Reisetagebuch: Stuttgart, 02. 10. – 04. 10. 2025

„Achtung! Ihre Reiseroute führt durch eine Umweltzone!“, warnt mich das Navi, als ich unser Ziel in der Stuttgarter Innenstadt eingebe. Da verstehe ich noch gar nicht, was das Gerät mir sagen will, das soll erst später kommen.
Wir fahren mit dem Auto, weil der Zug wahnsinnig teuer ist.
Ich habe gerechnet: Ungefähr 100 Euro Sprit sind erschwinglich; dagegen sind 600 Euro für zwei Zugtickets hin und retour abschreckend viel Geld. Das billigste Hotel, das auf die Schnelle zu kriegen war, schlägt mit 130 Euro pro Nacht zu Buche. Zweimal werden wir in Stuttgart schlafen.
Wir befahren einen Autobahnabschnitt, der auf Schildern als „schönste Autobahnstrecke Deutschlands“ angepriesen wird. Streckenweise ist die Fahrbahn rötlich eingefärbt und liegt wie ein Red Carpet vor uns. Links und rechts ziehen grüne Hügelkuppen und herbstliche Baumlandschaften vorbei; am blauen Himmel hängen Wolkengebilde wie 3D-Wattebauschen.
Das Erste, was wir von Stuttgart sehen, ist ein großes Parkhaus, das wie eine Brücke über die Autobahn gelegt ist. „Bosch Parkhaus“ steht in riesigen Lettern darauf. Dann ein Tunnel, an dessen lichtem Ende üppige Pflanzen wie grüne Stirnfransen herabhängen. Unser Hotel ist gleich dahinter, an der Hauptstraße gelegen.
Der Rezeptionist im Hotel ist äußerst gesprächig, das zeigt sich sogleich. Nach fünf Stunden Fahrt wollen wir eigentlich nur unseren Zimmerschlüssel, aber der Mann will reden.
Woher wir kommen? Aus Österreich, aha. Woher genau? Linz? Wo liegt das? Welchen Dialekt spricht man wo? Ach so, die Mama ist aus Bayern, interessant, und so weiter.
„Und? Was haben Sie vor in Stuttgart?“ kommt schließlich die Frage auf das Motiv unserer Reise. „Porsche-Museum? Oder zum Volksfest?“
„Nein“, sage ich. „Wir möchten gern auf die Friedens-Demo gehen, die morgen in Stuttgart stattfinden soll.“
Man merkt, das bringt den Mann aus dem Konzept.
„Eine Friedens-Demo?“ wiederholt er überrascht und gedehnt. Nein, davon weiß er nichts. „Ist die nicht immer an Ostern oder so? Oder an Pfingsten?“
„Sie meinen die Ostermärsche. Ja, die gibt es auch. Aber morgen ist eine andere große Friedensdemo angesagt, weil es das braucht im Moment.“
Ich bin mir nicht sicher, ob der Mann das auch so sieht. Schaut eher so aus, als würde er ein Aufbegehren gegen Militarisierung und Aufrüstung als nicht besonders wichtig erachten. Alsbald fängt er auch einen Exkurs zur Ukraine an, der erahnen lässt, dass er die Verlautbarungen aus Politik und Medien schon gut verinnerlicht hat.
Der Rezeptionist sagt: „Das, was Putin da in der Ukraine anstellt, ist doch klarer Genozid. Genozid am ukrainischen…“
(Er zögert, sieht mich an und sagt nicht: „Volk“.)
„…Das ist doch Genozid an der ukrainischen Kultur auf jeden Fall“, formuliert er den Satz dann anders zu Ende.
Erstaunlich, wie selbstverständlich und rasch ihm das Wort „Genozid“ über die Lippen geht, denke ich mir. An anderer, offensichtlicherer Stelle, im Fall von Gaza, ist dieses Wort ein Begriff, um den (immer noch!) erbittert gestritten wird und den man besser nicht allzu laut aussprechen sollte.
Ich gehe nicht auf die Sache mit dem Genozid ein, spreche allgemein von der Friedensbewegung, von Diplomatie, von einer anderen Sicht auf die Dinge.
Der Mann hört zu, immerhin. Immerhin, er hat eine Ahnung, was falsch läuft in der Welt.
Vor zwanzig Jahren, erzählt er uns, hätte er Amerikaner im Hotel gehabt. Die einen waren Republikaner, die anderen Demokraten. „Sie waren komplett anderer Ansicht, aber sie haben miteinander geredet, gefrühstückt, gelacht. Heute ist das anders, heute würden die sich nicht mal anschauen, das ist ein Jammer.“
Dazu nicken wir alle drei.
Um das Gespräch zu beenden und um endlich in unser Zimmer zu gelangen, bringe ich die Rede schließlich auf praktische Dinge. Unser Auto steht noch vorm Hoteleingang und müsste für die nächsten Tage irgendwo geparkt werden.
„Die Garage kostet 20 Euro pro Tag“, informiert uns der Mann. Er begleitet uns nach draußen, um uns zu zeigen, wo sich die Einfahrt befindet. Als er unseren kleinen Kia sieht, wird er stutzig.
„Sie haben ja gar keine grüne Umweltplakette!“, fällt ihm auf.
Er erklärt uns, dass wir ohne Plakette gar nicht in die Stadt hätten einfahren dürfen.
„Ist aber kein Problem“, beruhigt er uns hintennach. Solange wir nicht von der Polizei kontrolliert werden, würde nichts weiter passieren, und bis zur Abreise wäre das Auto ja in der Garage versteckt.
Jetzt verstehe ich auch die Warnung auf dem Navi, von wegen Umweltzone und so.
Vor allem Diesel-Fahrzeuge will man mit dieser Regelung von der Innenstadt fernhalten, sagt der Rezeptionist.
Wir haben keinen Diesel. Vermutlich hätten wir, wenn wir sie beantragt hätten, eine grüne Umweltplakette für unseren bescheidenen Kia erhalten. Das hätten wir vor der Reise beim ÖAMTC machen müssen, das hätte ungefähr sechs Euro gekostet. Wissen wir jetzt auch.

Das Zimmer ist einfach, aber sauber und liegt zentral.
Nachdem wir uns frischgemacht haben, erkunden wir die Innenstadt. Nicht weit vom Hotel befindet sich die Königsstraße, die Einkaufsmeile Stuttgarts.
In Sophie’s Brauhaus nehmen wir ein spätes Mittagessen ein. Der großzügige Gastraum überrascht mit bunter Glasmalerei und einem Kupferkessel, in dem hauseigenes Bier gebraut wird. Zufällig hatte ich das gemalte Werbeschild mit dem Portrait der rothaarigen Sophie zwischen zwei Imbissbuden erspäht. Die urige Gaststube ist im oberen Stock.
Gestärkt von köstlichen Käsespätzle flanieren wir anschließend Richtung Schlosspark, wo am nächsten Tag die große Demo starten soll. Ein Schnäppchen-Laden fällt mir ins Auge. Es gibt hauptsächlich Geschirr und Haushaltsbedarf. Orientalisches Teeservice, Pfannen, Bettwäsche, aber auch Handtaschen und Billigparfums, alles erschwinglich.
Weiter unten auf der Königsstraße hat ein Hugendubel neu eröffnet. Die Menschen stehen Schlange vor dem Buchladen. Am ballongeschmückten Eingang wird frisches Popcorn an die potentiellen Kunden ausgegeben.
Ein anderes Geschäft heißt „Tritschler“. Dort bietet man vor allem Deko und Geschenkartikel feil, Geschirr und Haushaltsbedarf ebenfalls, aber relativ teuer.
Im „Disgusting Food Museum“ kann man besonders eklige Speisen aus aller Welt anschauen, riechen und vermutlich auch probieren. Schon im Vorbeigehen sehe ich, dass der Eintrittspreis zweistellig ist, so gehen wir weiter.
Schön finde ich die Baumreihen in der Mitte, die sich als Allee die ganze Königsstraße entlangziehen. Rund um die Bäume sind zahlreiche Sitzmöglichkeiten montiert.
Kurz vor dem Schlosspark fällt ein blau-gelber Zeltstand ins Auge. Hier bittet die Ukraine um Spenden. „Frieden gibt es nicht umsonst“, „Gebt uns Waffen für die Freiheit“ oder „Kindermörder Putin“ steht auf den Transparenten, mit denen das Zelt geschmückt ist. Dazu Fotos von kriegsverletzen und verstümmelten Menschen.
Der Schlosspark ist heute große freie Fläche. Ihm gegenüber liegt ein säulengesäumtes Gebäude, das aussieht wie ein Museum, innen drin sind allerdings Geschäfte und Cafés. Dort, im sogenannten Königsbau, trinken wir Cappuccino mit Blick auf den großen Platz.
Wird er sich morgen füllen? Wir haben Zweifel.
Uns ist aufgefallen, dass in der ganzen Umgebung kein einziges Plakat auf die morgige Veranstaltung hinweist. Nur Reklame für Konzerte und Messen.
Weiter vorn rappt ein junger Mann christliche Texte, irgendwas von Jesus. Vor der aufgestellten Bühne hüpfen dazu zwanzig oder dreißig junge Menschen im Takt.

*****​

Der nächste Tag beginnt mit einem Spaziergang zu jenem Café, das uns der Rezeptionist empfohlen hat. Die Sonne scheint, aber es ist so kalt, dass man den Atem sieht.
Wegen des Feiertags öffnet das Café Herbertz erst um neun.
Die Einrichtung ist liebevoll zusammengewürfelt, die Eingangstür ist mit einem dunklen schweren Vorhang abgetrennt. Mein Mann ist begeistert und fühlt sich sogleich zurückversetzt in seine Studentenzeit, da er gern ähnliche Lokale besucht hat.
Mit Rührei und belegtem Laugenbrötchen verziehen wir uns in den türkis gestrichenen Raum mit goldgerahmtem Spiegel an der Wand. Stuck und Kristallluster an der Decke, frische Blume auf dem Tisch. Viele Bilder. Nebenan wird gerade der Holzofen angeheizt. Wir sitzen an einer großen Fensterscheibe und sehen draußen die Blätter tanzen.
Alle sind sehr freundlich. Studenten sind sicherlich auch unter den Gästen.
Das Laugengebäck mit Ziegenkäsefüllung ist feinblättrig knusprig und innen delikat gewürzt. Kaffee tadellos. Das Lokal füllt sich zusehends.

Nach dem Frühstück besuchen wir spontan das Hegel-Museum, das zwischen dem Hotel und dem Schlosspark liegt. Der Eintritt ist gratis, nur den Escape-Room müsste man extra bezahlen. Wir sind die einzigen Besucher.
Ausgestellt sind persönliche Gegenstände des Philosophen oder eine Büste des berühmten Stuttgarters. Man erfährt Details zu Hegels Werdegang oder kann über Kopfhörer zeitgenössische Denker wie Slavoj Žižek über Hegel sprechen hören.

Die Königsstraße mit den geschlossenen Geschäften ist relativ menschenleer. Auch das Ukraine-Zelt ist heute verschwunden. Bloß ein Brezelstand will Ware verkaufen.
Vor dem McDonalds steht ein alter Mann und bittet um Kleingeld. Ich weiß nicht, ob er sich mit dem einen Euro, den ich ihm gebe, dort etwas kaufen kann, aber wir lächeln uns an. Er dankbar, ich verschämt, wie so oft.
Dann Erleichterung:
Wo die Königsstraße in den Schlossplatz mündet, sieht man vom Schlossplatz nicht mehr viel. Überall sind Leute mit Transparenten, Fahnen und Schildern. Ich freue mich, dass so viele gekommen sind.
Die Bühne, auf der gestern noch die Jesus-People ihren Auftritt hatten, ist heute die unsere.
Weiter und weiter strömen die Menschen auf den Platz. Um 13:00 Uhr beginnt die Veranstaltung offiziell.
Es sprechen mehrere Persönlichkeiten. Den Auftakt macht ein rappender Musiker, der Zurufe aus dem Publikum spontan in seine Liedtexte einbaut.
Eine Palästinenserin, ein älterer Mann von der SPD, Sevim Dağdelen vom BSW, eine jüdische Stimme für gerechten Frieden, Margot Käßmann und viele mehr dürfen ans Mikro. Ein Video von Jeffrey Sachs wird eingespielt. Sachs analysiert einmal mehr den Ukraine-Krieg in einer Weise, die zu Verständigung und Frieden führen könnte. Er zählt auf, wie der Westen nach und nach alle Versprechen und Abkommen (INF, START, NEW START, Open SKIES…) mit dem russischen Partner als erstes gebrochen hat und nun aber alle Verantwortung von sich weist, immer nur mit dem Finger auf Russland zeigt.
Eine Frau von Pax Christi moderiert das Ganze.
Nach den Redebeiträgen stellt man sich für den Marsch durch die Stadt auf.
Wir gehen durch die Reihen und ich sehe mir an, was alles auf den Transparenten steht:
„Atombomber? Nein danke! Keine nukleare Aufrüstung“
„Sozial statt kriegstüchtig“
„Kriegstüchtigkeitszersetzendes Unterrichtsmaterial zum Ukrainekrieg verfügbar“
„Hier impfen gegen deutsche Staatsräson“
„Eure Kriege ohne uns“
„Nein zur Wehrpflicht“
„Jugend gegen Krieg“
„No one is free until everyone is free“
„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“
„Gegen US-Raketen in Deutschland“
„Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite“
„Ent-rüstet euch!“
„Frieden statt Wettrüsten“
„Meine Kinder kriegt ihr nicht!“
„Ich bin ein Muslim und stehe ein für eine Welt ohne Gewalt & Hass“
„Kriegstreiber stoppen! Frieden mit Russland und China!“
„Freiheit für Palästina! Nieder mit Apartheid und Besatzung“
„Deeskalation statt Aufrüstung“
„Nein zur Kriegswirtschaft“
„Schluss mit dem Völkermord in Gaza“
„Für Heizung, Brot und Frieden“
„Bildung statt Bomben“
„Wirtschaftskrieg gegen Kuba beenden“
„Für den Frieden lernen statt Ertüchtigung zum Krieg – Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“
„Wie viele Kinder müssen sterben, bevor ihr handelt?“
„Stop wars – save the planet“
„Frieden und Abrüstung“

Dazwischen immer wieder das Wort „Frieden“, die Friedenstaube und das Peace-Zeichen.
Die Transparente sind meist professionell gedruckt und meterlang; dazwischen handgeschriebene, selbstgebastelte Schilder. Kaum eins darunter, das ich nicht auch hochhalten würde.
So viele verschiedene Anliegen und alle berechtigt! Man merkt, es liegt vieles im Argen da draußen in der Welt.
Eine Gruppe Menschen präsentiert ein Banner von der „Friedensstadt Freiburg“ und ich muss daran denken, dass auch meine Heimatstadt diesen Titel trägt, immer noch, zumindest auf dem Papier.
Wir marschieren vom Schlossplatz los.
Vorneweg gehen die Redner hinter einem großen blauen Banner mit dem Aufdruck „Nie wieder kriegstüchtig – Stehen wir auf für Frieden!“, so auch der Titel der Veranstaltung.
Irgendwo reihen wir uns ein und gehen mit.
Am Straßenrand steht ein Typ, der sich als Superman verkleidet hat. Durchs Megafon ruft er uns „Danke!“ zu. „Danke, dass ihr heute hier seid und für Frieden auf die Straße geht! Für mich seid ihr Superhelden!“ skandiert er immer wieder.
Dann zeigt sich, wie seltsam es ist, dass der Rezeptionist im Hotel von der Veranstaltung nichts gewusst haben will. Der Demo-Zug führt nämlich fast direkt an unserem Hotel vorbei. Wenn der Mann heute Dienst hätte, er hätte uns spätestens jetzt wohl gesehen, gehört.
Eine Stunde laufen wir mit, dann machen wir Stopp in einem Café. Unglaublich lang ist die Demonstration, die hinterher noch an uns vorbeizieht, es nimmt gar kein Ende. Auch viele junge Menschen sind mit von der Partie, ein hoffnungsfrohes Signal.
15.000 Teilnehmer will man später gezählt haben, das ist schon ordentlich.

Kleine Pause nach der Demo.
Zurück im Hotel packen wir unsere Badetasche. Mit den Öffis fahren wir ins Solebad Cannstatt. Wir wollen noch was sehen von der Stadt.
Unterwegs kommen wir am Volksfest vorbei, das Areal ist echt beeindruckend groß. Mehrere Riesenräder, wenn ich mich nicht verschaut habe.
Das Solebad liegt ein paar Stationen dahinter, direkt an der Haltestelle Kursaal. Der Eintritt ins Bad kostet 13 Euro.
„Baden wie in Champagner!“ werben die Stuttgarter Bäder mit ihrem kohlesäurehaltigen Mineralwasser. Ich bin gespannt, wie es wirklich ist.
Und ich lerne: Das entsprechende Becken ist zunächst mal erschreckend kalt. Genauer: 18 °C kalt.
Ich steige trotzdem hinein, tapfer. Spüre erst nur die Kälte. Fange mit Schwimmbewegungen an, um nicht auszukühlen. Nach ein, zwei Längen habe ich mich an die Temperatur gewöhnt und tatsächlich spüre ich es: Es kribbelt, es prickelt, es brennt sogar ein bisschen auf der Haut. So etwas habe ich wahrlich noch nie erlebt, es ist phantastisch. Man sieht die Luftbläschen aufsteigen. Es ist wirklich so, als würde man in ein Glas Mineralwasser springen. Zugegeben, eins mit Eiswürfeln drin, aber echt wow.
Nach dem 18°C kalten Becken steigere ich die Temperatur um 100 % und begebe mich in den 36 °C heißen Whirlpool mit Solewasser. Dieser abrupte Wechsel sorgt nochmal für den Extra-Kick.
Ein wohltemperiertes Schwimmbecken gibt es auch. Es führt in ein Außenbecken mit Strömungskanal und Massagedüsen. Herrlich.
Bloß mein Mann lässt sich vom kalten Prickelwasser nicht überzeugen. Nach wenigen Sekunden ergreift er die Flucht, ich schwimme meine Längen allein.
Sowie ich aus dem Becken steige, spricht mich ein Badegast an. „Sie sind aber ausdauernd im kalten Wasser!“, zeigt er sich beeindruckt. Der Mann ist ein bisschen jünger als ich. Ich erkläre ihm, dass ich zum ersten Mal in einem solchen Sprudel schwimme.
„Ach, du bist nicht aus Stuttgart?“ antwortet der Fremde überrascht. Anscheinend sind wir jetzt, nach den ersten gewechselten Worten, nun schon per Du.
Woher ich komme, will er wissen. Und er mutmaßt: „Bist wegen dem Volksfest in der Stadt, oder?“
„Nein, wegen der Friedensdemo“, sage ich.
Friedensdemo? Hat er nicht mitgekriegt.
„Waren viele Leute dort“, berichte ich dem Mann. „Kommt bestimmt in den Nachrichten.“
Ein bisschen was erzähle ich ihm noch vom Anliegen der heutigen Veranstaltung, die er offenkundig verpasst hat. Der Mann zeigt sich interessiert und würde wohl gerne noch weiter mit mir plaudern, aber ich breche ab, ehe es vollends in einen Flirt übergeht. Es geht schon wieder in diese Richtung, merke ich. „Jetzt muss ich aber meinen Mann suchen“, mache ich deshalb klare Front zwischen uns. Nach dem langen Tag habe ich auch gar keine Lust auf lange Diskussionen oder auf Kennenlernen und will einfach nur schwimmen, dümpeln und auf einer Liege Musik hören.
Das mache ich dann auch, bis der Mond über den Baumwipfeln rund ums Schwimmbecken aufsteigt. Den Mann habe ich zwischenzeitlich auch wiedergefunden.
Auf dem Rückweg überlegen wir, ob wir nun noch zum Volksfest wollen, aber wir sind beide zu müde und die Badetasche schleppen wir auch mit. Als wir ungefähr auf Höhe des Geländes sind, blinken und leuchten die Fahrgeschäfte bereits in der Dunkelheit. In der U-Bahn hören wir die Durchsage, es würde von einer Anreise zum Volksfest abgeraten, da dieses bereits überfüllt sei.
Hinterher heißt es, das Stuttgarter Volksfest hätte an diesem Abend 75.0000 Besucher angezogen.
Das ist dann nochmal deutlich mehr als unsere Friedensdemo und kein Wunder, dass alle immer glauben, wir wären dafür in die Stadt gekommen.

*****​

Unseren letzten Tag in Stuttgart beginnen wir erneut mit einem Spaziergang zum Herbertz, das wir schon liebevoll „unser“ Café nennen.
Heute entscheide ich mich für Müsli und statt Cappuccino probieren wir den feilgebotenen Milchkaffee, der ebenfalls mit Schaumhaube, aber in einem größeren Häferl daherkommt. Für ca. 20 Euro kann hier zu zweit prima frühstücken.
Zurück ins Hotel gehen wir heute über eine andere Seitengasse hinunter. Stuttgart ist hügelig. Im Hintergrund sieht man immer eine nahe grüne Kuppe, in die die Stadt hineingebaut ist. Auch in jedem Hinterhof grünt es.
Vor einem der vielen Backsteinhäuser liegt ein großer Ikea-Sack mit der Aufschrift: „Zur freien Entnahme“. Ich ziehe ein kariertes graues Shacket von Vero Moda, Jeans und ein hellblaues Blümchenkleid von Mango heraus. Genau meine Größe, mein Stil, was für ein Glück. Zerschnittene Stoffreste sind auch drin, schöne Muster. Ich nehme an, die Kleiderspende stammt von Studenten, die aus dem Material was gebastelt und geschneidert haben.
Obwohl ich nun schon mehrere neue Kleidungsstücke gehamstert habe, schlendere ich noch einmal in die Königsstraße zu den Geschäften. Der kleine Laden mit dem Trenchcoat aus Lederimitat, der mir schon am ersten Tag aufgefallen ist, hat heute wieder geöffnet. Für 39 Euro lasse ich mir das Teil eintüten.

Die 40 Euro für die Garage teilen wir.
Ein bisschen muss ich meinen Mann überreden, aber dann fahren wir doch noch zum Teehaus. Der Mann ist skeptisch.
„Was wollen Sie denn beim Teehaus? Das ist doch langweilig! Gehen Sie lieber ins Porsche-Museum“ hat auch der Rezeptionist über unser Vorhaben den Kopf geschüttelt. Dass mich Autos nur sehr wenig interessieren, hat ihn nur noch weiter schockiert.
Das Teehaus in Stuttgart liegt im sogenannten Weißenburgpark mit Blick über die Stadt.
Auf der Aussichtsplattform fällt es dem Mann urplötzlich wieder ein, dass er in seiner Jugendzeit schon einmal hier gewesen ist. Gut, dass ich ihn überredet habe, meint er nun.
Jetzt sehen wir Stuttgart als Ganzes. Ich merke, dass ich mich anfange, mich in die Stadt zu verlieben.
Es gäbe noch viel zu sehen. Ein botanischer Garten samt Zoo zum Beispiel, aber unsere Zeit ist begrenzt.
Der Weißenburgpark als letzte Station ist gut gewählt, finde ich. Hier kann man wunderbar spazieren gehen, Natur und Aussicht genießen.
Das Teehaus ist ein Pavillon im Jugendstil und schon sehr besonders. Der Innenraum ist prächtig bemalt. Unterhalb vom Teehaus befindet sich der Marmorsaal, wo heute Abend ein Klavierkonzert stattfinden soll - für uns leider zu spät.
Im Teehaus bestelle ich mir, na was wohl, Tee. Den trinken wir auf der windgeschützten Terrasse, die um das Teehaus herumläuft. Ich verstehe sehr gut, dass das Teehaus ein beliebtes Ausflugsziel für Stuttgarter ist. Wie bei uns in Linz der Pöstlingberg.
Wir machen noch ein Foto oder zwei, dann geht es zurück nach Hause. Mein Mann startet den Motor und hofft, dass man uns keinen Strafzettel wegen der fehlenden Umweltplakette hinterherschicken wird. Aber beide sind wir froh, dass wir kurzfristig die Zeit und die Möglichkeit hatten, diese Reise zu unternehmen. Ich glaube, das kann ich sagen.
 
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