Reiselust

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Kalwap

Mitglied
Werner und Inge reisen gerne. Wenn sie die Reiselust überkommt, packen sie einfach ihre Koffer, laden das Gepäck in ihren alten Mercedes und fahren los. Sie fahren immer mit dem Auto. „Mit dem eigenen Wagen ist man unabhängiger“, klärt Werner mich stets auf, wenn ich vor Reiseantritt frage, warum sie denn nicht lieber mit Bus, Bahn oder dem Flugzeug in den Urlaub fahren. Inge sieht das genau wie Werner, einen Führerschein hat sie aber nicht. Inge ist eine gute Beifahrerin, lobt Werner seine Frau und sie würde immer mit auf den Verkehr achten, fast wie eine zweite Fahrerin, nur ohne Lenkrad, Gas und Bremse. Dann lacht Inge immer und freut sich.
Im März waren sie in Südtirol. Inge war begeistert, als sie mir davon erzählte. Meran hat ihr besonders gut gefallen. „Da wurden so viele Erinnerungen wach“, schwärmte sie und erzählte, dass sie mit Werner schon einmal dort war, als sie jung verheiratet waren. Im Juni machten sie Urlaub an der Ostsee, die langen Strandspaziergänge hatten ihnen richtig gut getan. Und nur einen Monat später fuhren sie für ein paar Tage an die Mosel. „Zum Ausspannen zwischendurch“, meinte Inge und Werner fügte hinzu: „Zur Weinlese fahren wir sicher noch einmal dorthin.“ So reisefreudige Nachbarn wie ich hat sicher nicht jeder. Wenn Werner und Inge unterwegs sind, sehe ich nach dem Rechten und kümmere mich um die Pflanzen. Wir haben eben ein wirklich gutes nachbarschaftliches Verhältnis.
Vor zwei Wochen sind Werner und Inge nach Berlin gefahren. Werner war vor vielen Jahren schon einmal da. Beruflich, hat er gesagt. Aber damals stand noch die Mauer. Jetzt wollte er Inge einmal die Stadt zeigen und auch selber schauen, was sich dort alles verändert hat. Ich finde das ganz schön mutig von Werner, mit den Auto nach Berlin zu fahren. Der viele Verkehr in einer völlig fremden Stadt, das wäre nichts für mich. Ich würde mich da überhaupt nicht zurechtfinden und wäre eher geflogen oder mit der Bahn gefahren. Werner hat nur gelacht, als ich meine Bedenken äußerte und erklärt: „Kindchen, ich fahre schon so lange Auto, da kann mich selbst Berlin nicht schrecken.“ Heute kommen Werner und Inge wieder heim.
Ich höre, wie ihr Wagen vor dem Haus hält und sehe aus dem Fenster. Irgendwie bin ich jedes Mal erleichtert, wenn Werner und Inge wieder gesund zu Hause ankommen. Ich mag die Beiden nämlich.
Vor ein paar Wochen hatte Werner bereits einen Unfall. Das war aber nicht im Urlaub, sondern bei uns im Ort. So ein junger Schnösel, wie er sagte, ist ihm einfach hinten reingefahren. Natürlich war der Andere schuld. Wer auffährt ist immer schuld, sagt Werner. Er wäre schließlich ein guter Fahrer und seine Inge sagt das auch. Genauso war es auch, als die Frau mit ihrem Kleinwagen ihm kürzlich die Vorfahrt genommen hat. Das die Leute nicht aufpassen können, hat er da geklagt und Inge hat genickt und gemeint, immerhin wäre ihnen nichts passiert und so ein Blechschaden wäre zwar ärgerlich, aber im Grunde zu verschmerzen.
Werner öffnet die Tür, hält sich am Türrahmen fest und quält sich langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Autositz. Am Fahrzeug abstützend geht er um den Wagen herum und holt seine Gehhilfe aus dem Kofferraum.
Ich gehe beiden entgegen. „Hallo Werner, hallo Inge! Wie war es in Berlin?“ „Großartig“, antwortet Inge. „Berlin ist wirklich eine Reise wert“, fügt Werner hinzu. Ich helfe den beiden mit dem Gepäck und begleite sie ins Haus. Werner sieht ein bisschen mitgenommen aus. „Sag mal Werner, wird dir die Fahrerei nicht langsam zu viel?“, erkundige ich mich vorsichtig. „Ach was“, Werner winkt ab, „das Auto ist nun mal wie ein zweites Paar Beine für mich. Wenn du erst mal über Achtzig bist, wirst du das verstehen.“


© Kalwap (Martina Pawlak) 31.07.2012
 



 
Oben Unten