Reise nach London

Reise nach London


Es ist Freitagabend. Michaela, Silvia und ich wollen heute mit Bus und Schiff nach London fahren und schon am Sonntag zurück sein. Wir haben diese Reise geplant, als wir Paris besuchten, dort prima miteinander auskamen und unser gemeinsames Interesse für fremde Länder entdeckten.
Das Wetter ist ideal. Ein Hoch verwöhnt uns mit strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von über 20 Grad. Kein Wunder: wenn Engel reisen...
Zunächst müssen wir mit dem PKW nach Mönchengladbach fahren, denn dort startet unser Bus. Michaela drängt zum Aufbruch, sie hat die Panne zu Beginn der letzten Fahrt nicht vergessen. Da waren wir pünktlich am Abfahrtsort, warteten aber an der falschen Haltestelle. Fast wäre der Bus ohne uns gefahren.
"Diesmal klappt alles wie am Schnürchen", verkünde ich großspurig - und finde prompt keinen freien Parkplatz. Die Zeit läuft davon. Da fällt uns zum Glück ein, dass Sitzblockaden laut BVG nicht mehr strafbar sind. Also darf Silvia vor dem Bus ihr Recht ausüben und das Ungetüm aufhalten, bis wir einen Stellplatz gefunden haben.
Dan geht die Reise los. Auf dem Weg nach Aachen sammeln wir an jedem zweiten Telefonhäuschen weitere Fahrgäste ein, bis das muntere Volk die Sollstärke 70 erreicht hat. In flotter Fahrt durchqueren wir Belgien und Frankreich und sind schon bald an der Kanalküste, im Hafen von Calais.
Nervös ordnet Michaela ihr rotschimmerndes Haar und nestelt verstohlen ein Kaugummi gegen Reisekrankheit hervor. Doch das erweist sich als unnötig, denn das Lichtermeer im Hafens, der sternklare Himmel, die würzige Luft und das ruhige Wasser machen die Überfahrt zu einem Vergnügen. Bald schon tauchen die Kreidefelsen von Dover auf; wir sind in England.
Im ungewohnten Linksverkehr geht es an Canterberry vorbei in Richtung London, und als im Osten der Morgen dämmert, erreichen wir die Peripherie der Millionenstadt. Noch ist es ruhig auf den Straßen, folglich die richtige Zeit für eine Stadtrundfahrt zu den Sehenswürdigkeiten, die wir später auf eigene Faust erkunden wollen. London hat viel zu bietet davon: Das noble Mayfair und Soho, die Bond, Regent und Oxfort Street, wo exklusive Geschäfte miteinander wetteifern, Piccadilly Circus, von den Engländern Nabel der Welt genannt, den Hyde, Green und St. James Park, Westminster Abbey mit dem Glockenturm Big Ben, die Tower Bridge und den Tower, jenes berüchtigte Gefängnis, das Gruselgeschichten aus blutiger Vergangenheit erzählen könnte. Der Buckingham Palace und die Downing Street, die gewaltige Kuppel der St. Pauls Cathedral und die Umgebung des Trafalgar Square, Eaton Place und... und... und...
Am Hyde Park verkündet der Reiseleiter: "Sie haben elf Stunden Zeit in London. Punkt 20 Uhr fahren wir zurück. Wer früher kommt, muss vor dem Bus singen, wer sich verspätet, singt da, wo der Bus vorher gestanden hat. Viel Vergnügen.“
Unser Fahrerteam hat die Ruhepause redlich verdient.
Da stehen wir nun und überlegen, wie unser Programm ablaufen soll. Die Wachablösung am Buckingham Palace interessiert uns, wir kennen den Weg dorthin aber nicht. Michaela und Silvia sprechen englisch, recht gut sogar, trauen sich aber nicht, den Bobby drüben zu fragen. Ich verstehe Fremdsprachen so wenig, wie ein Neandertaler Algebra verstanden hat, schlage aber mutig vor, statt des Bobbys eine Bobbyne nach dem Weg zu fragen. Die tadelnden Blicke der Beiden bedeuten wohl, dass weibliche Polizisten so nicht heißen.
Der turbulente Autoverkehr zwingt uns in das Labyrinth der Unterführungen und die spucken uns dort wieder aus, wo wir nicht hin wollten. Ein Stadtplan muss her, der Rest ist für Michaela ein Kinderspiel, denn schon in Paris verblüffte sie uns mit ihrem guten Orientierungssinn.
Die Wachablösung ist eine farbenprächtige Darbietung exakter Paradeschritte, ein Verharren in marionettenhafter Bewegungslosigkeit und ein gekonntes Präsentieren der Gewehre, untermalt von Trommelwirbeln und Posaunenklängen. Mit Zuschauern aus vielen Länder verfolgen wir gebannt dieses mittelalterlich anmutende Schauspiel.
Nach zwei Stunden haben wir uns die Beine in den Bauch gestanden und suchen im Green Park nach einer freien Bank. Dann können neue Taten folgen. Langsam meldet sich der Hunger. In einem Anfall geistiger Umnachtung bestellen Silvia und ich Hamburger mit englischem Rindfleisch – und das mitten in der BSE Krise. Michaela lehnt ab, sie schätzt mehr die vegetarische Kost.
"Einer muss ja aufpassen, wenn bei euch der Rinderwahnsinn ausbricht", meint sie mit ernstem Gesicht, überlegt einen Augenblick und fährt dann fort: "Eigentlich eine unnötige Sorge, denn euer Risiko ist gleich Null."
"Wieso gleich Null“ will Silvia wissen.
"Ganz einfach“ antwortet Michi, "BSE greift nur das Gehirn an - doch wo nichts ist...“ weiter kommt sie nicht, weil man auf der Flucht Luft zum Atmen braucht.
Am Big Ben versöhnen wir uns wieder, verwerfen sogar großmütig den Plan, sie in den Tower zu sperren. Als wir jedoch später im Hyde Park auf der Wiese liegen, bemerkt Silvia vorwurfsvoll: "Mit Lebensmitteln spielt man nicht."
Das war, als Michaela mit Gras nach uns warf. Doch da wird es schon Abend. Interessiert beobachten wir die Vorbereitungen der BBC, die hier Übertragungswagen aufbaut. Morgen jährt sich der Tag, an dem der Weltkrieg zu Ende ging. Nachdenklich fragen wir uns, ob die Lehren daraus wohl von Dauer sind.
Auf der Heimfahrt ziehen wir Bilanz: Es war ein herrliches Wochenende, vollgepackt mit Eindrücken und Erlebnissen, die uns sicher noch lange in Erinnerung bleiben. Wir haben uns prächtig verstanden und viele schöne Stunden zusammen verbracht. So eine aufgeschlossene, unternehmungslustige und fröhliche Begleitung wünschte ich mir auf jeder Reise.
 

La Luna

Mitglied
Hallo Willi,

wie du weißt, liebe ich deine Geschichten, doch diese gefällt mir nicht ganz so gut.
Es liest sich eher wie ein Reisebericht.
Besonders die Aufzählung der vielen Sehenswürdigkeiten ist nicht so aufregend.

Ansonsten ist die Geschichte perfekt erzählt.
Das ist deine große Stärke, aber das weißt du sicher selbst...*zwinker.

Liebste Grüße
Julia
 
Grüß dich, Julia

vielen Dank für das Lob, aber ebenso für die wohlgemeinte Kritik.
Es stimmt, der Text ist eher eine Reisebeschreibung, steht auch als solche im Buch. Er war als Erinnerung gedacht für die beiden Mädel (Nachbarkinder - heute Lehrerinnen) die damals bei meinen ersten Schreibversuchen den Lektor spielten.
Ein schönes Wochenende wünscht dir
Willi
 
L

leonie

Gast
hallo willi

als reisebericht finde ich es gut geschrieben, würde aber statt lichtermeer im hafen, lichtermeer des hafens schreiben, oder war es ausversehen?
ganz liebe grüße leonie
 
Liebe leonie,

danke für dein Interesse.
Den Vorschlag übernehme ich gerne. War mir noch gar nicht aufgefallen. Eine andere Frage: im vorletzten Absatz stand ursprünglich...jährt sich der Fünfzigste Jahrestag...
Um den Text aktueller zu machen, änderte ich den Satz um auf...Tag...
Habe ich hier etwa Mist gebaut
fragt ein grübelnder
Willi
 
L

leonie

Gast
hallo willi

Ich würde es eher ergaänzen, z,.b. jährt sich der Tag, an dem vor 50 Jahren der Weltkrieg zu Ende ging. ich denke es liest sich flüssiger.
 

La Luna

Mitglied
Reisebericht

Lieber Willi,

unter diesem Aspekt betrachtet, bin ich mit deinem Beitrag - so, wie er ist - einverstanden. :eek:)
Den vorletzten Absatz würde ich so belassen.
Es ist m.E. gut formuliert.

Wünsche dir ebenfalls ein schönes Wochenende - etwas mehr Sonne könnte nicht schaden.


Liebe Grüße
Julia
 
Danke leonie,

hast Recht, klingt gut so. Hebt jedoch das wieder auf, was ich mit der Streichung bewirken wollte. In der Neufassung sollte ja der Eindruck entstehen, dass ich die Reise erst kürzlich gemacht habe. Fünfzig-Jahrfeier bedeutet ja 1995.
Doch meine Frage war, ob die jetzige Formulierung nicht irrtümlich den Zeitraum eines einzigen Jahres bezeichnet. Wollte diesen Fehler halt notfalls ausbügeln.
Es grüßt ganz lieb
Willi
 
L

leonie

Gast
hi willi

dann laß diese formulierung, aber eigentlich ist diese beschreibung, bis auf den jahrestag zeitlos, und gerade das finde ich schön. sie wird vielleicht in ein paar jahren genauso passen wie heute, oder halt vor sechs jahren.
ganz liebe grüße leonie
 



 
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