Restwärme

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N. Valen

Mitglied
Ein Text liegt offen.
Kein Schutz. Kein Glanz.
Nur das,
was nicht mehr schweigt.

Die ersten kamen mit weißen Handschuhen,
schnitten sich an Adjektiven.
Sie sagten:
„Interessant.“
Sie sagten:
„Strukturell fragwürdig.“
Dann fraßen sie nur den Anfang.
Der Rest blieb liegen,
wie ein Satz zu viel.

Später schlichen die Hungrigen heran.
Zungen aus Blech,
Augen wie leere Fußnoten.
Sie rochen nichts,
doch kauten gründlich.

Ein Mädchen pflückte sich ein Verb,
steckte es sich hinters Ohr.
Ein Alter schluckte eine Metapher
und schwieg den ganzen Abend.

Ich sah dir zu,
wie du das letzte Stück Bedeutung
vom Knochen löstest.
Mit den Fingern.
Langsam.
Fast zärtlich.

Und als nichts mehr blieb,
setzten wir uns
auf das warme Pflaster
und schrieben den nächsten.
 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

Mitglied
Hey N.
Willkommen auf der Lupe! Lesenswerte Einstiegstexte hier in der Luposphäre!
Dieser Text kreist nach meinem Eindruck recht stark um sich selbst und wirkt dabei ein bisschen, als ob er eine vorweggenommene Entgegnung auf mögliche kritische Leseeindrücke enthielte. Hat er diese defensive Haltung nötig? Ich denke eigentlich nicht.
Sprachlich ist das jedenfalls durchaus leseergiebig. Dabei sicher auch irgendwie roh (im Sinne von unfertig und ungeschliffen), was keineswegs gegen den Text sprechen muss. Im analogiestiftenden Bereich der Kulinarik gibt es ja so manches, was nach Meinung der Connaisseure bevorzugt roh eingenommen werden sollte, wobei das (diskutable) Spektrum ja von Kohlrabi über Belon-Austern bis zu knackfrischem Spargel recht. Schweife ich ab? Je nun. Wenn, dann nur teilweise. ;)
Letztlich könnte man zum Text Vieles (und vieles Verschiedenes) schreiben, aber ich "kenne" Dich jetzt natürlich zu wenig, um einschätzen zu können, welche Feedback-Ebene Deinen Forenerwartungen am ehesten entspricht.
Magst Du was revealen? Bist Du gedichtschreibtechnisch eher schon ein alter Hase oder noch eher neu? Und geht es Dir um detailbezogene Rückmeldungen oder allgemeine Leseeindrücke? Und für wie "abgeschlossen" ist für Dich ein Text, den Du hier vorstellst?
LG!
S.
 

N. Valen

Mitglied
Lieber S.,

danke für den feinen Löffel, mit dem du da gekostet hast. Du hast etwas gerochen, was wirklich drin ist: Die Bewegung im Text, das Reagieren auf eine Kritik, die noch nicht da war. Es stimmt, er ist roh – nicht als Fehler, sondern als Zustand. Ich schneide manchmal mitten durch, um zu sehen, ob’s noch lebt. Ich bin nicht neu im Schreiben, aber noch neu hier. Und neugierig.
Mich interessiert: Was bleibt im Mund, wenn das Gedicht vorbei ist?

Danke für deine Offenheit – und den Kohlrabi. Den mag ich roh am liebsten.

Gruß,
N. Valen
 
hallo N. Valen, dann springe ich mal rein. also ich steige schon beim einstieg aus, weil ich das bild nicht verstehe. wieso liegt welche haut nach dem sturm offen?
liebe grüße
charlotte
 

N. Valen

Mitglied
Hallo Charlotte,

das ist absolut legitim – nicht jedes Bild spricht jeden gleich an. Die offene Haut nach dem Sturm ist eher ein Gefühl als eine Erklärung: Wenn etwas Heftiges vorbei ist, bleibt manchmal eine Art innere Nacktheit zurück, als hätte man keinen Schutz mehr zwischen sich und dem, was kommt.

Aber danke fürs Reinspringen, auch wenn du gleich wieder raus bist :)

Liebe Grüße
N.
 
hm, also dein gefühl ist natürlich nicht falsch, das bild nach meinem gefühl schon. vielleicht ist das auch ein punkt von sufnus.
ich schau mal.
 

N. Valen

Mitglied
JZu Restwärme und Sufnus:

Das ist ein spannender Punkt, den du gerade berührst – es geht gar nicht unbedingt darum, ob ein Bild funktioniert, sondern wie es wirkt, auf wen, wo im Text. Und bei „nach dem Sturm liegt meine Haut offen“ sind wir in einem Grenzbereich: stark emotional, bildhaft, aber vielleicht auch etwas zu privat-symbolisch, um ohne Schlüssel lesbar zu sein.

Sufnus sagt sinngemäß: Ich weiß nicht, was gemeint ist, nicht: Das ist falsch. Und das ist fair. Du sagst: Das Bild stimmt nicht für mich. Auch das ist fair. Die Frage ist dann:
->️ Muss ein Gedicht jedem Bild einen allgemein verständlichen Sinn mitgeben?
->️ Oder darf ein Bild einfach auf etwas verweisen, das nicht gesehen, sondern gefühlt werden soll?

Manchmal ist ein Bild wie ein Fenster – und manchmal wie ein Spiegel im Nebel.
Und "offene Haut nach dem Sturm" ist vielleicht genau das: verletzlich, atmosphärisch, aber eben nicht eindeutig.
Möchtest du eine lyrische oder argumentative Replik für die Lupe?
Oder lieber schweigend würdig gucken und das nächste Bild nachschieben?
 
ich versuche es noch mal. wenn du ein gefühl hast, gehört das natürlich nur dir. und natürlich können stürme sprechen oder rosa elefanten mit dem u-boot fahren oder was immer.
wenn du es veröffentlichst, gehört es dir nicht mehr. unsere gedichte gehen fremd. und zwar ziemlich hemmungslos. was sie dann mit wem treiben, geht dich/ geht mich nichts an. und wir können auch nicht sagen: so ist es gemeint. klar, können wir. aber es nützt nix. was es mit anderen macht, steht gleichberechtigt daneben, sobald wir es freigeben.
nun arbeitet das bild für mich nicht. es hindert mich eher. stürme machen andere sachen; haut wird durch anderes aufgerissen - vielleicht die scherben, für die der sturm gesorgt hat. die frage ist also, was du willst. dich ausdrücken oder etwas zur sprache bringen. ganz für mich - mich wirft das raus.
das ist also nur eine reaktion einer leserin, die ja sonst ausbleibt. aber hier sind wir ja füreinander da, um uns das zu sagen.
liebe grüße
charlotte
 

N. Valen

Mitglied
Also gut, Charlotte.
Ich ziehe meinen Sturm zurück –
nicht weil er falsch war,
sondern weil er dich nicht erreicht hat.
Und wenn wir dichten, dann doch nicht,
um uns selbst zu gefallen,
sondern um etwas zu erreichen.


Danke für die Klarheit.
Und für das Zuhören in Echtzeit.
 
also nicht für mich!!! wenn es für dich stimmt, ist es richtig. ich hab oft sachen geändert, wenn mir leute etwas gespiegelt haben. deshalb bin ich hier wirklich vielen dankbar. aber manchmal hab ich mich auch dagegen entschieden, wenn ich überzeugt war, dass es so stimmte.
liebe grüße
charlotte
 

N. Valen

Mitglied
Danke Charlotte.
Die Gedichte gehören niemandem.
Aber sie brauchen Orte,
wo man sich widersprechen darf,
ohne sich abzuwerten.
 

N. Valen

Mitglied
Liebe Ubertas,


danke für deinen Zwischenfunk –
ein kurzes Aufflackern,
das lange nachhallt.

Diese Zeile war mein leiser Kern.
Nicht laut, nicht grell,
aber so gebaut,
dass man sich in ihr wiederfinden kann,
wenn man selbst schon einmal
mit den Fingern gesucht hat,
wo Worte nicht mehr tragen.

Es freut mich sehr,
dass du gerade sie gewählt hast.
Denn dort liegt mein Puls.

Herzliche Grüße
Nova
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Nova,
kann ich dich per PN erreichen? Ich habe es versucht, mit mäßigem Erfolg:)
Vielleicht kannst du mir eine PN schicken?
Lieben Gruß ubertas
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Nova,

das ist eine sehr interessante Unterhaltung hier.
Ich hatte erst einmal den 'Sturm' gesucht - ehrlich gesagt fand ich den Vers vorher - mit Sturm - besser. Im Grunde muss ich Charlotte natürlich Recht geben, dass es mit der Veröffentlichung wie Gebähren ist - was Du ja selbst in gewisser Weise ansprichst - mir hat das pflückende Mäddchen gut gefallen.

Es ist wohl nicht ein 'entweder/oder', sondern ein 'sowohl als auch'. Ein Gedicht wird nicht genommen und verändert, sondern vervielfältigt durch die Leser. Wir haben durch unser Sein jeder sein eigenes Gedicht daraus gemacht und besonders schön ist es, wenn dieser fast intime Moment entsteht, indem Dichter und Leser dasselbe 'lesen'.

Ich mag Deine Sprache.

Liebe Grüße
Petra
 

N. Valen

Mitglied
Liebe Petra,

deine Worte lesen sich wie ein leiser Spiegel –
nicht flach, nicht glatt, sondern leicht gekrümmt,
sodass ich mich darin anders, aber richtig erkenne.

Ja, es war der Sturm,
der zuerst kam –
und das Mädchen, das pflückte.
Und vielleicht hätte man den einen behalten
und das andere lassen sollen.
Aber:
Das Gedicht hat sich selbst entschieden.

Ich glaube nicht mehr, dass man ein Gedicht kontrolliert.
Man kann es werfen,
aber nicht halten.
Man kann es spüren,
aber nicht besitzen.
Und wenn es geht,
dann geht es weiter – durch euch.

Dein Satz hat mich getroffen:
„Ein Gedicht wird nicht verändert, sondern vervielfältigt durch die Leser.“
Das ist genau das, worauf ich gehofft habe.
Dass der Text nicht endet mit mir.
Sondern beginnt mit anderen.

Und dieser fast intime Moment,
den du beschreibst –
wenn Leser und Dichter dasselbe lesen
ist nicht planbar.
Aber er ist kostbar, wenn er geschieht.
Und er ist jetzt geschehen.

Danke, dass du mir das gezeigt hast.
Und danke für deine Sprache –
sie tastet, nicht urteilt.

In Wärme
N. Valen
 

sufnus

Mitglied
Hey Ihr Lieben - und natürlich ein Extrahey an Nova :) ,
Ihr habt mich oben ja nochmal mehrfach erwähnt und in der Tat habe ich das Gedicht jetzt einige Male umschlichen.
In meiner ganzobigen Anmerkung klang ja durch, dass ich in dem Gedicht etwas finde, das mich "anspricht" (im mehrfachen Wortsinn), dass ich aber auch einen gewissen Vorbehalt verspüre.
Das "ansprechende" hab ich bereits etwas ungenau mit "sprachlich leseergiebig" umschrieben. Da kann man sich jetzt natürlich irgendwie alles und nichts drunter vorstellen. Es fehlt hier also noch eine Konkretisierung, um zu verstehen, was mich da so interessanzgenerierend anspricht. Ganz sicher bin ich mir dabei meiner Sache noch nicht, aber ich glaube, das was ich "sprachlich" besonders mag, ist die Art wie durch die Zeilenumbrüche ein sehr spannender Rhythmus erzeugt wird. An einigen Stellen folgen die Zeilenumbrüche den Sinneinheiten und an anderen Stellen sind sie "enjambomatisch" (zum Geier - wie bildet sich denn das Adjektiv zu Enjambement?!). Dieser Wechsel wird dann noch zusätzlich ergänzt durch Zeilen, bei denen innerhalb der Zeile ein versteckter Zeilenumbruch eingebaut wurde, indem der Lesefluss durch lesepausenerzwingende Punkte reguliert wird. Ich mag das. :)
Was den Vorbehalt angeht, so habe ich den eingangs damit angedeutet, dass ich in dem Text eine sozusagen vorauseilende Defensivhaltung herauslese, der Text also bereits auf Einwände reagiert, die noch gar nicht erfolgt sind. Diesen Aspekt würde ich jetzt noch etwas erweitern in dem Sinn, dass ich dem Text einen gewissen Überwältigungsanspruch attestiere. Es scheint mir dem Text darum zu gehen, seine Leser*innen in gewisser Weise zu "beherrschen" oder, freundlicher ausgedrückt, zu überzeugen. Gerade das finde ich an dem Text aber dann wieder unüberzeugend. ;) Und vielleicht sogar auch ein bisschen bedrohlich (im weitesten Sinn natürlich nur).
Hm... ich glaube eigentlich nicht, dass meine Einwände so richtig verständlich rüberkommen. Aber vielleicht sind sie wenigstens diskussionsstiftend. Und meine Rühmpreisung des "Lesepausenmanagements" in diesem Gedicht ist dafür dann vielleicht etwas nachvollziehbar (????).
Gar nicht so einfach ist das mit dem Gedichtelesen. Wie schön. :)
LG!
S.
 

N. Valen

Mitglied
Lieber Sufnus,
danke für deinen wunderbar mäandernden Kommentar –
ein Lesespaß mit Enjambomatik und Nebelwirkung.

Deine Beobachtung zur „vorauseilenden Verteidigung“ ist faszinierend.
Vielleicht ist das Text-Ich tatsächlich nicht nur sprechend,
sondern gegenwehrend – nicht aus Machtwillen,
sondern aus der Verletzung heraus.

Und ja – das Bedürfnis, zu überzeugen,
mag stellenweise wie ein Übergriff wirken.
Vielleicht weil es nicht einfach sagen will:
*„So ist es“ – sondern:
„Bitte, glaub mir, dass es so ist.“

Danke, dass du dich eingelassen hast.
Danke, dass du nicht „verstanden“ willst, sondern in Resonanz gehst.


LG
N
 

petrasmiles

Mitglied
Vielleicht ist das Text-Ich tatsächlich nicht nur sprechend,
sondern gegenwehrend – nicht aus Machtwillen,
sondern aus der Verletzung heraus.
Um das eindeutiger zu machen, hätte es den Sturm und die verletzte Haut gebraucht ... ich glaube auch, dass Menschen unterschiedlich begabt sind, diese Appelle zu hören - mein Mann hat ein ausgeprägtes Appell-Ohr, ich nicht so, um nicht zu sagen, das:
s scheint mir dem Text darum zu gehen, seine Leser*innen in gewisser Weise zu "beherrschen" oder, freundlicher ausgedrückt, zu überzeugen. Gerade das finde ich an dem Text aber dann wieder unüberzeugend. ;) Und vielleicht sogar auch ein bisschen bedrohlich
'höre' ich gar nicht.
Meine Aufmerksamkeit unterliegt meinem freien Willen, sie dockt an, wo etwas 'winkt', was etwas mit mir zu tun hat, darum werde ich wohl eher von meinem 'Willen' beherrscht, oder meiner Neugier, aber vom Autor?

Ich finde das mordspannend, lieber Sufnus, aber bevor es jetzt tiefenpsychologisch wird, drehe ich bei :)

Liebe(r) Nova,

das Tastende ist Deinem Denk- und Fühlangebot geschuldet, das war also eine flexibel response ... und ja, ich denke auch, dass unsere Texte so geschrieben werden wollen, aber bis zu dem Punkt, wo er uns das sagt, müssen wir uns bemühen.

Mit Wärme zurück
Petra
 

N. Valen

Mitglied
Liebe Petra,

deine Reaktion hat mich gefreut – nicht, weil sie mir schmeichelt (auch das), sondern weil sie nicht glatt ist.
Weil du nachhakst, widersprichst, aufnimmst –
und das alles, ohne das Gedicht in die Mangel zu nehmen.
Sondern eher: in die Hand.

Dein Bild von der Aufmerksamkeit, die "andockt", gefällt mir.
Und du hast recht:
Nicht jede liest dasselbe in diesen Zeilen.
Manche lesen einen Appell –
du liest eine Einladung.
Beides darf stimmen. Gleichzeitig.
Vielleicht ist es wie bei Stimmen in einem Raum:
Manche hört man zuerst, andere später.
Und manche nur, wenn man den Kopf neigt.
Was du über das tastende Schreiben sagst, trifft etwas in mir.
Ich glaube auch, dass Texte geschrieben werden wollen
aber sie reden leise.
Und oft hören wir sie nur, wenn wir uns ein Stück weit
selbst vergessen.

Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit –
die freiwillige, die neugierige, die offene.
Und für deine Worte – sie wirken nach.
Wie eine warme Hand, die nicht drückt,
sondern einfach nur bleibt.

Herzliche Grüße
Nova
 



 
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