Romaneinstieg "Stille Wasser, tiefe Kämpfe"

rudigee

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Liebes Forum,

bitte um Feedback zum Einstieg meines Romans, ich bin um wirkich jedes Feedback dankbar! :)


STILLE WASSER, TIEFE KÄMPFE


Die Tür meines Arbeitszimmers schloss sich hinter mir und ich bewegte mich schleichend durch die Gänge der Universität. Das Grau der Betonwände, an denen nichts weiter hing als alte, vergilbte Plakate und das leise Flackern der Monitore verstärkten mein Gefühl der Erschöpfung. Es war wieder eigenartig kalt, ohne Grund, wie immer. Die Enge der Gänge und der Zwang, einem letztlich sinnlosen Lehrauftrag nachzugehen, vermittelten mir das Gefühl einer langsamen inneren Erosion – wie ein Virus, der meinen geistigen Verfall bereits vorweggenommen hatte. Es war der zähe Brei der akademischen Routine, in dem wir uns alle schleichend zu verlieren schienen – Professoren und Studenten gleichermaßen. Ein Mikrokosmos, nicht anders als das Geschehen im Rest der westlichen Welt: der kontrollierte Marsch auf den Abgrund. Es war, als läge ein metaphysischer Gestank über der Zeit. Ein kaum definierbarer Moder, der aus einer inneren Leere stieg, aus einem schleichenden Verfall, in der unsere Welt wie ein erschöpfter Organismus dahinwelkte. Nur die Studenten schienen sich noch einzubilden, diesem Sog entkommen zu können, indem sie gegen etwas, irgendetwas, kämpften

Am Eingang zum Hörsaal standen sie schon, bereit wie eine kleine, selbsternannte Spezialeinheit des moralischen Widerstands. Drei Gesichter, die mich mit einer Mischung aus Empörung und kaltem Trotz fixierten, als sei ich das symbolische Ziel für ihren privaten Krieg gegen die verhasste Vergangenheit und alles, was sie als bedrückende Gegenwart wahrnahmen. Ich erkannte sie sofort, freute mich fast – es waren zumindest vertraute Gesichter: ein lockenköpfiger, blasser Idealist, das Gesicht mit der gezielten Hingabe eines Revolutionsfetischisten geschminkt, daneben ein paar Dreadlocks, denen man ihre antimodischen, aber modisch oppositionellen Absichten schon von Weitem ansah. Die junge Dame in der Mitte hielt ihren Blick erhoben, eine Mischung aus Verachtung und Ergriffenheit, als sei sie sich geradezu feierlich bewusst, Teil eines heroischen Augenblicks zu sein.

„Faschist!“ rief sie mir zu, und ihre Stimme hallte durch die grauen Betonwände. Das Wort kam ihr fast genüsslich über die Lippen, wie ein Auftakt zu einem immer wiederkehrenden Ritual, das wohl ein Eigenleben entwickelt hatte. Die beiden anderen wiederholten das Wort, in verschiedenen Tonlagen, fast wie ein vielstimmiger Choral, als wollten sie mich mit ihren Stimmen aus ihrer Realität bannen. Sie kamen auf mich zu und streckten die Pappschilder so dicht an mein Gesicht, dass ich ihre schwungvollen, nachlässig geschriebenen Parolen kaum noch entziffern konnte. „Euer Schweigen ist Zustimmung!“, stand da, und besonders einprägend „Jetzt können wir endlich rausfinden, wie wir anstelle unserer Großeltern gehandelt hätten!“. Von ferne hörte ich weitere Parolen; irgendwo musste noch eine Gruppe von Sympathisanten unterwegs sein.

Es war fast komisch, wie sie sich so vor mir aufbauten, als sei ich eine Art letzter Teufel, den sie aus der Welt schaffen mussten. Mit fast kindlicher Verblüffung sah ich ihnen an, mit welch außerordentlicher Hingabe sie ihre Rolle erfüllten – die gesammelte Wut der unterdrückten Menschheit in sich vereint, dargeboten in diesem kleinen, schwachen Auftritt. Ich konnte ihnen nicht einmal böse sein, nein, ich verstand sie ja. Es musste doch etwas geben, woran sie sich festklammern konnten, eine Tat oder wenigstens ein Schauspiel, das ihren Tag von der bedrückenden Bedrohung des atomaren Holocausts abschirmte. Sie wollten ihrem Leben die Hülle eines Heldentums überwerfen, der bescheidene Versuch, ein wenig Ordnung in das Chaos ihrer Generation zu bringen. Ich selbst erfüllte dabei lediglich die Rolle eines stillen Beobachters, der als unfreiwilliger Statist zu einem Emblem des Bösen befördert wurde.

Vor einem Jahr, inmitten eines Sturms aus hitzigen öffentlichen Diskussionen und empörten Beschwerden bei meiner Fakultät, hatten sie sich das erste Mal gegen mich gewandt. Der Presse war damals ein früher Text von mir anonym zugespielt worden, ein Dokument aus den jungen, hitzigen Tagen meines Studiums, in dem ich – vielleicht etwas unbedacht und durchaus polemisch – die Präventivkriegstheorie relativiert hatte. Es war eine akademische Übung gewesen, nicht mehr als ein intellektuelles Spiel mit provozierenden Thesen, wie man es in jenen Jahren gerne betreibt, wenn man sich auf der Suche nach den harten, unversöhnlichen Wahrheiten der Geschichte wähnt.

Doch für meine Kritiker hatte dieser Text alles, was sie brauchten, um mich als Feindbild zu zementieren. Die „revisionistischen Tendenzen“, die sie mir in den folgenden Wochen mit fanatischem Eifer unterstellten, prägten von da an jeden meiner öffentlichen Auftritte. Ich war nicht länger einfach ein Dozent für Neue Zeitgeschichte, sondern der „Kontroverse“, der „Unsensible“, derjenige, der gerade heute „weltkriegsverherrlichend“ und „ideologisch verdächtig“ daherkam. In ihren Augen ein sicherer Beleg dafür, dass ich eine Art des Hitlerfaschismus repräsentierte, der sich zäh und unbelehrbar in die moderne Welt hineinschleppte.

Vielleicht lag in all dem sogar eine gewisse Logik: Das selbstzerstörerische Aufeinanderprallen der Weltmächte und das Ineinandergreifen multipler Katastrophen würden sie nicht beeinflussen können. Die Zukunft einer Generation, die neben hedonistischer Ekstase nur noch ein dumpfes Gefühl metaphysischer Verlassenheit spürte, formte sich zu einer merkwürdigen Mischung aus Mutlosigkeit und gefährlicher Bereitschaft zum Aktionismus. Für diese jungen Studenten meiner Fakultät diente ich als eine Art Ventil, eine Möglichkeit eine Brücke zwischen der politischen Schwere und ihrem eigenen Handeln zu schaffen. Es erinnerte mich an Krebspatienten, die sich mit esoterischen Klangschalen trösteten: freundlich, vielleicht sogar beruhigend — doch das Sterben lässt sich dadurch nicht aufhalten.

Nachdem ich meine Vorlesung endlich beginnen konnte, eine routinierte Einheit über das Ende des 1. Weltkrieges und den Vertragsbestimmungen von Versailles, hatte ich noch deutlicher das Gefühl, als wäre ich in einer artifiziellen Dauerschleife gefangen. Das monotone Deklamieren der Fakten, die Erläuterungen zu den Reparationszahlungen, der territorialen Neuordnung Europas – alles, was ich Jahr für Jahr den jungen Köpfen mitzugeben versuchte, hatte für mich allmählich jeglichen Sinn verloren. Schon seit geraumer Zeit lastete ein Gefühl des Scheiterns auf mir, das so tief und anhaltend war, dass es sich wie eine unsichtbare Substanz in meinen Knochen absetzte. In diesem Augenblick verband ich mich, auf eine merkwürdig intime Weise, mit den Verlierern von damals. Männer, die geglaubt hatten, durch diese Vereinbarungen Frieden schaffen zu können und doch nur einen faulenden Pakt schufen. Eine erschütternde Erkenntnis: wie zerbrechlich unser Schaffen ist, selbst wenn wir unsere Arbeit gut zu machen glauben.

Zu jener Zeit war Europa noch das pochende Zentrum der Welt, der Westen ein selbstbewusster Hafen der Zivilisation, überzeugt davon, den Takt der Geschichte vorzugeben. Wir waren stolze Protagonisten der Weltkriege gewesen. Jetzt aber stand der Kontinent wie ein abgegriffenes Museumsstück in der Vitrine globaler Kräfteverschiebungen. Eine Kulisse, die weiter existierte, weil niemand sie einstweilen abräumen wollte. Ein Nebenschauplatz im großen Ringen des 21. Jahrhunderts.

Sollte ein Krieg ausbrechen — und manchmal schien es, als wüsste niemand mehr, wie man ihn verhindert — wären wir nichts weiter als ein Austragungsort. Ein weiteres Schlachtfeld. Ein Faustpfand zwischen jenen Mächten, die noch wirkliche Interessen hatten.
Wir hätten nicht einmal die Würde, eine eigene Katastrophe zu besitzen.

Europa hatte seine Identität verloren.

Die diplomatischen Bestrebungen des EU-Parlaments wirkten wie höfliche Bitten, die in einem überfüllten Saal untergingen. Niemand hörte uns. Niemand nahm uns ernst. Wir führten keine Gespräche mehr — wir wurden informiert. Wir waren nur zu höflich, um aufzustehen und den Saal zu verlassen.

Und während ich darüber sprach, über Verträge, über Grenzziehungen, über jene historischen Wendepunkte, die einst die Welt geformt hatten, begriff ich mit einer Klarheit, die fast körperlich schmerzte: Es war mir alles egal geworden.

Diese Erkenntnis traf mich als stille, aber unbarmherzige Wahrheit. Kein Drama, kein pathetischer Ausbruch — nur eine nüchterne Feststellung einer gewachsenen inneren Leere, wie eine Diagnose, die niemand mehr abstreitet, weil sie längst offensichtlich ist.

Die Leere kam und ging, aber sie blieb nie völlig aus meinem Bewusstsein. Ein Lebensgefühl, das ich noch vor Jahren verachtet hätte – und doch hatte ich mich in den letzten Jahren immer weiter darin vergraben. Eine schwere Müdigkeit, die aus der Tiefe meines Bewusstseins kam und sich wie eine bleierne Decke über jeden meiner Gedanken legte, vergiftete tagtäglich mein Gemüt. Es war nicht die Arbeit allein, sondern mir schien etwas Grundlegenderes zu fehlen, ein Etwas, das mir jedoch unbekannt blieb. Unübersehbar war hingegen meine stille Depression, das schweigende Leiden eines Mannes, der bedeutungslos dem Kosmos gegenüberstand.

In dieser Erschöpfung gab es für mich nur eine Richtung, die sich ehrlich anfühlte: nach Hause.

Dort wartete meine Frau – früher einmal ein stiller Mittelpunkt meines Lebens, heute von derselben Auflösung erfasst wie alles um uns. Sie war Lehrerin gewesen, doch nie aus innerem Ruf. Sie hielt an diesem Beruf fest, weil ihr die Welt jenseits der Klassenzimmer wie ein unkartiertes Terrain erschien, rau und übermächtig, ein Schritt hinaus ins Ungewisse. Sie hatte auf die sichere Routine der Schule gesetzt, wie jemand, der den flachen See dem wilden Meer vorzieht, und doch hatte es sie allmählich zerfressen. Die endlosen Unterrichtsstunden, die Regeln und Vorschriften, die zum Selbstzweck verkommen waren, und zuletzt die Konflikte mit den Schülern, die alles in Frage stellten, was ihr einst klar erschien. Vor allem die Jungen aus muslimischen Familien waren für sie eine tägliche Herausforderung gewesen – Welten, die in ihrem Blickwinkel aufeinanderprallten, Missverständnisse, die nie zu überbrücken waren.

Jetzt befand sie sich in einer spät entflammten Selbstfindungsphase, arbeitslos und in eine Art resignierte Abhängigkeit vom Alltag gefangen. Auch sie hatte das Verlangen nach einem Neuanfang verspürt, aber wo und wie dieser aussehen sollte, wusste sie noch nicht. Ich sah das Unvermögen in ihren Augen, dass ich nur zu gut verstand: das Unvermögen, sich aus der Routine zu lösen, die einem mit der Zeit wie ein sich immer enger schließendes Band um die Brust legt.

Es war eine schale, distanzierte Ruhe, die in unserer Wohnung herrschte, eine Art Gleichgewicht des Verzichts. Wir lebten Seite an Seite, mehr als verwaiste Geschwister, die ein gemeinsames Apartment bewohnten, aber längst damit aufgehört hatten, darin ein Zuhause zu sehen. Jeder von uns festgehalten an den letzten Fäden unserer Routine, die vielleicht nichts anderes als ein passives Aussitzen zum Ende war.

Ich war müde.

Am folgenden Morgen erwachte ich in einem jener unscheinbaren Lichtverhältnisse, in denen die Welt für einen Moment harmlos wirkt. Die frühe Sonne zog fahle Streifen über die Bettdecke, als wäre sie selbst zu müde, den Raum wirklich auszuleuchten. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass Lisa wach war. Sie lag reglos auf der Seite, den Kopf leicht angehoben, als berge mein Gesicht eine Antwort, die sie schon zu lange erwartete.

„Alles gut?“, fragte ich leise. Meine Stimme klang fremd, fast tastend.

Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie bei etwas Intimem erwischt. „Ja… ich habe nur nachgedacht.“ Ihre Worte waren gewöhnlich, doch in der Pause dazwischen lag etwas Brüchiges, ein feiner Haarriss in ihrer Fassade. In letzter Zeit sah ich ihn oft.

Sie wandte den Blick zur Zimmerdecke, suchte dort vielleicht nach etwas, das sich besser anfühlte als wir. „Wir waren seit Jahren nicht mehr weg. Nirgendwo. Ist dir das aufgefallen? Ich würde gerne wieder nach Ungarn fahren. Nur wir zwei. Eine kleine Auszeit.“

Es war ein nachvollziehbarer Wunsch, ein fast rührender Versuch, die Welt wieder auf einen menschlichen Maßstab zu verkleinern. Dennoch spürte ich in mir ein leises Sträuben — die Art Widerstand, die entsteht, wenn man ahnt, dass eine Reise kein Problem löst, sondern nur der Versuch alte Erinnerungen wieder zu erszählen.

„Ja… klingt gut. Im Frühjahr vielleicht.“ Ich hörte selbst, wie unbeteiligt das klang. Sie hörte es sicher auch.

Beim Frühstück war die Stimmung noch dünner, als hätte die Nacht über uns etwas Unausgesprochenes abgelegt. Sie rührte in ihrem Tee, ohne wirklich zu trinken, und sagte schließlich abrupt: „Könntest du dich bitte bei Christian melden? Er ist seit Wochen wieder hier. Er schreibt mir inzwischen, weil du nicht reagierst.“

Ich seufzte kaum merklich. Christian. Die komplizierte Konstante meines früheren Lebens. Der Mann, der immer vom großen Aufbruch sprach und dann doch in seinen eigenen Ruinen hängen blieb. Ja, ich wusste, dass er zurück in Innsbruck war. Ich hatte seine Nachrichten gesehen, gelesen, ignoriert — nicht aus Bosheit, sondern aus diesem dumpfen Gefühl der Überforderung, das Nähe manchmal erzeugt.

„Ich melde mich bei ihm“, sagte ich. Die Worte fielen schwerfällig aus meinem Mund, wie eine Geste, die man schon im Vorhinein bereut.

Lisa sah mich einen Moment lang prüfend an. „Ihr wart früher wie Brüder. Vielleicht braucht er dich. Vielleicht brauchst du ihn auch.“

Ihr Ton war sanft, nicht vorwurfsvoll — und gerade das machte es schwerer, ihr auszuweichen. Ein Rest von Loyalität, der sich in mir sträubte, wurde wieder wach, wie ein Muskel, den man seit Jahren nicht benutzt hat.

Ich sah sie an, länger als sonst. In diesem Blick lag etwas Versöhnliches: nicht die naive Hoffnung, dass alles gut werden könnte, sondern die stille Anerkennung, dass wir uns zumindest wieder um etwas bemühen mussten. Vielleicht um einander. Vielleicht auch nur um die Überreste unserer alten Leben.

Etwas in mir löste sich. Eine kleine Bewegung, kaum merklich, aber echt.

Noch am selben Tag rief ich Christian an.

Wir vereinbarten ein Treffen für das kommende Wochenende. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte ich eine leise, beinahe unvernünftige Erwartung — den schwachen Aufglanz einer kleinen Rückkehr zu mir selbst.
 

marcm200

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Ein sehr depressiver Text. Viele Sätze sind aufgeladen mit Hoffnungslosigkeit. Gerade für den Beginn eines Romans ist mir dies zu sehr auf Innenschau gerichtet.

Du schreibst, dass der Professor in seiner Vorlesung über etwas spricht. Ich fände es am Anfang besser, wenn er wirklich sprechen würde. Die Szene im Hörsaal, die Szene danach zu Hause, das Aufwachen - ich würde dies sehr viel mehr ausbauen und mit rein deskriptivem Inhalt füllen. Und dann erst nach und nach die ganze Mir-ist-alles-egal-Mentalität reinbringen.

Ich würde Lisa z.B. nicht nur sagen lassen, dass sie nach Ungarn fahren möchte. Sie könnte schon Prospekte aus dem Reisebüro geholt haben, vielleicht auch direkt als eigene Szene. Der Anruf mit Christian sollte als Szene beschrieben werden, und nicht nur erzählt.

Ich würde generell, wenn du so viel innere Überlegungen darstellst, auch einen Gegenpart in Form von externen Ereignissen beschreiben, um mir als Leser etwas Pause zu gönnen, bevor es wieder melancholisch weitergeht.

Rein vom Stil ist alles für mich gut lesbar.

In welches Genre gehört der gesamte Roman? Das Wissen darüber hätte mir beim Lesen in der Einordnung geholfen.

Rechtschreibung:
- "sondern nur der Versuch IST/WAR , alte Erinnerungen"
 

petrasmiles

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Gerade für den Beginn eines Romans ist mir dies zu sehr auf Innenschau gerichtet.
Genau das war auch mein Eindruck!
Aber nicht nur die Innenschau, sondern so viele Reflexionen, die schon die Meinung des Protagonisten wiedergeben, ohne dass der Leser aufgrund einer Handlung etwas nachvollziehen könnte. Irgendwie stehen diese statements (für mich) zwischen Leser und Protagonisten. Zu diesem Zeitpunkt kann man gar nicht wissen, ob er seine innere Befindlichkeit auf alle projiziert, oder ob es eine Ursache gibt, die es wahrscheinlich scheinen lassen, dass auch die Studenten den Protest wählen, um diesem 'Sog' zu entkommen. Wenn man ein Lebensgefühl an sich betrachtet, dann ist es völlig unerheblich, ob Vorfreude auf eine gute Zukunft einer Illusion entspringt - sie ist real. Das spräche für eine Projektion und wäre nicht sehr sympathisch, und er wirkt auch im Folgenden nicht sympathischer, weil er im Grunde vernichtende Urteile über die Studierenden fällt - man siehe die Krebspatienten und die Klangschalen. Das atmet etwas sehr Respektloses, der Protagonist steht - obwohl Opfer - so sehr 'über den Dingen' und hat für alles einer Erklärung, das ist einfach nur ermüdend, und ihn selbst ermüdet es offensichtlich auch.
Und dieser kalte Blick fällt auch auf seine Frau, die mal eben als Versagerin skizziert wird.
Warum solle man ihn kennenlernen wollen?
Das alles gibt den Eindruck, als würde er gelebt; im Zweifelsfalle steht er auf der Seite seines Zensors, immer bereit, Erklärungen zu finden und Urteile zu fällen. Aber die Urteile sind das Uninteressanteste am Leben.

Ich frage mich, ob ich mir wirklich solche Gedanken am Anfang eines Romans machen sollte, bevor ich den Protagonisten überhaupt kennengelernt habe - die Gefahr besteht ja, dass man ihn gar nicht mehr kennenlernen will.

Aus diesem Text entnehme ich, dass Reflexionen und Handlung in einem ausgewogenen Verhältnis stehen sollten.

Liebe Grüße
Petra
 

rudigee

Mitglied
Vielen Dank für die Rückmeldungen!
Solche Feedbackschleifen helfen mir enorm, vor allem euer erwähnter Aspekt, dass auf euch der Protagonist eher unsympathisch wirkt. Das hat auch seinen Grund und ist bis zu einem gewissen Punkt auch so gewollt. Ebenso die depressive Stimmung und die Projektionen auf sein Umfeld.
Jedoch sind diese Aspekte in der aktuellen Fassung zu verdichtet und gerade am Anfang vielleicht etwas abschreckend.

Was soll das Genre überhaupt sein?
Am ehesten würde ich sagen, geht es in die Richtung von Michel Houellebecq.
Themen sind: Sinnsuche durch Heroismus, wahre Lebendigkeit in der Erfahrung des Gegenübers, Spannungsverhältnis Religion, Spiritualität, Ideologie --> die Handlung soll plastisch im Rahmen eines an Bedeutung verlierend Europas und einer im Roman nie voll ausdeklinierten atomaren Bedrohung stehen.

So geht es weiter: Wolfgang (Protagonist) trifft sich mit Christian, dieser ist mittlerweile in einer umstrittenen Organisation aktiv, die sich die Österreichische Erhebeungsbewegung nennt, angeführt von einem ehemaligen Priester. Die Organisation strebt eine Art katholische Renaissance an, kritisiert aber gleichzeitig die traditionelle Theologie, sieht die Bibel eher als Mythos, als Werkzeug zur Selbstverwirklichung und politischer Veränderung.
Wolfgang verachtet zunächst die Ausrichtung der Organisation, verliert sich aber im politischen Aktionismus und findet dort auch eine neue Liebschaft, er findet dort eine Art neue Lebendigkeit und Intensität, die ihm sein Leben lang gefehlt hat.

Das endet natürlich alles nicht gut und es kommt am Ende zu einem Terrorangriff, der Wolfgang abverlangt, eine Entscheidung zu treffen.
Der Roman endet tragisch, jedoch insgesamt bittersweet, Wolfgang findet jedenfalls am Ende der Geschichte einen tiefen Sinn in seiner Existenz.

Das zumindest mal eine Rumpfbeschreibung des Werkes.

Vielen Dank nochmal für das Lesen des Anfangs! :)
 



 
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