Reinhold, ein Psychologe

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Am dritten Tag unserer Reise erreichten wir mittags Coburg. Wir nahmen ein Doppelzimmer für zwei Nächte in einem Gasthof unweit vom Markt. Ich war schon einige Male mit Reinhold unterwegs gewesen, wandernd, mit dem Rad oder dem Zug. Er kam immer von Frankfurt, ich aus dem Norden, wir trafen uns meistens in Würzburg und zogen dann weiter.

Während wir auspackten und uns einrichteten, fragte ich ihn: „Wann genau machst du deine Praxis auf?“ – „In zwei Wochen. Gleich nach der Rückkehr geht’s mit den Vorbereitungen los.“ Reinhold wollte sich in Hanau etablieren und dort Beratung in Lebenskrisen anbieten. In Frankfurt hätte er sich die Gewerbemiete nicht leisten können. Es war ein Versuch, sich in die Selbständigkeit vorzutasten, seine Teilzeitstelle würde er vorerst behalten. – „Denkst du an einen Umzug nach Hanau?“ – „Das hängt von der Entwicklung ab, von der Nachfrage …“ Er lächelte auf seine Art, in dieser Mischung aus Selbstsicherheit und schüchterner Skepsis. Mir war das immer sehr gewinnend an ihm vorgekommen. Er wollte jetzt nicht weiter über die Praxis reden und drängte zum Aufbruch. Coburg war neu für uns, wollte entdeckt werden.

Wir bummelten kreuz und quer durch die Altstadtgassen, warfen Blicke auf gut restaurierte Fassaden, in Schaufenster mit schönem Überflüssigem. Bei unserem Herumgehen wechselte Reinhold öfter die Seite, ging mal rechts, mal links von mir. Ich hielt es ebenso, wie es sich gerade ergab: hätte ich sagen können. Aber Reinhold hatte etwas an meinem Verhalten auszusetzen.

Er sagte: „Was ich neuerdings an dir bemerke: Du strebst immer an meine linke Seite, wie zwanghaft. Ist dir das bewusst?“ – „Nein, wieso? Und was soll daran Besonderes sein?“ – „Du weißt wohl: Der Herr geht immer auf der linken Seite der Dame, als Beschützer … Ein traditionell männliches Rollenverhalten, das du da ein bisschen spät ausbildest, dünkt mich … Das war früher bei dir anders.“

Kurzes Nachdenken meinerseits, dann konnte ich ihn aufklären. „Reinhold, es ist nicht das Herz, es ist das Ohr. Seit ich mit Sascha zusammen bin, kann ich mir das tatsächlich angewöhnt haben. Er ist rechts schwerhörig und verlangt immer, dass ich auf der anderen Seite gehe.“ Reinhold kommentierte es nicht, er lächelte wieder nur, halb verunsichert, halb seiner selbst gewiss.

Auf dem Marktplatz bewunderten wir erst die Prachtfassaden und aßen dann jeder eine Bratwurst. Wir nahmen sie vom Stand mit hinüber zu einer Bank, das Prinz-Albert-Denkmal im Blick. Beim Verzehren beobachteten wir auch die Menschen in der Nähe, wie sie schlenderten oder auf Bänken saßen, sich ruhig oder lebhaft unterhielten. Ich könne mir, sagte ich Reinhold, gerade keinen größeren Kontrast vorstellen als den zwischen dieser Szenerie und dem Hamburger Hauptbahnhof mit seiner ewigen hektischen Dynamik. „Sind es nur die Zwecke, die man gerade verfolgt, oder doch eine andere Mentalität, die sich da zeigt? Und ist es nur eingeübt oder tiefer verankert, sozusagen vererbt?“ – Er antwortete rasch und etwas heftig: „Vererbt gewiss nicht im biologischen Sinn! Perpetuierend sind nur die Verhältnisse, die sozialen Rahmenbedingungen. Es sind die gleichen Menschen wie in deinem Hamburg.“ Seine Augen ruhten jetzt länger auf einer kleinen Gruppe junger Leute neben uns.

Nach dem Imbiss brachen wir zur Veste auf, kamen jedoch nicht weit. An der zweiten Ecke stieß Reinhold einen Schrei aus: „Die Jacke! Ich habe meine Jacke auf der Bank liegen gelassen!“ Wir kehrten rasch um, erreichten im Laufschritt wieder den Marktplatz und fanden die Bank leer. Auch die Nachbarbänke waren nicht mehr besetzt, keiner da, den man hätte fragen können. Der Verlust war ärgerlich, doch keine Katastrophe: Die Börse mit den Wertsachen, Geld wie Karten, verwahrte Reinhold in einer Hosentasche und die Jacke war nur aus billigem Material. Wir traten dennoch etwas verstimmt den Weg bergwärts erneut an. Reinhold war sich sicher, wer die Jacke an sich genommen hätte: das junge Volk neben uns vorhin. Er habe die Gestalten im Blick gehabt und sie hätten ihn immer wieder interessiert gemustert, sagte er. Das sei ihm gleich seltsam vorgekommen.

Um ihn abzulenken, kehrte ich zum Thema Verhaltensvererbung zurück; als Bauernsohn hätte ich bei Haustieren da meine Beobachtungen gemacht. Ich erzählte ihm von zwei Kätzchen aus unterschiedlichen Würfen, die wir kurz hintereinander bekommen hätten – sie seien von Anfang an in ihrem Wesen diametral verschieden gewesen. Sollte das nicht ein Indiz dafür sein, wie Merkmale sich bei Säugetieren vererben könnten? – „Nein, nein, das bestreite ich ganz entschieden. An so etwas zu denken, ist abwegig. Es sind allein die Bedingungen, es ist nur das Milieu.“ – „Aber beide Katzen wurden von klein auf zusammen aufgezogen und ganz gleich behandelt.“ – „Es genügt schon, wenn die eine beim ersten Öffnen der Augen freundlich angeschaut wurde und die andere nicht. Der kleinste Unterschied der Behandlung in dieser Phase kann sich lebenslang auswirken, die eine geht dir danach immer freundlich schnurrend um die Beine und die andere bleibt dauernd überängstlich oder kratzt und beißt nur. Komm mir bitte nicht mit evolutionärer Psychologie durch die tierische Hintertür.“

Wir waren noch im Hofgarten und erst wenig angestiegen, als auf dem Kamm die Veste wie ein erhabenes Zauberbild ins Blickfeld kam. Ich suchte im Kopf weiter nach Argumenten und Beispielen, da blieb Reinhold abrupt stehen: „Das Postsparbuch! Es war in der Jacke, ich wollte doch heute Nachmittag Geld abheben. Was nun?“

Sofort losrennend verständigen wir uns im Laufen darüber, was geschehen müsse. – „Zuerst suchen wir noch einmal die Bänke ab.“ – „Aber dann schleunigst zur Post!“ Reinhold scheint mir sehr nervös. – „Vielleicht gibt es doch noch Zeugen.“ Wir finden den Marktplatz jetzt wieder belebter vor, nur von Jacke und Sparbuch keine Spur. Es ist sinnlos, Wildfremde mit Fragen zu belästigen. Da kommt mir eine Idee: „Der Bratwurststand? Fragen wir da noch.“ Mir sei mal die Brieftasche gestohlen worden und dann halb geleert, ohne Geld, doch mit Ausweis, per Post zugegangen. – „Ja, klar, sie nehmen erst das Sparbuch an sich und bringen dann nur die Jacke zum Imbiss …“

Reinhold geht trotzdem hin, während ich von weitem zusehe. Zwei oder drei Sätze werden gewechselt, er muss seinen Ausweis vorzeigen – da, er bekommt die Jacke herübergereicht. Er greift in die Innentasche und nun dreht er sich nach mir um, macht sichtlich erleichtert das Victory-Zeichen. Ich laufe schnell zu ihm hin und höre gerade noch, was die Frau hinter dem Tresen meint: „Gelt, da seid ihr froh, dass die jungen Leute so gut aufgepasst und die Jacke gleich rübergebracht haben?“

Reinhold lächelt befriedigt wie selten, diesmal ganz ohne Skepsis. Er sagt: „Suchen wir die Post, ich brauche Bargeld. Für die Veste ist es heute zu spät.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Wie immer lese ich auch diese Beschreibung einer Reise und Deines Begleiters sehr gerne, lieber @Arno Abendschön.
Und die Moral von der Geschicht`: Soo böse sind junge Menschen nicht.

Wer ist nicht froh und erleichtert, wenn ehrliche Finder die Sachen abgeben - erst recht, wenn sie dich vorher so seltsam interessiert gemustert haben.
Ich hab`s auch schon umgekehrt erlebt: So seltsam gemustert zu werden von zwei jungen Männern, abends, am Krefelder Bahnhof - und ich habe mir damals eingeredet: Wird schon nix sein, sei nicht so hypermisstrauisch!
Wenig später, im Gedränge des einfahrenden Zuges, verschwand meine Geldbörse - aus der geschlossenen Handtasche! Hab`s erst im anfahrenden Zug gemerkt, weil meine Tasche plötzlich offen war … und mit der Geldbörse waren auch Personalausweis, Scheckkarte und Fahrkarte weg.
Ob mit oder ohne psychologisches Studium: Hinterher ist man immer schlauer ;)
 
Danke, Isbahan, für die gute Meinung. Ja, du bist gleich zum Kern vorgedrungen, einer gänzlichen Fehleinschätzung von Fremden. Vielleicht lag's daran, dass unser Psychologe vor allem Dogmatiker zu sein scheint?

Meinen ausdrücklichen Dank ebenfalls für die günstige Bewertung, auch für die durch Kollegen Hein.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Hallo Arno,
Ich bin mit euch in der Geschichte am Marktplatz in Coburg ein bisschen mitgebummelt, war damit auch gut in die zunächst entspannte Atmosphäre eingestimmt. Dann abrupt der Schlag, der von einer Sekunde auf die andere, die Situation völlig veränderte. Ich konnte mir die Panik gut vorstellen.
Den Absatz, wo du den Freund psychologisch aufmuntern möchtest, hätte ich mit einem Satz abgehandelt, nicht mit einem Diskurs über (Tier-) Psychologie, um unterschiedliche Verhaltensweisen bei gleicher Genausstattung und verschiedenen Lebensbedingungen zu erörtern. Ich meine es wäre unerheblich für die Geschichte insgesamt, es sei denn du zielst genau darauf ab. Dann hätte ich es aber im Endabschnitt gemacht, quasi als Quintessence.
Gern gelesen!

Gruß; John
 
Danke, John Wein, für Lob wie für leicht tadelnde Kritik. Ich kann auch Letzteres durchaus nachvollziehen. Es mag schon sein, dass die Verknüpfung der Handlung mit Kritik am nicht genügend vorurteilsfreien Urteilen des Psychologen nicht deutlich genug wird. Ja, ich zielte schon genau darauf ab ... Würde es denn zum Charakter einer Kurzgeschichte passen, dies als Quintessenz an die eigentliche Handlung anzuhängen? Da habe ich Zweifel.

Die Formulierung "Um ihn abzulenken" sollte eigentlich als Schutzbehauptung des Ich-Erzählers verstanden werden. In Wirklichkeit stellt er gerade einen Zusammenhang her zwischen allzu dogmatischem Denken und Fehleinschätzung im Alltag; stilistisch also der Versuch, etwas durch das behauptete Gegenteil auszudrücken. Falls das nun wie nachträglich konstruierte Rechtfertigung klingt: Ich hatte tatsächlich zu dieser Einleitung des Absatzes genau diese Überlegung angestellt.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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