Rita lebt

Haarkranz

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Rita lebt.

Ich versuche die rote Wolke im Hirn loszuwerden. Kommt, geht, kommt, geht, wabert hinter der Stirn. Kann die Augen nicht aufmachen, die Lider wie verklebt. Wach werden, Uwe! Ja? Keine Antwort. Bin das ich? Hab ich gesagt, wach werden, Uwe? Scheint so. Aber jetzt bin ich wach, muss gegen die Schwere kämpfen. Uwe! Ja? Ich weiß, bin unterwegs, muss aufstehen. Aufsetzen. Geht nicht. Komm nicht hoch. Scheiße, was ist das? Da ist was, hält mich was fest. Nochmal, drücken, fest drücken. Mann! Keinen Zentimeter. Einen Moment nur, nicht wieder einschlafen! Aufwachen!
Jetzt konzentrieren, muss mir den Uwe vorstellen. Aber der bin doch ich. Klar, ich bin der Uwe. Wie weit weg bin ich? Seh mich irgendwo mit ner Flasche Bier. Durst, jetzt weiß ich was mit mir ist. Ich verdurste! Also aufstehen, trinken! Geht nicht! Geht schon wieder nicht. Da hält mich was, ein Riemen, nein zwei Riemen quer über der Brust. Da rutsch ich durch, geh nicht, die Beine sind auch fest. Schreien! Da hilft nur schreien.
Brüll Uwe, brüll! Genug, wird jemand gehört haben.
Wie komm ich hierher, bin nicht zuhaus in meinem Bett. Überlegen, eins und eins zusammenzählen. Komm Uwe, reiß dich zusammen, nicht wegdämmern. Zählen, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, sieben, sieben, sieben, Uwe, acht, acht. Wer sagt da acht? Ja wer schon, ich, ich hab acht gesagt. Kann nicht mehr. Wie komm ich hierher? Zurück, zurück, wie war das, du musst es wissen, warst dabei. Warum sag ich immer du zu mir? Bin doch ich, ich!
Nein, nicht ausruhen, denk nach, nein, nicht du! Ich denk jetzt nach.
Nächste Woche haben wir Silberne Hochzeit, freuste dich, hat die Rita gefragt. Ich hab genickt. Komm, sei nicht so miesepetrig, Uwe, sagt sie, und strich mir über den Kopf. Ich nahm ihre Hand. Tu nochmal, bat ich. Sie strich mir nochmal über den Kopf, bis runter zum Nacken, hat mich zärtlich gekniffen und nu komm gesagt. Ich fing an zu weinen.
Rita setzt sich mir auf den Schoß, putzt mir mit ihrem Taschentuch die Nase. Du bist nicht der Einzige mit Hartz IV, tröstet sie mich. Millionen leben mit Hartz IV. Können wir uns bei dem feinen Herrn Schröder bedanken, dem Arbeiterführer mit den dicken Zigarren und den teuren Anzügen. Seit wann wählen wir SPD, Uwe? Immer schon, wir Ochsen.
Ja so war das, sie saß auf meinem Schoß am Küchentisch, und wir sprachen von der Silberhochzeit und der SPD.
Dann, es war schon nach zehn, sind wir schlafen gegangen. Die Rita ist nochmal zu mir rübergerutscht, hat mir en Gute Nacht Kuss gegeben und gesagt, Uwe schlafen, nicht grübeln. Jetzt fällt es mir wieder ein: Ich hab gedacht, du hast mit deinem Job als Beamtin gut reden, dich können die nicht einfach vor die Tür setzen.
Also da bin ich jetzt, wie ging das weiter?
Der nächste morgen war ein Samstag, Rita musste nicht ins Büro, kein Wecker. Ich werde immer früh wach, alte Gewohnheit. Wenn du 32 Jahre um sechs aus den Federn bist, wirste um sechs wach, brauchste keinen Wecker.
Ich auf Zehenspitzen raus, unterwegs mein Zeugs geschnappt, die Tür leise hinter mir zugezogen. Rita hat nix gemerkt. Ich mich angezogen, die zwei Treppen ins Parterre runter, die Zeitung geholt. So, die konnt ich in Ruhe studieren, Böcks machten den Laden erst um halbacht auf, da gibt es frische Brötchen. Dann den Tisch decken: Brötchen mit zwei Scheiben mittelaltem Gouda und Quittengelee von unserem Baum im Schrebergarten. Wenn ich den Kaffee aufbrüh, mach ich die Schlafzimmertür weit auf, damit Rita der Kaffeeduft in die Nase steigt, da ist die ruck zuck auf den Beinen.
Das geht doch, hab ich prima hingekriegt, jetzt frag ich mich, warum bin ich hier festgeschnallt?
Hab alles gemacht wie immer, nur wie ging das weiter, ich seh Rita nicht. Die kam sonst tip tip, durch die Küche gelaufen, sagte, eben Pipi machen, das Klo rauschte, und? Da war kein Klorauschen und keine Rita. Gott, was tut mir der Kopf weh, ob die mich geschlagen haben? Jemand muss mich doch hier festgemacht haben, ich bin doch nicht zuhaus! Uwe, Uwe! Hör auf zu rufen, ich bin so verdammt kapput, einen Augenblick ausruhn muss ich, einen winzigen Augenblick.
Rita, wo bist du? Da steht die Carmen.
Wie war das, die Carmen hat geschellt und ich hab auf gemacht. Na endlich, sagt die zu mir, was ist los?
Ich sitz auf dem Balkon, hab ich gesagt, kann sein, dass ich das Telefon nicht gehört hab, bei dem Lärm von der Straße. Aber komm rein, die Mama schläft noch.
Wie, die schläft noch? Ist sie krank, und warum erfahr ich das nicht? Unser Carmen ist so.
Jetzt weiß ich wieder nicht weiter, wie war das noch?
Doch, ich hab den Kaffeeduft ins Schlafzimmer ziehen lassen und auf Rita gewartet, dass sie tip tip kommt, aufs Klo geht, das Wasser rauscht. Aber nix war.
Rein gar nix. Verdammt, wie war das noch. Komm Uwe, erinnern! Ich bin, glaub ich, zu ihr hin ans Bett, da lag sie so friedlich mit nem Lächeln um die Lippen, da hab ich sie schlafen lassen. Sollt der Kaffee doch kalt werden, den konnt ich neu aufbrühen. Mich auf den Balkon gesetzt. Ab und zu bin ich gucken gegangen, aber die Rita konnte nix stören. Gegen Mittag wurd es mir dann doch mulmig, ich hab sie leise gestreichelt, so ganz sanft über die Stirn und übern Arm, der auf der Bettdecke lag. Die ganze Zeit schon, lag der Arm auf der Bettdecke. Die Rita fühlte sich so kühl an, merkwürdig dacht ich, und bin schnell zurück auf den Balkon.
Als es dunkel wurde, bin ich neben Rita in mein Bett gekrochen, und hab bei mir gedacht und es dann lieber gelassen. Was half das denken, wohin führt dich das, Uwe, hab ich dann doch wieder gedacht, aber nur wohin führt dich das, Uwe, sonst nix.
Am nächsten Morgen hab ich wie immer die Zeitung geholt, Kaffee gekocht und die Brötchen vom Vortag, die wir ja nicht gegessen hatten, aufgewärmt. Als der Kaffeeduft durch die Stube zog, keine Rita. Ich hab mit dem Geschirr geklappert, selbst ein Brötchen mit Gouda gegessen, eine Tasse Kaffee getrunken und wieder raus auf den Balkon.
Weiter war nichts, der Tag verging, als es dunkel wurde bin ich neben Rita in mein Bett und später hat die Carmen geklingelt.
Jetzt weiß ich wieder alles, die fragte, ob die Mama krank wär, und warum sie das nicht erführe, und geht durch ins Schlafzimmer zu Rita, schreit: „Wie kommen die Fliegen hier rein?“ Und bevor ich was sagen konnte, schreit sie: „Mama! Die Mama ist tot! Was machst du, Papa, wie lang liegt die Mama schon hier, mach die Balkontür zu, da kommen immer mehr Biester rein. Hast du ein Fliegenspray.“ Das sagt sie alles auf einmal, zwischen Weinen, Schluchzen und Fragen, wann und wie das passiert wär.
Ich sag, Kind, wie kannst du so was sagen, die Mama schläft. Die schläft schon seit Samstag. Ich hab sie nicht geweckt. Mama hat schon mal so lange geschlafen, da warst du noch nicht auf der Welt.
„Papa, sie atmet nicht, siehst du das nicht! Gib mir endlich den Spray, damit ich die widerlichen Fliegen kapput machen kann.“
Ich hab ihr den Spray gegeben, sie hat das Zimmer eingenebelt und nachher lagen sechs dicke grüne Fliegen auf Ritas Bettdecke. Carmen hat Dr. Schubert angerufen, dem erzählt, ihre Mutter läg tot im Bett.
Mein Verhältnis zu unserer Tochter war nie besonders, aber jetzt musste ich an mich halten, sonst hätte ich die umgebracht. Die Art wie die in mein und Ritas Leben einbrach, den Doktor und später den Bestatter anrief. Ich blieb auf dem Balkon. Als der Doktor fertig war, kam er raus zu mir und kondolierte. Ich erklärte ihm, für mich ist sie nicht tot, für meine Tochter vielleicht, für mich nicht.
Dann kam der Bestatter und wollte Rita mitnehmen. Der Doktor stand noch bei mir auf dem Balkon, als Carmen dazu kam und sagte: Papa bitte. Plötzlich war da die wabernde rote Wolke.
 
S

Samara

Gast
sehr bewegend, menschlich
hab ich gern gelesen und lass die Geschichte in mir nachklingen

LG
die Sam
 



 
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