Rondo à la 'Die große Fracht' (Bachmann)

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wüstenrose

Mitglied
Ein schütteres Geläut erfüllt die Flur,
die Stunde weiß, was sie geschlagen hat,
von Zeit zu Zeit verliert ein Baum ein Blatt.
Ein schütteres Geläut erfüllt die Flur.

Die Stunde weiß, was sie geschlagen hat,
und mag sich auch das Blatt im Winde wenden,
wer ließe sich von solcher Laune blenden?
Die Stunde weiß, was sie geschlagen hat.

Von Zeit zu Zeit verliert ein Baum ein Blatt,
die Aster knipst die letzte Blüte aus,
ein Heimatloses sucht noch sein Zuhaus.
Von Zeit zu Zeit verliert ein Baum ein Blatt.
 
Zuletzt bearbeitet:

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Wüstenrose, ich kannte das Gedicht von Ingeborg Bachmann leider noch nicht, habe es aber zum Vergleich gelesen.

Klang und Tonfall Deines Gedichtes gefallen mir sehr, ebenso bei Ingeborg Bachmann. Sie hat allerdings das Gedicht fast mit (zum Teil halbtoten) Metaphern überladen, es passt zu ihrem Gedicht, aber Deins wirkt besser auf mich.

Es ist ein wenig einfacher und durchgängig, die Melancholie kommt besser durch, die Wiederholungen sind besser verschränkt.
Aber vielleicht liegt es daran, dass ich erst Deins gelesen habe.

Viele Grüße von Bernd
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Bernd,

danke (später mehr, muss grad los ...)

mit der ersten Zeile bin ich noch unglücklich (Widerspruch schütter / erfüllt)

lg einstweilen
wüstenrose
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das sich wiederholende "sch" in
Ein schütteres Geläut erfüllt die Flur,
die Stunde weiß, was sie geschlagen hat,
ist wunderbar. "Blechern" würde den Klang zerstören, denke ich. Und die Stimmung. Es wäre statt melancholisch eben blechern.

"Schütter" assoziiert leise, langsam, entfernt, alt, erhaben, ehrwürdig, nicht lärmend, trotzdem unter leichter, angedeuteter Qual.
Das liegt auch an onomatopoetischen Effekten.

Die Wiederholung des "ü" in schütter - erfüllt trägt auch dazu bei.

"Rostig" - es wird schärfer, stichartiger, kürzerfrequent.
 
O

orlando

Gast
Am besten wäre "schüter", gibt es aber leider nicht *seufz. Habe auch schon bei anderen Üüü-Wörtern geschaut, aber nix gefunden. -
Doch ich denke: Das Gedicht ist auch so sehr gut gelungen.
LG, orlando
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo molly, orlando, Bernd,

vielen Dank für eure konstruktiven, hilfreichen Rückmeldungen!
Irgendwie hat mich die Beschäftigung mit diesem Gedicht aufgewühlt (war ja auch ein erschütterndes Wochenende), es geriet durchaus melancholisch; eure Beiträge halfen mir, mich wieder etwas zu sortieren.
Rein klanglich war ich mit Zeile 1 endlich zufrieden, rein inhaltlich hätte es eher lauten sollen:
Ein schütteres Geläut verhallt im Feld
- klanglich deutlich schlechter, aber da mir "verhallt" das richtige Wort zu sein schien, empfand ich "erfüllt" als Übertreibung, die sich dazuhin inhaltlich mit "schütter" beißt. Aber irgendwie muss das Pferd ja aufgezäumt werden. Deshalb nehme ich dankbar zur Kenntnis, Bernd, dass du mit schütter unter anderem auch erhaben / ehrwürdig assoziierst, mithin Eigenschaften, die imstande sind, den Raum zu füllen. Manchmal können auch die leisen Töne Resonanz erzeugen.

Das Bachmannsche Gedicht ist eines meiner absoluten Lieblingsgedichte. Vielleicht wollte ich dem Gedicht der großen Meisterin mal einen kleinen Bruder zur Seite stellen; es freut mich zu hören, dass die Sache nicht völlig missraten ist.

Nochmal vielen Dank!
lg wüstenrose
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo wüstenrose

Ich finde "schütteres Geläut " hervorragend! Das höre ich zum ersten mal, das ist noch frisch und unverbraucht. Auch ansonsten sagt mir der Text zu. Ein schöner kleiner Bruder :)
Sehr gelungen
Gruß
Patrick
 

Perry

Mitglied
Hallo wüstenrose,

es ehrt Dich, dass Du den Text von Ingeborg Bachmann als Referenz angegeben hast, obwohl dein Text auch so genügend Eigenständigkeit gehabt hätte.
Ich bin zwar (im Lyrischen) kein großer Freund von "(Zeilen)Wiederholungen", ließ mich hier aber gerne mitnehmen vom Wiederkehrenden des Zeitlichen.
"Schütteres Geläut" empfinde ich als treffende Metapher für die Vergänglichkeit in den Bildern.
Gern gelesen und LG
Manfred
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Perry,
besten Dank fürs freundliche Vorbeischauen!

Bevor ich dieses Gedicht hier eingestellt habe, habe ich etwas geforscht, ob die Rondo-Form in der Ausprägung, wie sie uns bei Ingeborg Bachmann begegnet, als eigenständige Form auch schon vorher Anwendung fand. Ich habe aber auf Anhieb kein weiteres Rondo gefunden, das genau diesem formalen Aufbau folgt. Da ich im Forum Feste Formen veröffentlichte, war es mir wichtig, den Bezugspunkt für die von mir gewählte Feste Form zu benennen.

lg wüstenrose
 



 
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