Rihkars Vermächtnis

Hey!

Ich habe mich entschlossen euch statt all der Kapitel von Dämonen des Steines jetzt mal was neues zu bieten! Hier ist also das erste Kapitel von meinem neuen Roman. Ich bitte um mächtig viele Verbesserungsvorschläge, das hier ist nämlich die allererste Version, so, wie es mir halt gerade in den Sinn gekommen ist. Also, nehmt kein Blatt vor den Mund!!!



1.

E
ndlich sprang der Funke vom Feuerstein. Eine dünne Rauchfahne stieg vom Stroh auf und kräuselte sich hinauf in den Abzug des offenen Kamins. Kurz darauf ließ sich das erste Flämmchen blicken. Es wuchs erstaunlich rasch. In wenigen Sekunden war das Stroh verzehrt. Die Flammen duckten sich unter die dürren Äste, die kunstvoll um das Stroh aufgeschichtet waren. Einen Moment drohte das Feuer zu erlöschen, dann sprang die erste Flamme auf das Reisig über. Jetzt wuchs das Feuer wieder. Ein scharfes Knacken war zu hören. Die großen, schweren Holzscheite zeigten sich noch unbeeindruckt. Lediglich schwarzer Ruß ließ sich auf ihnen nieder. Eine Weile knackten die kleinen Ästchen, ehe das erste der Holzscheite tiefrot zu glühen begann. Die Flammen züngelten höher als zuvor. Aus der schmalen Rauchsäule wurden kleine Wölkchen, die schnell nach oben verschwanden. Die Hitze nahm zu und war nun auch deutlich außerhalb des Kamins zu spüren. Das Feuer brannte.
Karym warf noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick in die tanzenden Flammen, bevor sie sich mit einem Ruck erhob. Jetzt ist nicht die Zeit zum Träumen, schalt sie sich leise. Die Wärme tat gut, drang aber nicht tief genug in sie hinein. Seit dem Tod ihres Vaters war es immer kalt gewesen in ihr. Sie konnte nicht dagegen an. Wo immer sie war, was auch immer sie tat, die Kälte blieb. Sie war nicht unangenehm genug, um Karym zu stören, aber zu beständig, um sich an sie zu gewöhnen. Deine Gedanken schweifen ab, Karym. Konzentriere dich auf deine Aufgabe. Die Stimme ihres Vaters drang aus ihren Erinnerungen zu ihr. Wie jedes Mal behielt sie recht.
Karym Rihkara trat entschlossen zum Tisch hinüber. Sie ließ sich auf einem Hocker nieder. Wie von selbst griffen ihre Finger nach einem der geraden Weidenäste, die sie im Morgengrauen bereits geschnitten hatte. Mit ihrer maß sie de Länge. Ihr scharfes, schlankes Messer schnitt den Ast auf exakt drei Spann. Karym legte den Ast auf den Tisch. Vorsichtig ritzte sie die Rinde der Länge nach auf und zog sie mit einiger Mühe schließlich ab. Danach lag das Stück Holz wieder vor ihr. Sie stellte es auf und hielt es mit der Linken fest. Mit der Rechten legte sie das Messer exakt auf die Spitze, bevor sie die scharfe Klinge mit dem Daumen in das weiche Holz drückte. Sie spaltete den Ast etwa zwei fingerbreit, bevor sie ihn herumdrehte. Sie wiederholte ihre Handgriffe mit derselben Präzision, nur schnitt sie an dieser Seite doppelt ein, fast einen Spann weit.
Erneut kam der Ast auf dem Tisch zu liegen. Karym schnitt beide Seiten leicht gekrümmt zurecht, bis beide Enden des Astes übergangslos in einen schmale Mitte überliefen. Danach drehte sie das Stück Holz um neunzig Grad und tat noch einmal dasselbe. Die Kanten glich sie im Nachhinein aus, so dass der Ast wieder seine Rundung zurückgewann. Das so bearbeitete Stück Holz legte sie vorsichtig auf den Tisch zurück.
Karym tat die paar Schritte hinüber zum Kamin. Die Hitze mochte jetzt genügen. Sie griff sich zwei weitere große Scheite Holz aus dem Stoss, den sie neben dem Kamin aufgeschichtet hatte. Für heute würde ihr Vorrat wohl reichen. War das Holz aufgebraucht, musste sie zunächst neues schlagen. Sie hasste den Umgang mit der Axt und war froh darüber, dass die Holzfäller aus dem Dorf ihr die Stämme wenigstens in kleineren Stücken lieferten. Natürlich hätte Karym sie auch fragen können, ob die Holzfäller ihr das Holz klein schlugen. Auch einige junge Männer aus dem Dorf hätten diese Arbeit mit Freude für sie erledigt. Zum einen war Karym jedoch zu stolz, um Hilfe zu bitten, und zum anderen wollte sie nicht, dass einer der jungen Burschen ernsthafte Chancen bei ihr zu haben glaubte. Karym Rihkara war keine Frau für einen Bauern.
Sie legte das Holz ins Feuer. Von der Wand nahm sie die große, gusseiserne Kelle, die ihr Vater einst aus den verbrannten Ruinen einer Schmiede geborgen hatte. Sie ging zu einem Korb in einer Ecke des Raumes. Mit der linken Hand nahm sie den Deckel ab und lehnte ihn an die Wand. Der Korb war zur Hälfte gefüllt mit kleinen Klumpen Rohmetalls, die sie äußerst günstig von einem Händler erstanden hatte, und den Resten aus Bronze, Silber, Blei, Messing und Kupfer, die der Schmied des Dorfes ihr überließ, vorausgesetzt, sie sammelte sich die Stücke vom Boden seiner Werkstätten. Karym füllte die Kelle bis zum Rand. Danach hängte sie sie ins Feuer. Es würde eine Weile dauern, bis das Metall flüssig wurde.
Die junge Frau wandte sich wieder dem Tisch zu. Mit geübtem Blick suchte sie sich aus den Federn, die sie über Jahre hinweg gesammelt hatte, zwei geeignete heraus, eine weiße und eine von sanft schimmerndem Grün. Geschickt teilte sie beide im Schaft. Danach schnitt sie Spitzen und Enden ab, so dass sie vier gleich große Rechtecke erhielt. Sie legte die beiden grünen übereinander und setzte ihr Messer an. Dabei murmelte sie etwas und schloss die Augen, während sie zwei schnelle Schnitte ausführte. Karym schlug die Lider wieder auf und hob die beiden Federn vors Gesicht. Sie blies sanft dagegen, und zwei kleine, grüne Dreiecke flatterten auf den Tisch.
Karym legte die Federn beiseite und griff nach den weißen. Vorsichtig tauchte sie mit einem Finger in eine flache Schale mit klarem Wasser, die sie bereitgestellt hatte. Leise vor sich hin murmelnd strich sie zweimal über jede Feder, vom Schaft weg gerade über die Fahne. Dann stand sie auf und nahm einen ihrer größten Schätze vom Regal. Beinahe ehrfürchtig trug sie die kleine Dose aus Wurzelholz zum Tisch. Vorsichtig nahm sie den Deckel ab. In die Dose eingepasst lag ein Lederbeutel, den Karym mit spitzen Fingern öffnete. Darin befand sich ein leichtes, körniges Pulver, dass in der Farbe feinem Sand ähnelte. Jeder Laie hätte es auch für solchen gehalten. Karym nahm gerade soviel, wie zwischen zwei Finger passte. Sie streute es über die Federn, wobei sie unentwegt Worte murmelte. Kaum hatte das Pulver die Federn berührt, färbten sich die Streifen, die sie mit dem Wasser gezogen hatte, orange. Ein Lächeln glitt über Karyms konzentrierte Züge. Dieser Teil war geschafft. Sie setzte die Federn in den Ast. Danach schnitt sie ein Stück festes Garn von der Rolle und band die Enden des Astes hinter den Federn fest zusammen. Leise pfiff sie eine bestimmte Melodie vor sich hin, während sie den Pfeil behutsam zur Seite legte, dessen Schaft sie soeben fertiggestellt hatte.
Ein weiteres Mal schritt sie zum Regal hinüber. Diesmal griff sie nach einem geschliffenen Holzblock. Es handelte sich dabei um die Form einer Pfeilspitze, die ihr Vater stets benutzt hatte. Sorgfältig strich Karym sie mit Wasser aus, dann blies sie feinen Kalkstaub hinein. Hatte sie keinen Kalk zur Hand, benutzte sie feines Mehl. Sie klappte beide Hälften der Form wieder zusammen und umwickelte sie fest mit dünnen Lederstreifen, um sie abzudichten.
Das Metall in der Kelle war bereits zu einer zähen Flüssigkeit geschmolzen. Für mehr schien die Wärme des Feuers offenbar nicht zu reihen. Seufzend trat Karym noch einmal an das Regal. Unter den vielen kleinen Tontöpfchen musste sie eine Weile suchen, ehe sie das richtige gefunden hatte. Sie entnahm daraus ein Pulver aus blauen Kristallen, von dem sie eine Messerspitze in die Kelle gab. Beinahe sofort schmolz das Metall weiter zusammen und wurde fast so dünnflüssig wie Wasser. Das Pulver würde das erstarrende Metall zudem festigen, so dass es fast mit Stahl konkurrieren konnte. Karym ärgerte sich ein wenig, dass sie auf dieses Mittel zurückgreifen musste. Es wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Nicht für diesen Pfeil jedenfalls.
Die schimmernde Flüssigkeit aus der Kelle ließ sich nun leicht in die Form füllen. Karym hängte die Kelle zurück an ihren Platz, nachdem dies geschehen war. Sie rührte die Form nicht an, solange das Metall nicht erhärtet war. Statt dessen wandte sie sich wieder dem Tisch zu. Sie nahm sich die Zeit, den unfertigen Pfeil genau zu betrachten. Schon jetzt strahlte er die Eleganz aus, die allen von ihr gefertigten Pfeilen eigen war. Die Pfeile ihres Vaters sahen anders aus. Zuerst hatte sie das als seltsam empfunden. Doch Rihkar, ihr Vater, hatte ihr versichert, dass jeder Pfeilmacher seine eigene Art hatte, Pfeile herzustellen. Für ihn war es eine Kunst. Zwei Künstler würden niemals das gleiche Kunstwerk erstellen. Man konnte an ihrem Werk stets den Schöpfer dahinter erkennen. Das traf auch auf die Pfeile zu. Besonders, wenn es um diese Pfeile ging.
Karyms Hände nahmen die Arbeit wieder auf. Sie ergriffen die drei langen Haare aus dem Schweif ihres Pferdes und flochten sie geschickt zusammen. Kaum war die entstandene dünne Schnur fertig, zerteilte Karym sie in drei gleich große Stücke. Vom Regal holte sie drei kleine Töpfchen mit unterschiedlichen Farbstoffen. Ihre Hand zeichnete dreimal etwas in die Luft, während Karym drei kleine Schalen mit etwas Wasser füllte. Die Geste war ihr so vertraut, dass sie sie kaum mehr wahrnahm. Mit ruhiger Hand maß sie den Farbstoff ab und rührte ihn mit einem Stab aus Glas in das Wasser. Dann geschah etwas, womit Karym nicht gerechnet hatte.
Der Glasstab, den sie neben den Schalen abgelegt hatte, machte sich selbstständig. Er sprang in eine der Schüsseln und zeichnete blitzschnell etwas in die Farbe. Das helle Rot, das Karym gerade angerührt hatte, wurde zu tiefem Schwarz. Der Stab sprang weiter. Die zweite Schüssel enthielt kurz darauf tiefgraue Farbe, während der Stab wie wild weitersprang. Die Farbe in der dritten Schüssel war blutrot. Mit seinem Werk offenbar zufrieden, legte sich der Stab wieder auf seinen Platz, den er zuvor so eilig verlassen hatte. Karym saß wie erstarrt. Sie versuchte, die Bedeutung dessen zu ergreifen, was sie gerade gesehen hatte. Sie hatte schon viele Pfeile gebaut, die den verschiedensten Zwecken dienten. So etwas war noch nie geschehen. Jedenfalls nicht vor der Fertigstellung. Die abgeschossenen Pfeile entwickelten Kräfte, die man sich kaum vorstellen konnte.
Konzentriere dich auf deine Arbeit! Rihkars Stimme klang beinahe ein wenig ärgerlich. Karym war erschüttert. Hatte er ihr nicht mehr zu sagen? Es gibt Pfeile, die du nicht verbiegen kannst, erklärte er ihr in demselben Tonfall, in dem er diesen Satz schon einmal gesprochen hatte, vor vielen Jahren. Damals, als kleines Mädchen, hatte sie ihn gefragt, wie er das meine. Er hatte darauf nicht geantwortet. Jedenfalls konnte sich Karym keiner Antwort entsinnen. Statt dessen streifte Rihkars Lieblingssatz ihre Gedanken. Konzentriere dich auf die Aufgabe.
Karym Rihkara gehorchte. Geschickt wie eh und je zogen ihre Finger die geflochtenen Pferdehaare durch die Farbtöpfe, formten sie zu dünnen Ringen, die knapp oberhalb der Federn um den Pfeil gelegt wurden. Jeder Ring wahrte zum nächsten einen Abstand von einem fingerbreit, bis zur Feder waren es genau drei Finger. Karym betrachtete ihr Werk, während Worte wie von selbst über ihre Lippen kamen, die sie nie gehört, geschweige den selbst gesprochen hatte. Der Pfeil sah genau so aus wie all die anderen, die sie gebaut hatte. Nur war seine Aura stärker. Und Karym wusste nicht, welchem Zweck er dienen sollte.
Ohne darüber nachzudenken erhob sich Karym und nahm die Pfeilspitze aus der hölzernen Form. Das Metall glänzte matt und war noch ein wenig warm. Zurück am Tisch begann Karym, die Klingen zu schleifen, wie sie es bei jedem Pfeil getan hätte. Das dauerte seine Zeit. Immer wieder musste sie den Schleifstein mit Wasser benetzen, immer wieder kleine Metallstücke abschleifen, die dort entstanden, wo die Form nicht vollständig dicht war oder Risse hatte. Schließlich erschien ihr die Spitze perfekt. Alle vier Klingen bildeten symmetrische Paare, sie hätte einen Spiegel an jeder Schneide anlegen können, und das Abbild wäre nicht so exakt gewesen wie die Klinge auf der anderen Seite. Trotzdem war sie mit der Schärfe noch nicht zufrieden. Sie schliff das Metall weiter. Erst, als sie sich an der Spitze schnitt und ein Blutstropfen über das Metall rann, befand sie ihr Werk als vollendet. Ungeachtet der kleinen Verletzung an ihrem Daumen schob sie die Spitze in den Spalt, den sie zuvor geschnitten hatte. Wie auch die Federn am Schaft, so sicherte Karym auch die Spitze mit festem Garn. Dann hielt sie den fertigen Pfeil in der Hand. Ihr Blut verschmierte die Spitze des Pfeils. Sie wollte es gerade wegwischen, als es auf dem Metall zusammenlief. Karym musste zweimal hinsehen, um die beiden verschlungenen Runen zu erkennen, die jetzt die Spitze zierten. Lesen jedoch konnte sie sie nicht. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über das Metall. Sie spürte nichts. Nur das Metall schien da zu sein, die beiden Runen wie eingebrannt in die Pfeilspitze. Karym schüttelte ungläubig den Kopf.
Sie starrte den Pfeil an, der unschuldig in ihrer Hand lag. Nach einer Weile erst regte sie sich wieder. Ihre Hände taten die gewohnte Arbeit, auch wenn ihr Verstand nicht bei der Sache war. Sorgfältig umwickelten sie den Pfeil mit weichem Leder und verschnürten das Paket. Karym machten den Pfeil durch eine rote Schnur kenntlich, bevor sie ihn in den hohen Korb unter dem Tisch zu den anderen stellte.
Einige Minuten später saß sie erschöpft vor dem Kamin und blickte in die verspielten Flammen. Ihr Geist war wie leergefegt. Ihr schien, als sei alles, was sie gerade zuvor erlebt hatte, hinter einem Nebel des Vergessens verschwunden. Sie merkte, wie Müdigkeit sie überfiel und dachte, dass sie sich vermutlich morgen kaum noch würde erinnern können. Sie irrte sich. Sie würde diesen Tag nie vergessen. Es war der Tag ihres ersten bestimmten Pfeils ... und es war der Tag, an dem die Träume begannen.

"Sie stand auf einer Wiese. In der Linken hielt sie einen starken Bogen. Er war recht einfach gebaut, ein starker Weidenast, in den zwei Kerben geschnitten waren, die die Sehne hielten. Das Holz war ein wenig abgegriffen und auch die Sehne musste bald erneuert werden. Es war ein Bogen, wie ihn jeder hätte bauen können, einfach, aber zweckmäßig. Allerdings würde er nie die Haltbarkeit anderer Bögen aufweisen können. Mit der freien Hand zog sie jetzt einen Pfeil aus dem Köcher. Die rötliche Farbe stammte vom Kirschholz, die Federn waren schwarz. Rabenfedern vermutlich, die waren einfach zu finden, wenn die großen Vögel im Frühjahr um ihre Bräute kämpften.
Ruhig legte sie den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen. Sie kniff ein Auge zusammen und legte den Kopf schräg. Sorgfältig zielte sie am Pfeil entlang. Ihre Finger glitten vom Pfeil. Er schnellte davon, in gerader Linie. Ein reißender Laut sagte Karym, dass sie die mit Stoff bespannte Zielscheibe getroffen hatte. Sie brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass der Pfeil im Herzen der Scheibe steckte. Schon seit Monaten wagten es nicht einmal mehr die Ritter des Königs, sie am Bogen herauszufordern. Sie fürchteten um ihre Ehre, wenn sie von einem Knappen geschlagen wurden. Die Ritter ignorierten sie einfach und auch das einfache Volk hatte schnell das Interesse an Karyms Meisterschüssen verloren. Bei ihren morgendlichen Übungen war sie deshalb stets alleine. Es war ihr nur recht.
Umso überraschter war sie, als knapp hinter ihr jemand in die Hände klatschte. „Ein Meisterschuss! Man hat mir also nicht zuviel versprochen.“ Karym drehte sich langsam um und musterte den Mann aus den Augen eines sechzehnjährigen Knappen. Er war nicht sonderlich groß, dafür aber schlank, nein, eher dürr. Er war vollständig in eine dunkle Robe gehüllt. Die Kapuze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Karym konnte nichts Auffälliges an ihm entdecken. Er trug weder Schmuck noch sonstigen Zierrat. Einzig die Stimme war auffällig. Sie war sanft und tief, erinnerte Karym ein wenig an das Rauschen der Wellen des Meeres.
„Er hat mir nicht zuviel versprochen“ wiederholte der Mann. Karym blinzelte fragend. „Die Frage ist, ob es reicht, um dich zu bewähren.“ Der Mann schien mit sich selbst zu sprechen. „Nur die Zeit wird das zeigen können. Aber Zeit haben wir nicht.“ Endlich gewann Karym ihre Sprachen wieder. „Wovon sprecht Ihr, Herr?“ fragte sie höflich. Der Mann schüttelte den Kopf, als wolle er ihren Einwand wegwischen. „Ich habe etwas für dich, mein Junge.“ Seine Hände zogen ein längliches Bündel aus seiner Robe. Er reichte es Karym. Sie griff zu, ohne darüber nachzudenken. Der Mann wies auf den Bogen, den sie noch immer in der Hand hielt. „Hebe ihn nur, wenn du dir sicher bist, Junge. Und verschwende niemals einen Pfeil.“ Karym blickte erst erstaunt den Mann an, dann das Bündel in ihrer Hand.
Sie ließ den Bogen fallen und löste die schmalen Fäden, die das Bündel festhielten. Danach wickelte sie das Leder ab. Zum Vorschein kam ein einzelner Pfeil. Er war aus hellem Holz gefertigt. Am Schaft waren drei schmale Ringe befestigt, zwei hellblaue und ein weißer. Vier hellblaue Federn schmückten das Pfeilende, zwei davon wiesen je zwei Kerben in der Fahne auf, die anderen beiden waren nur einfach gekerbt. Knapp unter der Spitze des Pfeils waren zwei Runden ins Holz gebrannt. Karym starrte den Pfeil an. Warum schenkte ihr jemand einen Pfeil? Hatte sie nicht genug eigene? Dann hob sie den Blick. Der Mann war verschwunden. Ratlos blickte Karym sich um. Sie wickelte den Pfeil wieder in das Leder und steckte ihn in ihr Bündel.
Nachdenklich hob sie ihren Bogen auf und schoss noch einen weiteren Pfeil in die Mitte der Zielscheibe. Dann machte sie sich auf den Weg. Die Ritter wollten heute zur Jagd aufbrechen. Der junge Knappe musste noch das Pferd des Herrn herrichten. Karym beeilte sich.
Sie erreichte die Burg kurz darauf und machte sich auf die Suche nach ihrem Herrn. Sie lief die Treppen hinauf, irrte durch die Gänge und Säle. Erst nach langen Minuten entdeckte sie den Herrn. Karym befand sich auf einer Säulengalerie, von der aus man in einen Innenhof blicken konnte. Sechs Ritter standen dort und unterhielten sich leise. Karym entdeckte ihren Herrn darunter. Gerade wollte sie sich umwenden und zur Treppe eilen, als Bewegung in die Gruppe kam. Die Männer gingen ein Stück auseinander, bildeten einen lockeren Halbkreis. Drei Gestalten näherten sich ihnen. Karym erkannte den König und seine Leibwächter. Sie hörte die Stimme ihres Herrn, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Die Reaktion überraschte Karym. Der König wich zurück und die Leibwächter zogen ihre Schwerter, während sie sich vor ihn warfen. Auch der König zog seine Waffe. Wieder ertönte die Stimme des Herrn. Karym schauderte. Er lachte. Niemals zuvor hatte sie ihn lachen gehört. Sie würden doch nicht ...?
In dem Moment gingen die Ritter zur Attacke über. Karym vergaß die Loyalität zu ihrem Herrn. Sie wich in den Schatten zurück und riss den Bogen von der Schulter. Sie tastete nach ihrem Köcher. Nur noch drei Pfeile! Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die vorhin verschossenen wieder an sich zu nehmen. Jetzt spielte das keine Rolle mehr. Wie von selbst fand ihr erster Pfeil auf die Sehne. Sie zielte sorgfältig. Der Pfeil traf einen der Ritter und bohrte sich tief in seine Brust. Karym konnte ein leises Knirschen vernehmen.
Der Ritter lief einfach weiter. Der schwarze Federbusch, der aus seiner Brust ragte, störte ihn nicht im mindesten. Er blickte nicht einmal auf. Statt dessen bohrte sich seine Klinge in den Körper eines Leibwächters. Blut spritzte aus der Wunde. Der Mann sackte zu Boden. Der Knappe auf der Galerie erstarrte für einen Moment.
Den zweiten Pfeil legte er gewissenhaft auf die Sehne. Karym zielte genau. Auch dieser Pfeil traf. Ein zweiter Schaft ragte aus der Brust des Ritters. Karym glaubte, einen Geist zu sehen. Niemand konnte zwei Pfeile, die ihm im Herzen steckten, überleben! Der Ritter offenbar wohl. Es floss nicht einmal Blut und die Wunde behinderte den Ritter bei keiner Bewegung. Karym sah, wie der König stürzte. Auch seine Klinge und die seiner Leibwächter schienen lediglich die Waffen der Angreifer parieren zu können. Eine Verletzung hatte noch keiner der Ritter davongetragen. Das konnte doch nicht sein!
Fluchend legte Karym ihren dritten Pfeil auf die Sehne. Auch dieser blieb ohne Wirkung. Ein letzter Leibwächter verteidigte verzweifelt seinen Herrn, bis eine Klinge seinen Schwertarm abtrennte. Kurz darauf fuhr sie ihm ins Gesicht, genau zwischen den Augen. Das Geräusch der berstenden Knochen ließ Karym auffahren. Es musste doch möglich sein, die Ritter aufzuhalten! Vielleicht musste sie nur an eine andere Stelle zielen? Sie beschloss, diesmal auf die Stirn eines Ritters zu zielen. Ihre Finger stießen ins Leere, als sie nach dem Köcher griff. Verflucht! Während die Ritter sich dem König näherten, wühlte sie in ihrem Bündel. Ihre Finger rissen das Leder von dem Pfeil, den der Mann ihr gegeben hatte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie ihn in den Händen hielt. Entschlossen trat sie bis an die Brüstung der Galerie. Ruhig hob sie den Bogen. Dies war ihr letzter Pfeil. Er berührte das Holz. Karym spannte die Sehne. In dem Moment hob der Herr den Kopf und blickte zu ihr auf. Sein Schwert erhoben, um den König zu enthaupten, starrte er sie an. Nein, er blickte nicht sie an, sondern den Pfeil auf ihrer Sehne. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Karym begriff nicht. Sie zielte auf den Herrn. Sein Schrei verklang mit dem Sirren der Sehne. Der Pfeil traf. Der Herr taumelte zurück. Ebenso taumelten auch die anderen Ritter als seien sie zur gleichen Zeit getroffen worden. Dann geschah etwas.
Der Pfeil verschwand, ebenso die Ritter. An ihrer Stelle erschienen die Silhouetten von sechs Menschen aus wirbelnder Asche. Ein wenig erinnerten sie an einen Insektenschwarm, der einen Menschen nachahmte. Karym wich mit einem Keuchen zurück. In dem Moment, in dem sie ihr wahres Gesicht zeigten, brachen die Gestalten auch schon zusammen. Asche senkte sich auf den Hof hinab. Karym stockte der Atem. Sie mochte nicht glauben, was sie gesehen hatte.
Dann hörte sie Stimmen. Kurz darauf erschien der Magier des Königs und beugte sich über seinen gestürzten Herrn. Also war für ihn gesorgt. Karym wandte sich ab und ging. Der schwer verwundete König sah nur eine Gestalt, die von der Galerie verschwand. Dann verlor er das Bewusstsein."

Karym fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie lag vor dem Kamin. Die Asche glühte noch ein wenig. Der Traum wollte nicht von ihr weichen. Er war so anders gewesen als all die Träume, die sie zuvor gehabt hatte. Er war real gewesen, er hatte sie in eine Welt entführt, die echt war und kein Gespinst ihres Unterbewusstseins. Der Traum war ihr absolut real erschienen, zudem er ihr Dinge gezeigt hatte, zu denen ihr Unterbewusstsein niemals Zugang gehabt hatte, da Karym selbst sie niemals zuvor gesehen hatte.
Er ist so real, weil es wirklich geschehen ist, wisperte die Stimme ihres Vaters. Demnach war also alles wirklich passiert? „Wieso träume ich es dann?“ fragte sich Karym laut. „Warum bin ich auf einmal die, die handelt, wenn alles schon geschehen ist?“ Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. Sie war in ihrem Traum nicht sie selbst gewesen. Ein anderer hatte gehandelt und er hatte seine Empfindungen, Gedanken und Fähigkeit mit ihr geteilt, nein, auf sie übertragen. Sie war im Traum zu einer anderen Person geworden. Sie war der junge Knappe von gerade einmal sechzehn Jahren gewesen. Vielleicht war das nicht ungewöhnlich für einen Traum.
Was ihr seltsam erschien, war die Realität dieses Traumes. Karym hatte alle Empfindungen gespürt, wie der Knappe sie gespürt haben musste, hatte alle Entscheidungen aufgrund der Instinkte und Erziehung des Knappen auch für sich selbst getroffen und dann gehandelt, so wie er auch gehandelt hatte. Sie hatte das Blut riechen können und den Angstschweiß gespürt, der kalt über Wangen lief, die nicht ihre waren, es in diesem Traum aber wurden. Es war, als hätte sie alles selbst erlebt.
Erst jetzt erkannte sie den Jungen, dessen Gestalt sie angenommen hatte. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, als sie endlich die Verbindung zwischen sich selbst und dem Traum erkannte. Später war der Junge ihr Vater geworden. Ein kalter Schauer lief über Karyms Rücken. In ihrem Traum war sie an die Stelle ihres Vaters getreten. Nein, sie war er gewesen, mit allen Erinnerungen, Gefühlen, Talenten, Instinkten, Gaben und Fähigkeiten. Sie war zu Rihkar geworden, vollständig, ohne eine Erinnerung an sich selbst. Sie war Rihkar gewesen. Nur konnte sie nicht erkennen, was es bedeutete.
 



 
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