Reiter rast

Reiters Welt zieht vorbei wie eine pulsierende, organische Masse. Vroooooomm. Reiter rast und genießt es. Das satte Brummen seines 2 Liter GTI vermischt sich mit dem Herzschlag der Welt. Oder ist es sein eigener? Besteht überhaupt ein Unterschied? Die Geschwindigkeit macht Reiter glücklich. Das Land saust vorbei und die Scheinwerfer geben immer wieder kurze Impressionen der Wirklichkeit. Reiter nimmt wahr, merkt aber nichts. Seine Gedanken sind ganz nah an der Essenz von allem. Die Kurven schmiegen sich an die Windungen seines Gehirns. Der Fuß auf dem Gas ist im Rhythmus des Pulses. Reiter nimmt wahr und sieht die Kurve näherkommen. Der Puls verlangsamt sich. Fuß leicht vom Gas, das Schemenhafte der Umgebung zieht sich etwas zurück. Mit Speed in die Kurve, die Fliehkraft zieht an dem Golf an ihm und an seinen Gedanken. Die Scheinwerfer erhellen ein gerades Stück Straße. Der Puls beschleunigt sich, Reiter gibt Gas. Vroooooooommm. Adrenalin und Dopamin, getuned durch 250 µg Lysergsäurediethylamid schießen durch seine Adern. Reiter nähert sich dem nächsten Gipfel der Glückseligkeit. 100, 120, 140 … die Tachonadel schiebt sich unermüdlich voran, die Schemen kehren zurück. Die Nadel überquert die 150, kratzt an den 160. Kein Problem für die 250 PS. Reiter fliegt jetzt dahin. Der Golf ist sein Raumschiff, seine Gedanken sind das Universum. Er kennt das und liebt es. Das Driften des Geistes unter dem Einfluss des Acids, das Gefühl der gedanklichen Umfassung aller Dinge und die Momente schärfster Klarheit, wenn der Wille zupackt. Ein Wabern von Farben und Formen gepaart mit dem unerbittlichen Kontrast von LED-Strahlern und Dunkelheit. Für Reiter ist das Freiheit, Meditation und schlicht Glück.

Dabei verliert er nie die Kontrolle, das nicht. Reiter ist nicht dumm, hat Vorkehrungen getroffen. Seine Fahrt wurde geplant unter der Regie eines weit weniger getrübten Urteilsvermögens. Ein Teil seines Wesens weiß aber um die Gefahr, in der er sich befindet. Tief vergraben in seinem rollenden Geist sitzt ein Funke klaren Bewusstseins. Wenn Reiter genau hinschaut kann er ihn sehen. Das Lenkrad fest im Griff, Herr seines Daseins und Freund aller Geister riskiert er einen Blick weg von der Straße und in sich hinein. Da ist er, dieser kleine, klare Funke Verstand. Reiter schaut ihn sich genau an und denkt an seinen polierten Endschalldämpfer. Der Funke zittert, aber nicht von Vibrationen bei 160 Sachen sondern …, …, ja warum eigentlich? Reiter findet es komisch, muss laut lachen. Sein Blick wieder auf der Straße, Häuserschemen, eine gedankenschnelle Bewegung, das Lenkrad wird ihm entrissen, Kontrollverlust, ekstatischer Puls, Angst?

Reiters Geist spult vor. Er hört das Kreischen von Metall, spürt, wie der Golf sich verformt und sein Körper unkontrolliert herumgeschleudert wird. Das mächtige Gefühl der Panik ergreift vollständig von ihm Besitz wie ein Nervengift, das all seine Synapsen auf einen Schlag paralysiert. Dann wird das Auto langsamer, die Gegenwart kommt plötzlich zurück, nahes Geschrei belästigt sein Trommelfell. Reiter blickt in das heftig zuckende Gesicht von Milan. Der ist neben ihm auf dem Beifahrersitz, drückt sein Missfallen mit Reiters Fahrstil lautstark aus: „Ohne Scheiß, Mann, Reiter. Du bist doch durch wie Hölle. Fast biste auf die Alte draufgeheizt. Ham, wir doch schon oft gemacht Alter. Was istn los mit dir? Zu stark eingetaucht? Ich bin ja da, klar, für solche Fälle bin ich da, aber Junge, Junge war sauknapp. Fahr mal da vorne ran und lass uns eine Rauchen. Musst auch bisschen abkühlen, das seh ich.“ Milan. Die Vorkehrung. Reiter war tatsächlich zu tief drin gewesen. In seinen Gedanken, zu sehr beseelt von der Jagd nach neuen biochemischen Cocktails in seinem Blut. Sein Puls geht flatternd, er fühlt sich ausgelaugt. „Hab die echt nicht gesehen, sorry Mann.“, nuschelt Reiter und steuert eine Parkbucht an. Davor eine letzte Kurve. Wie ein Schwungrad für seine Gedanken, die Scheinwerfer erhellen ein gerades Stück Straße, der Puls beschleunigt sich, Reiter gibt Gas.
 



 
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