weg, um hier wegzukommen.“ – „Pass auf dich auf“ - „Du brauchst dir um mich nicht auch noch Sorgen machen“, sagte ich. „Ich fahre morgen früh gleich mit dem ersten Zug nach Frankfurt“, sagte sie. „Ich werde auch kommen“, sagte ich.

Als wir aufgelegt hatten, war es auf einmal sehr still auf dem Rastplatz. Mir wurde bewusst, dass ich in der beleuchteten Kabine für alle weithin sichtbar war, während ich kaum etwas von dem sehen konnte, was sich draußen in der Dunkelheit abspielte. Wer auch immer Günther so brutal verprügelt hatte, wartete vielleicht da draußen auf die nächste Gelegenheit. Ich löschte das Licht und verriegelte die Kabine von innen. Sollten sie doch die Fracht stehlen, ich würde sie nicht mit meinem Leben und dem, was mir noch an Gesundheit geblieben war, verteidigen. Über dem Armaturenbrett war ein Aufkleber mit einer 24-Stunden-Notfallnummer von Günthers Firma angebracht. Ich wählte die Nummer. Es dauerte sehr lange, bis jemand sich meldete, jemand der hörbar schon geschlafen hatte. Ich erzählte, was passiert war. Die Stimme am anderen Ende fluchte in einer mir unbekannten Sprache und sagte, dass am nächsten Morgen jemand kommen werde, um sich um den Sattelzug zu kümmern. Für meinen Verbleib interessierte er sich nicht. Ich kroch in meine Koje, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Immer, wenn ich doch einmal wegnickte, schreckte mich im nächsten Moment irgendein geträumtes oder wirkliches Geräusch auf. Mehrfach war ich mir sicher, dass jemand um den Sattelzug schlich. Ich wischte immer wieder das Kondenswasser von der Scheibe und spähte hinaus, sah aber nie jemanden. Erst als hell wurde, musste ich doch noch eingeschlafen sein.

22.

Ich wachte auf, als jemand gegen die Fahrertür pochte. So wütend, wie es klang, musste er es schon länger getan haben. Ich schälte mich aus meinem Schlafsack und ließ das Fenster ein Stück herunter. Unter mir sah ich eine Halbglatze, die von fettigen, nach hinten gekämmten Strähnen umrahmt wurde. Das Gesicht, das zu mir heraufsah, war zerfurcht und von einem hufeisenförmigen Schnauzbart in zwei Hälften geteilt. Es erinnerte mich an das von Lemmy Kilmister, der damals noch lebte. Die raue Stimme ließ ebenfalls auf einen ähnlichen Lebenswandel, wie er dem berühmten Sänger nachgesagt wurde, schließen. Nur der südwestdeutsch gefärbte Tonfall wollte nicht recht dazu passen. Der Mann stellte sich als Joe vor, was er wie Dschoh aussprach. Er sei gekommen, um Günthers Gespann nach Duisburg zu bringen. Ich schnallte schnell meine Prothese an, zog mir Pullover, Hose und Jacke über und stopfte meinen Schlafsack, und was sich sonst noch von mir in der Kabine befand, in meinen Rucksack. Joe wartete rauchend vor der Kabine, als ich ausstieg. „An die Ware sind sie nicht drangekommen“, sagte Joe, „der Günther muss sie aufgescheucht haben, bevor sie loslegen konnten.“ „Ich habe mir heute nacht ziemliche Sorgen gemacht, dass sie nochmal wiederkommen“, sagte ich. „Die versuchen es selten zweimal“, sagte Joe, „ willst du mit nach Duisburg?“ „Eigentlich schon, aber ich will erst in Frankfurt nach Günther sehen, bevor ich heimfahre“, antwortete ich. „Und weißt du, wie du da hinkommst, nach Frankfurt?“, fragte Joe. „Das wollte ich jetzt herausfinden“, sagte ich. „Dann zeige ich dir jetzt, wie“, sagte Joe. Er winkte einem Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt und einem Fliegerblouson aus Leder, der gerade mit einigen Einkäufen aus dem Raststätten-Geschäft die Treppe herunterkam. „Manni“, rief Joe, „ich habe noch einen Passagier für die Rückfahrt für dich.“ Manni schaute zu uns, kniff die Augen zusammen, nickte angedeutet und bog zunächst zu seinem Auto ab, wo er die Einkäufe deponierte. Dann gesellte er sich zu uns. Sein Händedruck war sehr schmerzhaft. Joe stellte uns vor: „Manni und – wie war dein Name nochmal?“ –„Karl“, antwortete ich. „Also Manni, das ist Karl, der will zu Günther nach Frankfurt, Händchen halten.“ Manni sagte nichts, sondern zündete sich eine Zigarette an. Ich sah die drei tätowierten Punkte auf seiner Hand, die auf eine Knastkarriere schließen ließen, und er sah, dass ich sie sah. Ich versuchte mir meinen Zweifel, ob ich wirklich zu ihm ins Auto steigen sollte, nicht anmerken zu lassen. Gut, dass Sylvia nicht hier ist, dachte ich. Auf dem Rastplatz war kaum etwas los. Die Sonne hatte es noch nicht geschafft, den Frühnebel aufzulösen, aber es versprach, ein klarer Spätherbst-Tag zu werden. „Manni war so freundlich mich in aller Frühe aus Frankfurt hierher zu bringen“, erklärte mir Joe, dann wandte er sich wieder Manni zu: „Wärst du auch so freundlich, den Karl hier mit nach Frankfurt zurückzunehmen?“ „Kommt drauf an“, sagte Manni leise. „Worauf?“, fragte Joe. „Ob der Karl hier mit so einem wie mir mitfahren will“, antwortete Manni. „Was soll das heißen, mit so einem wie dir?“ – „Das musst du Karl fragen.“ Joe wandte sich wieder mir zu: „Karl?“ Ich suchte nach den passenden Worten. „Ich würde mich freuen, wenn ich mit dir mitfahren dürfte, Manni“, brachte ich schließlich heraus. „Na, dann komm“, sagte Manni.

Mannis Auto war ein alter Kastenwagen mit nur zwei Sitzen. Die Ladefläche lag, soweit das durch die dreckigen Scheiben erkennbar war, voller Werkzeug, Schraubenkästen, Maler- und Putzutensilien. An beiden Flanken warb Manfred Geseke für Hausmeisterarbeiten, Entrümpelung und Reinigung. „Arbeitest du allein oder hast du noch Angestellte?“, fragte ich als wir vor dem Auto standen. „Ist ein Kleingewerbe“, sagte Manni, „was bleibt mir anderes übrig; mich stellt ja keiner mehr ein.“ Ich nickte mit zusammengepressten Lippen, war mir unsicher welche Reaktion er erwartete. Manni sagte nichts mehr, sondern stieg ein und ließ den alten Diesel vorglühen. Ich ging um das Auto herum zur Beifahrertür. Gerade als ich hinter dem Auspuff angekommen war, ließ Manni den Motor an, und eine bläuliche Abgaswolke hüllte mich ein. Ich vermutete Absicht von Mannis Seite. Ich zögerte noch einmal, ob ich mir nicht doch lieber ein Taxi rufen sollte, dann stieg ich ein. Der Innenraum war lange nicht gesäubert worden. Es roch nach Chemikalien und altem Rauch. Ich versuchte es nochmal mit einem Gespräch: „Arbeitest du häufiger für Günthers Firma?“, fragte ich Manni beim Ausparken. „Nein“, antwortete er, „ich bin nur ein Freund von Joe, und er hat mich um einen Gefallen gebeten. Und nur weil ich dir jetzt einen Gefallen tue, musst du dich nicht gezwungen fühlen, mit mir zu reden.“ „Ich wollte mich nicht aufdrängen“, sagte ich. „Schon gut“, sagte er und schob eine selbst beschriftete Kassette in das uralte Autoradio. Ab da wäre ohnehin keine Unterhaltung mehr möglich gewesen. Hinten im Auto war ein Extra-Subwoofer eingebaut, und der Neunzigerjahre-Billig-Techno, der etwas leiernd von der Kassette kam, ließ uns bei jedem Basston in unseren Sitzen hüpfen. Die Fahrt nach Frankfurt erschien mir ewig. Ich traute mich nicht, Manni zu bitten die Musik leiser zu machen. Auch das Fenster traute ich mich nicht zu öffnen, obwohl Manni sich eine Zigarette nach der nächsten ansteckte. Als er mich am Haupteingang der Unfallklinik aussteigen ließ, war ich halb taub und völlig benebelt. Ich brauchte ein paar unsichere Schritte, bis ich mit meinem großen Rucksack auf dem Rücken das Gleichgewicht wiederfand. Ich blieb einen Augenblick an eine der Säulen der Eingangsüberdachung gelehnt stehen. Das Gebäude verursachte einen plötzlichen Widerwillen in mir. Zu sehr erinnerte seine wuchtige Architektur an die Bochumer Unfallklinik, in der ich so viele bittere Monate verbracht hatte. Aber ich war Günther immer noch ein bisschen Beistand schuldig. Also überwand ich meinen Widerwillen, ging hinein und fragte an der Rezeption nach Günther. Er lag auf einer Intensivstation. Es war kurz nach Mittag. Besuchszeit war erst am Nachmittag. Die Unfallklinik lag außerhalb der Innenstadt zwischen Seckbach und Preungesheim. Nachdem ich meine Situation erklärt hatte, war die mütterliche Dame an der Rezeption bereit, meinen Rucksack in die Gepäckaufbewahrung zu nehmen, damit ich noch einen Abstecher in die Stadt unternehmen konnte. Ich lief hinüber zum Hauptfriedhof und ein Stück entlang seiner einschüchternd sich streckenden Mauer, und nahm von dort aus die U-Bahn bis zur Konstablerwache. Seit wir aus Istanbul aufgebrochen waren, hatte ich mich keinen so großen Menschenansammlungen mehr ausgesetzt gesehen. Wie viele andere senkte ich den Blick und vergrub mein Gesicht im Kragen meiner Jacke. Das Vorweihnachtsgeschäft war schon in vollem Gange; die mickrigen Straßenbäume bogen sich unter den Lichterketten. An der Zeil hingen riesige beleuchtete Schneeflocken an quer über die Straße gespannten Kabeln. Ich stellte mir das Desaster auf der Straße vor, wenn eines dieser Kabel gekappt würde, oder einfach aufgrund von Materialermüdung aus seiner Verankerung riss. Was für ein Tod, aufgespießt von den Zacken einer Riesenschneeflocke! Plötzlich erschien es mir sicherer, am Rand unter den Überdachungen der Geschäfte entlang zu laufen. Wie jedes Mal in Frankfurt staunte ich über den für eine deutsche Stadt ungewöhnlich scharfen Kontrast zwischen Oben und Unten, zwischen denen, die von den Bürotürmen auf die Stadt hinabsahen, und jenen, die nur die Schluchten zwischen den Türmen kannten, zwischen denen, die die nötige Ausstattung besaßen, aus den vorbeiziehenden globalen Finanzströmen die eine oder andere Kelle für den Eigenbedarf abzuschöpfen, und jenen die nur durstig an der steilen Uferböschung saßen und den glitzernden Fluss vorbeiziehen sahen. Die vielen modisch und teuer gekleideten schlanken strahlenden Menschen waren immer wieder gezwungen, einen Bogen zu machen um Geschöpfe, deren Körperform und oft auch Geschlecht unter vielen Lagen Lumpen und fettigen langen Haaren kaum auszumachen waren, die ihren aus dem Müll gefischten Hausrat mal in Sackkarren hinter sich her zogen, mal in entwendeten Einkaufswagen vor sich her schoben. Dabei kannte ich die Stadt nur von Geschäftsterminen in austauschbaren Büroräumen, die manchmal noch in Ausflügen in eine der Apfelwein-Kneipen in Sachsenhausen geendet hatten. Ich stellte mir vor, wie anders musste die Stadt einst ausgesehen haben musste, als Goethe seine Jugend dort verbrachte, als später Schopenhauer mit seinem Pudel durch ihre Gassen flanierte, oder als sich Gesandte aus allen Teilen Deutschlands in der Paulskirche einfanden.

Ich lief bis zum Römer und spürte dabei die Rückschritte, die ich auf der Reise gemacht hatte, weil ich so viel gesessen und mein Sportprogramm vernachlässigt hatte. Die Buden für den Weihnachtsmarkt waren schon aufgebaut, aber noch verrammelt. Sie bildeten einen seltsamen Kontrast zu der allgemeinen Beleuchtungswut, so hingeduckt und dunkel, wie eine Schar Gefangener, die von allen Seiten mit Fackeln bedrängt wurden. Aber heller als alle LED-Lichter brannte jetzt wieder das Feuer in meinem Stumpf. Wenigstens Novalgin hätte ich geschluckt, um es ein bisschen zu dämpfen, aber ich hatte meine Tabletten im Rucksack im Krankenhaus gelassen. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte ich zur nächsten U-Bahnstation. Ich hatte mich so langsam bewegt, dass es ohnehin schon Zeit wurde zurückzukehren, um noch rechtzeitig zum Beginn der Besuchszeit am Krankenhaus zu sein. Im Sitzen in der warmen Bahn ließ der Schmerz schon wieder etwas nach. Während der Fahrt suchte ich nach einer günstigen Verbindung, um noch am Abend nach Bochum zurückzukehren. Wenn mein Plan aufging, konnte ich fast zwei Stunden bei Günther bleiben und danach laut Fahrplan mit einmal Umsteigen um 21.54 in Bochum sein. Ich schrieb Sylvia eine Nachricht mit der Bitte mich dort abzuholen. Es kam nur ein knappes ‚Ok‘ zurück.



23.

Günther ähnelte auf erschreckende Weise dem, was frühe Filmemacher aus dem künstlich geschaffenen Dämon gemacht hatten, den seine Erfinderin Mary Shelley noch als ein seltsam attraktives Wesen beschrieben hatte. Günthers ganzes Gesicht war violett und schwarz, und zur Unkenntlichkeit geschwollen, sodass ich mich auf dem Namensschild am Bettende vergewissern musste, dass er es auch wirklich war. Über seine Stirn und linke Wange zogen zwei lange Nähte, in seinem linken Nasenloch steckte ein blutgetränkter Wulst, an seinen zum Platzen dicken Lippen klebten braune Krusten, und unter seiner Bettdecke kam links ein dicker Schlauch hervor, der an einen blubbernden Kasten aus durchsichtigem Plastik angeschlossen war, in dem sich Blut gesammelt hatte. Das kannte ich noch gut von meinem Unfall damals. Dieser Schlauch zwischen den Rippen, eine sogenannte Thoraxdrainage, war das Schlimmste gewesen, in den ersten Tagen. Bei jedem Atemzug hatte ich das Gefühl gehabt, jemand ramme mir ein Messer zwischen die Rippen. Und was für eine Befreiung es gewesen war, als mich nach einigen Tagen der Assistenzarzt auf der Intensivstation aufgefordert hatte zu husten, und dabei den Schlauch aus meiner Brust gezogen hatte. Ich sehe noch heute den wabbeligen Blutkoagel vor mir, der noch an der Schlauchspitze hing. Im nächsten Moment schon hatte der Arzt das Loch in meiner Brust mit einem Faden verschlossen, der zu diesem Zweck schon in meiner Haut gelegen hatte. Damit nicht gleich wieder Luft dort eingesogen wird, wo sie nicht hingehört, hatte mir der Arzt erklärt. Diese Prozedur stand Günther wohl auch bald bevor. Aus einem weiteren Schlauch, der unter der Bettdecke hervorkam, floss Urin ab, nicht gelb sondern rotbraun, wahrscheinlich auch von Blut. Immerhin: Günther war wach, er atmete selbst unter einer Sauerstoffmaske und obwohl seine Augen unter den geschwollenen Lidern nur als Schlitze zu sehen waren, erkannte er mich sofort. „Karl, Mensch, du feiner Kerl“, krächzte er, „gut, dass du kommst. Und heil bist du geblieben. Ich hatte schon Sorge, dass sie dich auch noch vermöbelt haben.“ Es tut mir leid, dass ich so lange unter der Dusche war, wollte ich sagen, vielleicht hätte ich es sonst verhindern können, wollte ich sagen. Stattdessen sagte ich nur: „Reicht schon, wie sie dich zugerichtet haben.“ - „Du hättest mal sehen sollen, wie ich die zugerichtet habe.“ Günthers Versuch, über seinen eigenen abgedroschenen Witz zu lachen, endete in einer Schmerzgrimasse. Ich spähte auf die Fieberkurve, die auf einem Beistelltisch an seinem Bett lag – ein paar der Abkürzungen hatte ich mir noch gemerkt aus den vielen Wochen im Krankenhaus: SHT stand für Schädel-Hirn-Trauma, hatte ich damals auch gehabt, aber nur erstgradig, bei Günther stand zweitgradig mit kleiner ICB – die Abkürzung musste ich nachschlagen; sie stand für intrakranielle Blutung; das klang nicht gut; trotzdem schien mir Günther ziemlich klar im Kopf zu sein. Weiter ging es ohne Abkürzungen einmal von oben nach unten: Jochbeinfraktur links, Nasenbeinfraktur, Mandibulafraktur links, Rippenserienfraktur links, Hämatothorax links, Milzhämatom – sie mussten immer weiter auf ihn eingetreten haben, als er schon so am Boden lag, wie ich ihn gefunden hatte. „Unter uns Günther, hast du wieder die Nummer mit: ich renne brüllend auf die zu, dann hauen sie schon ab, abgezogen?“ - „Klappt halt nicht immer“. Unter den Schwellungen in seinem Gesicht deutete sich ein Grinsen an. „Aber sag das keinem, hinterher lässt die BG das doch nicht als Arbeitsunfall gelten.“ – „In Sachen Klappe halten hast du noch was gut bei mir“, sagte ich. Ich spürte seine Freude darüber, dass ich nicht vergessen hatte, was er für mich getan hatte. Ich erzählte ihm, wie es mir ergangen war, nachdem sie ihn abgeholt hatten. „Ausgerechnet Joe, der alte Sprücheklopfer“ brachte er dazu heraus, „hoffentlich hat er seine Sitzerhöhung mitgebracht.“ Als ich von Manni erzählte, deutete er ein Kopfschütteln an: „Ja, Joe hat viele interessante Freunde.“ Ich erzählte noch weiter, merkte aber wie Günther immer schläfriger wurde und mir offensichtlich nicht mehr folgte. Ich blieb noch eine Weile schweigend an seinem Bett sitzen. Bevor er richtig einschlief, nahm ich noch einmal vorsichtig seine rechte Hand, in der noch ein Infusionszugang steckte, in meine beiden Hände und drückte sie vorsichtig. „Bis bald, Günther“, sagte ich, „Saya ist auf dem Weg hierher. Ich fahre heute abend mit dem Zug nach Bochum. Ich komme dich besuchen, sobald du zuhause bist.“ – „Meinst du, die lassen mich hier noch mal raus?“ Seine Stimme klang plötzlich ängstlich. „Klar“, sagte ich, „was du hast, ist alles nicht lebensbedrohlich, soweit ich das beurteilen kann“. „Tut einfach nur scheiße weh“, sagte Günther. „Ich sage Bescheid, dass sie dir noch was geben, gegen die Schmerzen“, sagte ich.

Mit dem schweren Rucksack zog ich es diesmal vor, ein Taxi zum Hauptbahnhof zu nehmen. Die Zeiten für lange Märsche mit schwerem Gepäck waren wohl endgültig vorbei. Ich war erleichtert, als ich mich endlich in den weichen Sitz im ICE sinken lassen konnte. Der Zug war auffallend leer. Der Platz neben mir blieb frei. Das gedämpfte Licht im Großraumabteil, die Dunkelheit, der Regen vor dem Fenster und die nachlassende Anspannung führten dazu, dass ich, obwohl sich der Sitz nur minimal nach hinten stellen ließ, bald sehr tief einschlief. Ich erwachte in Hagen mit einem schiefen Hals und einem Speichelfaden, der meinen rechten Mundwinkel mit meinem Pullover verband. Mir war schwindlig. Keiner der umliegenden Sitze war belegt; offenbar hatte mir niemand beim Schlafen und Sabbern zugesehen. Ich tastete vorsichtshalber nach meinem Telefon und meinem Portemonnaie. Alles an seinem Platz; auch mein Rucksack steckte noch in der Gepäckablage über mir. Seit dem Überfall auf Günther fühlte ich mich nicht mehr so sicher in Deutschland. Ich sah auf die Anzeige draußen auf dem leeren Bahnsteig. Der Zug, in dem ich saß, hatte demnach über zwanzig Minuten Verspätung. Ich schrieb Sylvia, dass ich in etwa zwanzig Minuten in Bochum sein würde. Trotz der Verspätung hielt der Zug noch lange in Hagen. Ich vertiefte mich in das Skelett aus grünen Stahlbögen, die die Überdachung trugen. Wie der Bauch eines gekenterten Schiffs sah dieses Dach aus. Als es gebaut worden war, hatte das Industriezeitalter in voller Blüte gestanden, und Hagen war ein stolzer Exponent dieser Zeit gewesen. Heute versuchte man mit diesen Überresten Touristen anzulocken. Aber wer wollte sich schon das Elend ansehen, das unter diesen herrschaftlichen Bögen herumschlich? Die Stadttauben mit ihrem untrüglichen Gespür für alles Denkmalgeschützte bedeckten auch diesen Ort allen martialischen Abwehrmaßnahmen zum Trotz mit ihren Exkrementen. Endlich fuhr der Zug weiter. Die Verspätung war mittlerweile auf bald dreißig Minuten angewachsen. Sylvia stand mit Schal und Mütze und Handschuhen - und trotzdem sichtbar frierend - am Bahnsteig. Sie gab mir einen verhuschten Kuss auf die Wange zur Begrüßung und fragte mich, ob sie mir etwas abnehmen solle. Als ich verneinte, ging sie zügig voran, sodass ich mit meinem schweren Rucksack Probleme hatte, hinterherzukommen. „Komm“, rief sie, „mir ist kalt.“ Das Parkhaus lag am Hinterausgang des Bahnhofs, dort wo die Grüppchen von Obdachlosen in der Kälte näher zusammenrückten. Es war der erste richtige Wintertag, schneidend kalt und klar.

Nina war schon im Bett gewesen, als Sylvia mich abholen gefahren war, aber als sie uns kommen hörte, kam sie noch einmal aus ihrem Zimmer. Geblendet von den hellen Strahlern an den Wohnzimmerwänden kniff sie die Augen zusammen. Ihren Schlafanzug zierte ein Bild aus irgendeiner mir unbekannten Zeichentrickserie. Ein wütendes Kind mit Stachelfrisur war darauf zu sehen. Es reckte im Rennen seine Faust dem Betrachter entgegen. Das Bild stand damit in deutlichem Kontrast zu Ninas schüchterner Körperhaltung. Als ich mich aber herunterbeugte und meine Arme öffnete, kam sie mir doch entgegengerannt. „Papa“, rief sie im Heranstürmen. Noch während ich sie in die Arme schloss, merkte ich, dass ihr Schwung zu viel für meinen immer noch eingeschränkten Gleichgewichtssinn war. Ich versuchte noch einen Ausfallschritt nach hinten zu machen, aber schon saß ich auf dem Hintern und Nina auf mir. Ich hatte mir ziemlich wehgetan, versuchte aber trotzdem die Peinlichkeit der Situation mit Lachen abzumildern. Ich sah Sylvias besorgtes Gesicht. „Alles noch dran“, sagte ich zu ihr und vergrub dann mein Gesicht in Ninas Haaren und sog in tiefen Zügen ihren wunderbaren Kinder-Schlafgeruch ein. „Geh jetzt mal wieder ins Bett, Nina“, sagte Sylvia, „ich komme gleich und gebe dir noch einen Gute-Nacht-Kuss.“ Nina gehorchte. Sylvia half mir auf. Mein Steißbein schmerzte. Ich zog es vor, den Salat, den Sylvia mir übriggelassen hatte, im Stehen, an die Küchenzeile gelehnt, zu essen. Sylvia kam aus dem Kinderzimmer zurück und setzte Teewasser auf. „Soll ich dir einen mitmachen?“, fragte sie. „Nein danke“, sagte ich. Das anschwellende Rauschen des Wasserkochers machte eine weitere Unterhaltung unmöglich. Ich stocherte in meinem Salat, Sylvia räumte die letzten Reste des Abendessens weg. Als sich der Wasserkocher endlich mit einem erlösenden Klick abschaltete, schwiegen wir trotzdem noch etwas weiter, bis sich unsere Blicke trafen. „Und“, fragte sie, „wie war dein Urlaub?“ „Günther liegt in Frankfurt im Krankenhaus“, sagte ich. „Lass mich raten – Herzinfarkt?“ - „Er wurde überfallen und verprügelt“ – „Von wem?“ - „Von irgendwelchen Leuten, die seinen LKW ausrauben wollten.“ – „Das ist ja schrecklich. Und wo warst du?“ – „Unter der Dusche.“ – „Gerade habe ich noch gedacht, dass du genau da hingehörst.“ – „Tja. Mein Plan war eigentlich gewesen, wie aus dem Ei gepellt hier anzukommen. Hat leider nicht so funktioniert.“ – „Entschuldigung. Es tut mir leid, was euch passiert ist. Wie geht es Günther? Ist er schlimm verletzt?“- „Nicht lebensgefährlich, aber er hat schon ordentlich was abbekommen. Als ich zu ihm kam, lag er noch auf der Intensivstation.“ – „Wer macht denn sowas?“ – „Ich gehe jetzt duschen.“ – „Mach das. Aber schlaf dann bitte im Gästezimmer. Ich muss morgen früh raus. Gute Nacht.“ Sie verschwand mit ihrem Tee im Schlafzimmer.





Teil 3

1.

Wir erfuhren nie, wer Günther so zugesetzt hatte. Die Polizei stellte die Ermittlungen angesichts mangelnder Erfolgsaussichten bald ein. Günther erholte sich nur langsam von seinen Verletzungen. Vor allem seine Lunge machte ihm noch richtige Probleme. Da hatte er schon vorher nicht mehr viele Reserven gehabt. Und weil er wegen der gebrochenen Rippen nicht richtig durchatmen konnte, bekam er noch eine Lungenentzündung. So in etwa erklärte es mir Saya. Er musste wohl doch noch an die Beatmungsmaschine und brauchte lange, um davon loszukommen. Damit er trotz der Beatmung wach bleiben konnte, hatten sie ihm ein Loch in die Luftröhre gebohrt, durch das der Beatmungsschlauch lief. Irgendwann war er so weit, dass sie ihn nach Gelsenkirchen verlegen konnten, und irgendwann war er sogar so weit, dass sie das Loch in seinem Hals wieder verschließen konnten. Als ich ihn wiedertraf, hatte er bestimmt dreißig Kilo Gewicht verloren und sah um zehn Jahre gealtert aus. Er blieb ab da der ausgezehrte Riese, von dem ich schließlich Abschied nehmen musste. Auf seinen Schlepper kehrte er auch nicht mehr zurück. Dieser zweite Schlag binnen eines Jahres war zu viel gewesen. Seine Hand war wieder schlimmer geworden, und er hatte gerade noch genug Luft, um zu Fuß zur Trinkhalle an der Ecke zu kommen. Sogar die Rentenkasse sah jetzt ein, dass dieser Mann dem Arbeitsmarkt nicht mehr ernsthaft zur Verfügung stand und entließ ihn in den vorzeitigen Ruhestand. Zu seiner Verabschiedung schenkte ihm seine Firma ein originalgetreues Modell des Sattelzugs, mit dem er Europa in allen Richtungen durchkreuzt hatte. Der stand fortan von unten angeleuchtet neben Sayas Bildbänden über die Philippinen im Wohnzimmerregal. Außerdem gab es noch Karten für den Starlight-Express. Günther schickte mir nach dem Besuch in Bochum ein Bild von sich im Anzug, der ihm nach dem ungewollten Gewichtsverlust viel zu weit geworden war, und Saya im blauen Abendkleid. Beide strahlten auf dem Bild. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass sie gemeinsam ausgegangen waren. Saya hatte sich extra einen Tag Urlaub genommen.

Badrag glaubte, seinem Vater eine Freude zu machen, indem er ihm einen kleinen Mischlingsrüden von einem Urlaub auf den Philippinen mitbrachte. Vielleicht wollte er auch einfach nur seine Frau besänftigen, die den Hund am Strand aufgegabelt hatte und ihn unbedingt mit nach Hause nehmen wollte. Jedenfalls war Badrag offenbar nicht klar, wie wenig belastbar Günther noch war. Das arme Tier, das sein Leben lang hatte frei herumstreunen dürfen, musste sich nun meistens mit den winzigen Ausflügen zur Trinkhalle begnügen, wenn sich nicht noch Saya seiner erbarmte und nach einer ihrer aufreibenden Schichten im Altenheim mit ihm losging.

Als der Besitzer der Trinkhalle, Ivo, eines Tages erzählte, dass er sich zur Ruhe setzen wolle, aber niemanden finde, der ihm die Trinkhalle abkaufen wolle, erwachten Günthers Lebensgeister wieder. Nicht nur, weil damit der Nachschub an Alkohol und Zigaretten gefährdet schien. Er fand sich plötzlich doch zu jung, um als Frührentner in der Wohnung zu sitzen und darauf zu warten, dass Saya nach Hause kam, oder einer seiner Söhne ihn besuchte, was selten genug vorkam. Er signalisierte Ivo sein Interesse an einer Übernahme der Trinkhalle. Saya war skeptisch, und ihre gemeinsamen Ersparnisse reichten auch nicht, um die Ablösung zu zahlen, die Ivo vorschwebte. Es begannen zähe Verhandlungen, von denen mir Günther während unserer gelegentlichen Telefonate erzählte. Schließlich beschloss ich, Günther das fehlende Geld zu leihen. Sylvia war erbost darüber, aber nachdem ich es einmal ausgesprochen hatte, war ich nicht mehr bereit, mein Angebot zurückzunehmen. Und Günther nahm es nach einigem Zögern an. Nach dem, was Ivo ihm vorgerechnet hatte, konnte er das Geld binnen drei Jahren zurückzahlen. Tatsächlich wurden es fast fünf. Aber für Günther blieb es eine Ehrensache, dass er mir ab da jedes Jahr um Weihnachten herum einen prall mit Bargeld gefüllten Umschlag überreichte, der immer so viel enthielt, wie er in der Lage gewesen war binnen eines Jahres zu sparen, ohne seinen insgesamt bescheidenen Lebenswandel noch weiter einzuschränken. Das meiste gab er immer noch für Bier und Schnaps und Zigaretten aus, obwohl er die nun zum Großmarktpreis bekam. Ich betonte immer wieder, dass ich das Geld nicht dringend zurück brauche, aber Günther machte dann jedes Mal ein gekränktes Gesicht.

2.

Die Trinkhalle lief gut. Auch wenn einige von Ivos Stammkunden wegblieben, sprach sich doch herum, was für ein umgänglicher Mensch Günther war. Er hörte zu, gab Ratschläge, schrieb auch mal an, wenn sich jemand respektvoll genug an ihn wandte, und sein Hund ließ sich von allen Kunden streicheln. Auch zu den Kindern, die ihr Taschengeld in Süßigkeiten anlegten, war Günther immer freundlich und legte eher noch eine saure Schnur oder einen Lolli oben drauf, als geizig nachzurechnen. Anfangs nahm ich Nina manchmal mit zu ihm. Sie war jedes Mal völlig verzaubert von den vielen Zeitschriften, besonders von denen für Kinder, an die noch irgendwelche fragwürdigen Spielzeuge angehängt waren. Natürlich schenkte ihr Günther jedes Mal eine davon. Damit blieben auch Sylvia unsere Besuche bei Günther nicht verborgen, und sie verbot mir direkt, Nina noch einmal dorthin mitzunehmen.

Drei Mädchen aus der Nachbarschaft, die regelmäßig kamen, erwirkten sich das Recht, den Hund, den Günther zur allgemeinen Belustigung nach dem Vorbesitzer Ivo getauft hatte, Gassi zu führen. Zum Glück war Ivo weggezogen, sonst hätte es vermutlich Ärger gegeben, denn der Hund ähnelte Ivo tatsächlich auf wenig schmeichelhafte Weise. Beide waren kleiner als die meisten ihrer Artgenossen im Umkreis, struppig und von schnell erregbarem Gemüt, was oft und gerne kommentiert wurde.

3.

Auch ich machte nach dem bitteren Ende unserer gemeinsamen Fahrt nicht einfach so weiter wie zuvor. Seit dem Unfall hatte ich mich nicht mehr wohlgefühlt zwischen den vielen meiner mittlerweile oft deutlich jüngeren Kollegen, die sich zwar gegenseitig in Liebenswürdigkeit überboten, aber doch keine Gelegenheit ausließen, sich vor Lennart und Lasse auf Kosten nicht Anwesender zu profilieren. Ich spürte zwar, dass mir meine Behinderung einen etwas geschützteren Status verschaffte, aber es wurde doch erwartet, dass ich früher oder später an meine Leistung vor dem Unfall anknüpfen sollte. Auch Sylvia fand, dass ich mich nicht zu lange auf meiner Verletzung ausruhen solle, dass es doch auch für mich irgendwann noch einmal weiter nach oben gehen müsse. Ich schlug jedoch einen anderen Weg ein. Ohne jemandem davon zu erzählen, begann ich mich auf Stellen in der Stadtverwaltung zu bewerben. Der Tipp kam von Marcel, einem ehemaligen Kommilitonen, den ich vor der Umkleide wiedergetroffen hatte, in der sich unsere beiden Töchter nach dem Judo umzogen. Marcel hatte einige Jahre bei einem privaten Fernsehsender gearbeitet, bis das Gefühl, seine Geisteswissenschaftler-Ideale verraten zu haben, zu übermächtig wurde, wie er sagte. Auch sei der Job mit seinem Anspruch als Vater präsent zu sein, nicht vereinbar gewesen. Mittlerweile arbeitete er seit zwei Jahren beim Katasteramt. Nicht, dass der Job selbst ihn seinen Idealen nähergebracht hätte, aber es sei eben Verwaltung, genau wie man sie sich vorstelle. „Um Punkt sechzehn Uhr lasse ich den Stift fallen“, sagte er, „okay, ich lasse ihn nicht fallen, denn das wäre Beschädigung öffentlichen Eigentums, und ich musste für jeden mir ausgehändigten Bürogegenstand eigens unterschreiben, dass ich sorgfältig damit umgehe. Ich stecke also den Stift in den ebenfalls von der Stadt finanzierten Stifthalter und verabschiede mich von meinen Kollegen, die alle zur gleichen Zeit das Gleiche tun. Und ab da verschwende ich bis zum nächsten Morgen um neun keinen Gedanken mehr an die Arbeit, geschweige denn, dass ich mir was davon nach Hause nehme.“ Ich war fasziniert. Marcel schrieb nebenbei Rezensionen für eine neue Ruhrgebiets-Kulturzeitschrift, er kochte semiprofessionell und besuchte Tangokurse mit seiner Frau. Erst als ich anmerkte, dass zumindest letzteres für mich nicht mehr in Frage käme, schien er meine Behinderung zu bemerken. Detailliert wie noch niemand vor ihm fragte er mich dann nach dem Unfall und seinen Folgen aus. Am Ende fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, einem Kollegen von seiner Zeitschrift ein Interview zu geben, da gebe es so eine Rubrik über Menschen, die sich von einem Schicksalsschlag erholten. Das müsse ich mir erst noch überlegen, sagte ich ihm zum Abschied; wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Nina verlor allerdings bald die Lust am Judo. Ich sah Marcel nicht wieder, und von dem Interview hörte ich auch nichts mehr, aber das Lebensmodell, das Marcel mir angepriesen hatte, erschien mir tatsächlich attraktiver als das, in das ich geraten war.

Ausgerechnet das Arbeitsamt schickte mir eine Zusage. Sylvia war völlig befremdet, als ich ihr abends, als Nina schon im Bett war, bei einem Glas Rotwein auf der Couch eröffnete, dass ich demnächst als Sachbearbeiter beim Arbeitsamt anfangen würde. Erst dachte sie, das sei ein Witz. Als sie begriff, dass es mir ernst war, schüttelte sie den Kopf. „Willst du dich wirklich dermaßen unter Wert verkaufen?“ fragte sie, „es ist doch nur dein Bein… dein schlauer Kopf funktioniert doch wie eh und je, du musst nur etwas draus machen!“ „Vielleicht will ich aber gar nichts draus machen“, antwortete ich. „Ach Karl, lass dir doch von diesem Unfall nicht dein ganzes Leben diktieren.“ – „Wer sagt denn, dass mir der Unfall irgendwas diktiert. Er hat mich einfach nur zum Nachdenken gebracht.“ – „Du musst es ja wissen.“ Mit dieser Floskel ging etwas zu Ende zwischen uns.

4.

Lennart reagierte mit ähnlichem Unverständnis, als ich ihm meine Kündigung überreichte. „Wir hätten doch über alles reden können“, sagte er. Ich war erstaunt. Er wirkte ernsthaft betroffen. Ich hatte eine kaum verhohlene Erleichterung darüber erwartet, dass ich meinen Platz für jemand jüngeren, belastbareren, leistungsfähigeren räumen würde. Während ich mich um das Catering für meinen Abschiedsempfang kümmerte, versuchte ich mir vorzustellen, was in meinem Unternehmen das Äquivalent zu Günthers LKW-Modell sein konnte. Bei uns gab es nichts zum Anfassen außer Rechnern und Büromaterial, unsere Arbeit bestand aus nichts als Text, Tabellen, Grafiken. Vielleicht einen 3D-Druck des Firmenlogos, in das auf wenig originelle Weise ein Notenschlüssel, eine lachende und eine weinende Theatermaske und eine an Henry Moore erinnernde Skulptur eingearbeitet waren? Den würde ich mir jedenfalls nicht ins Wohnzimmer stellen. Am Ende wurden es Karten für die Bochumer Symphoniker, über die ich mich tatsächlich freute. Überhaupt lief der Abschied so, dass ich mich wirklich noch einmal fragte, ob ich da nicht eine dumme Entscheidung getroffen hatte. Alle waren auf einmal so nett, interessiert, und verständnisvoll. Manche zeigten echtes Bedauern, andere beglückwünschten mich oder schwelgten gar in der Vorstellung, selbst eines Tages kürzer zu treten. Meine Schreibtischnachbarin Ines half mir noch, die letzten Sachen hinunterzubringen, und ich war dankbar, denn der Sekt war nicht gut für mein Gleichgewicht gewesen. Die Zeiten, in denen ich mit der Straßenbahn hatte fahren müssen, waren zum Glück vorbei, wir hatten jetzt ein schickes Automatikauto. Als alles im Kofferraum verstaut war, umarmten Ines und ich uns neben der Parkbucht, von der mein Nummernschild schon abmontiert war, und sie gab mir sogar zum ersten und letzten Mal einen Kuss auf die Wange zum Abschied.

Von meinem Abend mit Sylvia bei den Bochumer Symphonikern schickte ich Günther kein Bild. Sylvia gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Wir fuhren schweigend vom Musikforum nach Hause, wünschten uns förmlich gute Nacht, und jeder verschwand in sein Zimmer.

Mir machte mein neuer Job als Arbeitsvermittler wider Erwarten richtig Spaß. Nachdem ich in einer zweiwöchigen Schulung immer wieder ermahnt worden war, ja nicht zu sehr mit meinen ‚Kunden‘ zu sympathisieren, sondern sie mit sanftem aber bestimmten Druck aus ihrer ‚Komfortzone‘ zu drängen, nachdem ich weitere zwei Wochen dabei zuschauen durfte, wie eine meiner zukünftigen Kolleginnen diese Doktrin komplett verinnerlicht hatte und unabhängig davon, wer vor ihr saß, anwendete, stand mein Entschluss, auf alle guten Ratschläge zu pfeifen. Die meisten, die da fortan vor mir saßen, waren ohnehin so weit davon entfernt, jemals wieder einer regulären Arbeit nachzugehen, dass allen Beteiligten klar war, dass wir hier nur eine Parodie von Arbeitsvermittlung durchspielten; und ich nutzte die regelmäßigen Termine lieber dafür, diese geplagten Existenzen aus ihrem Leben erzählen zu lassen, statt sie noch weiter unter Druck zu setzen. Anfänglich hatte ich noch Sorge, dass ich deswegen früher oder später Ärger bekommen würde. Aber meine Vermittlungsquote unterschied sich nicht von der meiner Kollegen mit mehr pädagogischem Sendungsbewusstsein, und so ließ man mich in Ruhe.

Meine neu gewonnene Freizeit nutzte ich, indem ich in unserem Garten neue Obstbäume hochzog, einen Fischteich und zwei Hochbeete anlegte, eins für Nina, eins für mich, wo wir Radieschen, Möhren und Bohnen zogen. Ich holzte die alte lebensfeindliche Thuja-Hecke ab und ersetzte sie durch eine aus Hasel. Ich schreinerte mit Nina einen Parcours für ihren Hamster, ich brachte ihr die Grundlagen des Schachspiels bei, ich begleitete sie zum Tanzen und zum Reiten, ich fuhr sie mit ihren Freundinnen mal ins Spaßbad, mal in eins der vielen Museen in den umliegenden Städten. Selbst Sylvia musste irgendwann gestehen, dass es uns als Familie so besser ging. Unsere Ehe rettete das trotzdem nicht. Sylvia blieb immer häufiger, immer länger bei der Arbeit, traf sich mit ‚Freundinnen‘, von denen vorher nie die Rede gewesen war, und ging mir, wo es ging, aus dem Weg. Es schien ihr im Allgemeinen egal zu sein, womit ich meine Zeit verbrachte, nur an meinen Besuchen bei Günther stieß sie sich nach wie vor, so als sei dessen Alkoholismus ansteckend, und die Gefahr groß, statt eines immerhin noch irgendwie nützlichen Versagers irgendwann nur noch ein dauerbetrunkenes Wrack zuhause sitzen zu haben. Dabei trank sie viel mehr als ich.

5.

Aber ein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich auch. Weniger Günther, und schon gar nicht Sylvia gegenüber, aber Sayas wegen. Denn Günther, seit er direkt an der Quelle saß und auch zu wenig anderem mehr in der Lage war, rauchte und trank immer mehr, je weniger sein Körper den Giften entgegenhalten konnte. Jeder konnte zusehen, wie er sich langsam aufzehrte, er selbst auch. Das Sauerstoffgerät wurde sein ständiger Begleiter. Jeder Kunde kannte das Zischen des Kompressors, und alle wussten, dass sie mit dem Anstecken ihrer Zigaretten warten mussten, bis sie sich von Günthers Fenster entfernt hatten, um keine Verpuffung zu riskieren. Auch Günther selbst kam zum Rauchen immer raus und ließ das Gerät im Laden. Am Ende war immer eine Sehnsucht in seinen Augen: saß er drinnen, schielte er gierig nach den Zigaretten, die draußen an den beiden Stehtischen geraucht wurden, stand er selbst mit seiner Zigarette draußen, schielte er zum Sauerstoffgerät im Laden hinüber. Ob Saya ihn manchmal bat, das Rauchen aufzugeben, weiß ich nicht; in meiner Gegenwart hielt sie sich immer bedeckt. Ich glaube sie wollte Günther auf keinen Fall die Freude über meine Besuche verderben. Badrag hielt sich weniger zurück. Günther verdrehte immer die Augen, wenn er von dessen Besuchen erzählte, und wie sein Sohn immer versuche, ihn zu erziehen. Günther hätte es sicher vorgezogen, statt der Tiraden seines Erstgeborenen häufiger Iskos schweigsame Gegenwart zu genießen, aber der ließ sich nur selten bei seinen Eltern blicken, war immer viel zu beschäftigt, seinen Namen in der Kampfsportszene noch größer zu machen. Er wollte eine eigene Schule gründen, und wenn er nicht trainierte, dann malochte er auf dem Bau für das Startkapital.

Sieben Jahre. Solange hat Günther noch durchgehalten nach unserer gemeinsamen Fahrt damals. Nina ist jetzt fünfzehn. Sie schminkt sich, zum Glück fast genauso dezent wie ihre Mutter, verschwindet für Stunden im Badezimmer, und glättet sich ihre Locken mit einem Glätteisen. Von Hamstermöbeln und Hochbeeten will sie längst nichts mehr wissen. Wenn wir reden, dann am Essenstisch, bevor sie wieder in ihrem Zimmer verschwindet. Dessen Tür ist jetzt immer geschlossen. Meistens telefoniert sie dahinter mit Gero. Geros Eltern führen zusammen eine kieferorthopädische Praxis, zum Glück nicht die, zu der Nina geht. Wahrscheinlich sähen es seine Eltern gerne, wenn Gero später auch Kieferorthopäde würde. Sein Haus liegt fußläufig von unserem. Es wurde erst vor kurzem fertiggestellt, ineinander geschachtelte Betonwürfel mit viel Glas. Von den fußtiefen Fenstern aus kann man direkt auf die Ruhr hinuntersehen, hat Nina erzählt. Ich stand bisher nur im Flur, um Nina abzuholen. Allein, was da an der Garderobe hing, hätte vermutlich gereicht, um unser Auto zu finanzieren. Unnötig zu sagen: Sylvia scheint sehr einverstanden mit dieser Verbindung zu sein.

Manchmal klingelt Nina mich noch nachts aus dem Bett, weil ich sie von einer Party abholen soll. Ich habe ihr gesagt, dass sie das immer machen soll, ehe sie sich zu irgendeinem betrunkenen Idioten ins Auto setzt. Ich habe leider den Eindruck, dass sie mich nur dann anruft, wenn sie keinen betrunkenen Idioten findet, zu dem sie ins Auto steigen kann. Aber vielleicht tue ich ihr damit Unrecht.

Jedenfalls scheint die Zeit zu Ende zu gehen, während der es mich erfüllte, für meine Tochter da zu sein. Die Lebensgeschichten, die ich jeden Tag im Job-Center aufgetischt bekomme, sind auch längst nicht mehr so spannend wie am Anfang. Auf die Dauer ähneln sie sich sehr. Und wer alles schuld ist an der Misere habe ich jetzt auch schon tausendmal gehört: die da oben, die Politiker, die Bosse, die Finanzhaie, die Ausländer, die Chinesen, die Amis, die Eltern.

6.

Und jetzt ist auch noch Günther tot. Günther, der an den Stehtischen seiner Trinkhalle vermutlich den gleichen Geschichten gelauscht hat wie ich an meinem Schreibtisch, nur noch verschärft im Ton, durch die eine oder andere zungelockernde Flasche Bier. Günther, der sie wahrscheinlich bestärkt hat in ihrer Wut: recht hast du, sag es ruhig laut, einer muss es ja mal sagen, wie wir von denen da oben verarscht werden. Aber auch für die zarteren Gefühle war er da: Liebeskummer, Trauerfälle, jeder, der zu Günther kam, fühlte sich gleich angenommen, verstanden, geschätzt. Wo sollen sie jetzt alle hingehen, die Traurigen, Gekränkten, Ungeliebten?

7.

„Was mache ich denn jetzt mit der Trinkhalle?“, fragte mich Saya, während wir zusammen von der Trauerhalle zum Parkplatz liefen. Einen kurzen Augenblick fragte ich mich ernsthaft, ob ich nicht anbieten sollte, an Günthers Stelle dort weiterzumachen. Ich musste mir Mühe geben, nicht unpassend zu grinsen bei der Vorstellung, was Sylvia dazu sagen würde. „Ich denke, es wird nicht schwierig, sie zu verkaufen“, sagte ich, „jeder in der Gegend weiß, wie gut sie läuft.“ - „Aber es wissen auch alle, dass sie vor allem wegen Günther so gut lief“, sagte Saya. Wir waren an dem mittlerweile sehr alten Opel angekommen, mit dem Günther und ich uns damals auf den Weg gemacht hatten. Ich wollte mich schon verabschieden, da sagte Saya: „Warte, Karl!“ Sie öffnete den Kofferraum. Da saß in einer Obstkiste in einem Nest aus Styroporflocken die Vitrine mit dem Sattelschlepper- Modell darin. Hinten schauten noch die Drähte für die Strahler heraus. „Günther wollte, dass du das bekommst“, sagte Saya. „Wirklich?“, fragte ich. Ich musste mich schon wieder zusammenreißen, um nicht zu grinsen bei der Vorstellung, wie sich das Ding in unserem Wohnzimmer machen würde. Da traf mein Blick auf Sayas braune Augen hinter den Brillengläsern, die viel zu groß für ihr kleines Gesicht erschienen. Ich sah die roten Ränder an ihren Augenlidern. Sie musste viel geweint haben. „Ich weiß nicht, ob du weißt“, sagte sie, „wieviel Günther diese Reise damals mit dir bedeutet hat. Er hat noch so oft davon erzählt; gar nicht von dem Überfall, sondern von euren gemeinsamen Tagen davor, von eurem Freund in der Türkei, und davon, wie du ihn hinterher im Krankenhaus besucht hast. Der Karl, das ist ein richtiger Freund, hat er dann immer gesagt…“ Sie brach ab, weil ihr die Tränen liefen. Ich hatte selbst einen Kloß im Hals, während ich ein Taschentuch aus meiner Jacke fingerte. „Hat er dir auch erzählt, dass wir uns kennengelernt haben, weil er mir das Leben gerettet hat?“, fragte ich sie. Sie nahm das Taschentuch und schnäuzte sich sehr laut. „Nein“, sagte sie, „dass hat er nie erzählt. Stimmt das denn wirklich?“ – „Ja“, sagte ich, „auch wenn ich lieber nicht erzähle, wie es dazu kam.“ Ich spürte die Scham wieder in mir aufsteigen, darüber, wie leichtfertig ich damals fast mein Leben beendet hätte, nur weil alles so wehtat. Ich starrte auf den Boden und spürte Sayas fragenden Blick auf mir. Noch bevor es richtig unangenehm wurde, sagte Saya: „Danke Karl, das hat mir sehr geholfen, und ich werde dich nicht mehr danach fragen.“ Wir umarmten uns zum Abschied. Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen.

8.

Als ich ein paar Wochen später noch einmal an der Trinkhalle vorbeifuhr, sah ich, dass sie wieder geöffnet hatte. Der Lockdown war vorbei und passend dazu wurde es überall Frühling. Ich hielt an und war erstaunt, Isko hinter dem Schalter sitzen zu sehen. Wie immer sah er so aus, als sei er direkt einem Kampfsport-Film entstiegen, die dicken schwarzen Haare hinten am Kopf zu einem Dutt verknotet, die freien Oberarme tätowiert mit Schriftzeichen und Drachen, das Gesicht scheinbar frei von jeder Emotion. Und auch, was im Hintergrund auf seinem Laptop lief, sah wie ein verpixelter Siebzigerjahre-Kung-Fu-Film aus. Ich musste ihm sagen, wer ich war, bevor er mich erkannte. Ich fragte ihn, ob er die Trinkhalle von Günther geerbt hatte. Er verneinte, die Trinkhalle gehöre immer noch seiner Mutter. Ich fragte ihn nach seinem Plan, eine Kampfsportschule zu gründen. „Die gibt es schon“, sagte er, „aber im Moment reicht es noch nicht, um davon zu leben. Deshalb helfe ich hier aus.“ – „Und wenn du trainierst?“, fragte ich. „Ich habe noch ein paar Freunde, die auch hier arbeiten“, sagte Isko. Ich sah zu den leeren Stehtischen hinüber, und fragte mich, wie Isko und seine Kampfsportfreunde sich mit den Stammgästen vertrugen. Ich erzählte Isko, wie stolz sein Vater mir damals das Video von seinem Kampf gezeigt hatte, und ich gestand ihm sogar, dass ich mir danach selbst noch weitere Videos von ihm angeschaut hatte, weil ich seine Art zu kämpfen wirklich ästhetisch fand. Bei der ersten Auskunft bildete ich mir noch ein, so etwas wie Freude über sein Gesicht huschen zu sehen, dann schien mir sein Ausdruck eher misstrauisch zu werden, obwohl sich eigentlich kaum etwas bewegte in seinem Gesicht. Mir dämmerte, dass sich mein Lob auch als Anmache verstehen ließ, und ich wurde rot. Ich verabschiedete mich schnell und bat ihn, Saya von mir zu grüßen. Er nickte, aber ich bezweifle, dass er meine Grüße ausgerichtet hat.

9.

In den Wochen nach Günthers Beerdigung versuchte ich immer wieder Kemal zu erreichen. In den ersten Jahren, nachdem wir ihn in der Türkei besucht hatten, hatte er sich jedes Mal, wenn er wieder in Deutschland war, bei Günther gemeldet. Oft hatten wir uns dann alle drei in einer Kneipe in Bochum getroffen, von deren Eingang aus man beim Rauchen auf das Krankenhaus sah, in dem wir gemeinsam gelitten hatten. Ich ging mit raus, auch wenn ich immer noch nicht rauchte. Auch drinnen hatten so viele Jahre Rauchverbot nicht ausgereicht, dass sich der typische Eckkneipengeruch verflüchtigt hätte. Es war eine der Kneipen, die ich ohne die beiden nie betreten hätte. Wir tranken Bier und Korn, spielten Skat wie damals, und einmal auch Dart. Obwohl ich der einzige war, der zwei gesunde Hände hatte, zogen mich die beiden derart ab, dass ich danach keine Lust mehr auf das Spiel hatte. Jedes Mal, wenn wir Kemal auf sein Haus ansprachen, und wie es denn vorangehe, wurde sein Blick düsterer. Es ging nicht gut voran. Er hatte Ärger mit Behörden und Handwerkern, das feuchte Klima setzte dem unfertigen Bau zu. Noch bevor das Dach fertiggestellt war, hatte ein Erdrutsch Teile des Grundstücks unter Geröll begraben und die schon fertigen Leitungen mit sich fortgerissen. Erst bei seinem letzten Besuch, etwa drei Jahre vor Günthers Tod, war Kemal auf einmal wieder guter Dinge. Das Dach stand, und auf einmal gingen die Arbeiten wieder gut voran. Kemal deutete an, dass sein Cousin Mehmet seine immer besser werdenden Beziehungen hatte spielen lassen, um ihm zu helfen; ich merkte, wie unangenehm ihm dieser Umstand war. Eigentlich rechneten wir schon damit, dass das nächste, was wir von Kemal hören würden, eine Einladung zur Einweihungsfeier sein würde. Jetzt waren drei Jahre vergangen, in denen Günther so sehr abgebaut hatte, dass an eine solche erneute Reise mit ihm nicht mehr zu denken gewesen wäre. Ich fragte Günther immer wieder, ob er etwas von Kemal gehört habe. Aber es kam nichts mehr. Trotzdem war es mir wichtig, Kemal von Günthers Tod zu benachrichtigen. Da die Mobilfunknummer nicht mehr zu stimmen schien, versuchte ich die Festnetznummer in Castrop-Rauxel, die mir Kemal damals bei unserem Abschied im Krankenhaus gegeben hatte. Kemals Frau meldete sich. Sie sprach nur gebrochen Deutsch. Als ich versuchte zu erklären, wer ich war und warum ich anrief, fing sie an zu weinen. Es dauerte etwas, bis ich die Geschichte, die sie erzählte, begriff. Offenbar hatte Kemal kurz vor der Fertigstellung des Hauses sein Gleichgewicht auf einer Leiter verloren und war so unglücklich gestürzt, dass er wenige Tage später im örtlichen Krankenhaus gestorben war. Das musste mindestens zwei Jahre her sein. Für mich fühlte es sich trotzdem so an, als sei ich auf einen Schlag der einzige Überlebende unserer Skatrunde. Ich fühlte mich plötzlich wieder sehr allein in dieser gnadenlosen Welt.

10.

Günther ist bislang der einzige Coronatote, den ich persönlich gekannt habe; und dabei muss man ihn wohl eher zu denen rechnen, die mit und nicht an Corona gestorben sind, wie es heißt. Vielleicht hätte er es ohne das Virus noch einmal aus dem Krankenhaus geschafft, aber spätestens beim nächsten oder übernächsten Mal hätte es ihn auch so erwischt. Seine Reserven waren aufgebraucht, dabei war er gerade erst 58 geworden. Nur dass er seine letzten Stunden auf einem Isolierzimmer verbringen musste, nachdem er sich offenbar erst im Krankenhaus angesteckt hatte, das war bitter. Dieser gesellige Mensch musste einsam zwischen vermummten fremden Gestalten sterben. Nicht einmal Saya konnte ihn mehr sehen, bevor sie ihm den Beatmungsschlauch in den Hals steckten. Wenigstens ist er schlafend erstickt. Ich hoffe, er hatte keine Angst mehr dabei. Er fehlt mir jetzt schon, obwohl wir uns seit unserer Reise nur selten gesehen haben, obwohl unsere Lebenswege so unterschiedlich waren wie unsere Interessen. Aber zu wissen, dass es ihn gibt, dass er für mich einstehen würde wie ich für ihn, obwohl niemand das von uns erwartete, das hat mir immer gut getan.

11.

In den Tagen, nachdem ich mit Kemals Frau telefoniert hatte, verstärkte sich die Trauer, die ich seit Günthers Beerdigung empfunden hatte, noch einmal. Ich saß oft auf dem Sofa und starrte meine Prothese an oder schlich ziellos durchs Haus; ich vergaß zu essen und realisierte oft erst verspätet, wenn jemand mich ansprach. Bei der Arbeit passierten mir Fehler, die ich nicht von mir kannte. Eine Kollegin fragte mich, ob ich neue gesundheitliche Probleme hätte. „Nein, nur ein Trauerfall im Freundeskreis“, sagte ich. Sylvia schien Ähnliches zu vermuten und fragte mich, ob ich aufgehört hätte, meine Medikamente einzunehmen. Sie beobachtete mich also doch noch, zumindest aus dem Augenwinkel, auch wenn sie nie den Eindruck machte, dass es sie interessierte, womit ich meine Zeit verbrachte. Erst da wurde mir bewusst, dass ich ihr gar nichts von Günthers Beerdigung, geschweige denn von der Nachricht von Kemals Tod erzählt hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, wann es angefangen hatte, dass wir uns nur noch das Notwendigste erzählten, um den Familienhaushalt am Laufen zu halten: wer kauft ein? Wer kocht? Für Putzen und Wäsche war die Haushälterin zuständig. Den Garten hatte ich komplett übernommen. Sylvia kümmerte sich um unsere gemeinsamen Rechnungen. „Keine Sorge“, sagte ich, „ich nehme die Medikamente genauso ein, wie der Arzt sie mir verschreibt. Ich trinke nicht heimlich, ich nehme auch keine Drogen. Ich bin einfach nur traurig, weil zwei alte Freunde gestorben sind.“ – „Wer?“, fragte Sylvia erschrocken. „Kemal und Günther“, antwortete ich. „Ach, die“, sagte Sylvia.

12.

Bei einem Kontrolltermin in der BG-Sprechstunde im folgenden Herbst wäre ich auf dem Flur beinahe in Frau Kayser gelaufen, die Psychologin, die mich damals auf der Schmerzstation begleitet hatte. Trotz der Maske erkannte ich sie sofort, ihre freundlichen Augen, in die zu schauen ich mich nie lange genug getraut hatte, um zu entscheiden, ob sie braun oder grün oder beides waren, hatte ich nie ganz vergessen können. Sie schien gar nicht gealtert in den sieben Jahren. Wie ich war sie wohl gerade von draußen gekommen, denn sie trug noch einen pelzbesetzten Mantel und eine Wollmütze. Ich war verblüfft, dass auch sie mich erkannte und sogar noch meinen Namen wusste. „Herr Frantek, richtig?“, fragte sie. „Ja, das stimmt, Sie beschämen mich mit ihrem guten Gedächtnis, Frau Kayser“, sagte ich. „Na hören Sie mal, Sie wissen meinen Namen doch auch noch“, sagte sie. „Ich sehe aber auch nicht hunderte wie Sie jeden Tag“, sagte ich. „Es sind nicht hunderte am Tag, und es sind nicht alle so wie Sie, Herr Frantek.“ – „Sie wissen, was ich meine: Unfallopfer wie mich.“- „Wissen Sie, die Unfälle, die interessieren mich am allerwenigsten. Ich weiß auch nicht mehr, ob Sie wegen einer Hand oder einem Fuß hier waren, ob Sie von der Leiter gefallen oder auf der Treppe umgeknickt sind. Aber ich weiß zum Beispiel noch, dass Sie gelernter Historiker sind und eine Tochter haben – stimmt das?“ – „Ich ziehe meinen nicht vorhandenen Hut.“ – „Sehen Sie, darum liebe ich meine Arbeit, weil ich mich mit den Menschen hinter den Unfällen beschäftigen darf.“ – „Sind es denn am Ende nicht immer die gleichen Geschichten?“ Ich dachte dabei an meine eigene Arbeit beim Arbeitsamt, und wie ich irgendwann das Interesse an den abschüssigen Biographien verloren hatte, die mir so austauschbar erschienen. „Nicht, wenn Sie die richtigen Fragen stellen“, sagte sie und lächelte mich ermunternd an, bevor sie sich verabschiedete und auf ihre Station eilte.

Vielleicht ist es das. Vielleicht muss ich wirklich anfangen, andere Fragen zu stellen.
 
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