Ronias große Reise

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

Ruedipferd

Mitglied
Ronias große Reise



Der Wind ließ kurz nach um beim nächsten Atemzug stärker denn je zu blasen. Ronia hüpfte auf und ab und glaubte in einen Hurricane geraten zu sein. Doch der Sturm stellte keine Bedrohung für sie dar. Es war eher ein Spaß, den sie in vollen Zügen genoss. Sie wirbelte durch Raum und Zeit, ritt auf dem Luftstrom wie ein Wellenreiter auf einem Surfbrett vor der Küste. Plötzlich wurde sie von etwas angezogen. Sie versuchte sich von dem Sog zu lösen. Vergebens. Alle Befreiungsversuche scheiterten. Sie atmete ruhig ein und dachte nach. Sie hatte Schlimmeres überstanden und konnte ihrem Glück vertrauen. Ronia musste jetzt aufpassen. Sie war gefangen. Der gasförmige Stoff besaß eine starke Strömung und zog sie unbarmherzig mit sich in eine Röhre. Die wurde durch feste Wände begrenzt. An Entkommen war nicht zu denken. Eine Art Tunnel, kam ihr in den Sinn. War ich nicht schon einmal hier? Hatte ihre Großmutter nicht von unendlichen Röhrensystemen erzählt, die in den Riesen verborgen lagen und sie wie ein Labyrinth durchzogen? Ronia versuchte sich klein zu machen, hielt ihre gespreizten Finger vor sich, um nicht an die glitschigen Wände zu prallen. Wenn ihr kleiner Körper daran schlug, müsste sie sich weh tun. Darauf wollte sie es nicht ankommen lassen und hielt Abstand, so gut es ging. Sie fühlte sich an Stromschnellen erinnert, welche aus einem friedlichen Fluss ein reißendes Wildwasser machten.

Autsch! Es wurde immer enger. Ronia spürte Druck auf ihrem Leib, der zusammengequetscht wurde wie eine Zitrone. Der Vergleich passte und doch konnte sie nicht darüber lachen. Gottseidank besaß ihr Körper ein hohes Maß an Gelenkigkeit. Sie konnte einiges ertragen. Während sie sich durch die engen Gefäße zwängte, dachte sie an die Riesen, in deren Innerem sie sich wohl grad aufhielt. Es gab große Riesen und welche, die etwas kleiner waren. Einige sprachen mit hoher Stimme, andere brummten wie die Bären. Und es gab ganz kleine Riesen. Ronia war wissbegierig und klug. Sie wollte hinter das Geheimnis der Riesen kommen. Upps! Sie flog schon wieder durch die Luft in eine große Halle hinein und plumpste auf etwas Weiches. „Hey, pass auf, wo du hintrittst!“, schalt eine ärgerliche Stimme neben ihr. Ronia begriff, was geschehen war. Sie lag auf einer dicken flauschigen Matte. Darunter waren kleine Fasern zu sehen, die wie Härchen aussahen.

„Aua!“ schrie jemand neben ihr. „Entschuldigung“, antwortete Ronia. Die Stimme kam von einer Person, die so aussah wie sie selbst. Ronia wusste, dass sie nicht allein auf der Welt war. Sie hatte schon etliche Artgenossen auf ihren vielen Reisen durch die Riesen getroffen. Diese hier schienen sich in ihrer Hängematte wohl zu fühlen, wenn sie nicht, wie grad durch Ronia unbeabsichtigt geschehen, getreten oder gestoßen wurden. „Such dir einen Platz und verhalte dich ruhig, du Wirbelwind“, sagte eines der größeren Wesen. Ronia schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich muss weiter. Wie komme ich hier wieder raus?“, fragte sie die lustig aussehende dicke Kugel, die einen netten Eindruck auf sie machte. „Du musst in den roten Fluss dort drüben springen und dich treiben lassen. Einige von uns hatten auch keine Lust hier zu bleiben und sind weiter geschwommen. Wohin die Reise führt, weiß ich nicht.“ Ihre Artgenossen hatten mitgehört. Ronia fühlte, wie sich der Teppich aus Lebewesen unter ihr spannte und zusammenzog. „Gute Reise“, war das Letzte, das sie hörte. Es war, als riefen tausende und abertausende kleinster Organismen ihren Abschiedsgruß. Dann wurde es schwarz vor Ronias Augen und sie fühlte sich einer Ohnmacht nah. Sie flog und flog, immer weiter, immer höher, klatschte in die Hände. Ronia kannte das Glücksgefühl, welches durch einen Botenstoff mit Namen Endorphin ausgelöst wurde. Es war unendliche Freiheit. Liebe und Freiheit waren das schönste, was es auf Erden gab. Sie ließ sich fort tragen. Doch lange war ihr das große Glück nicht vergönnt.

Platsch, plötzlich lag sie wieder in der roten Flüssigkeit. Zum Nachdenken blieb ihr keine Zeit. Und wieder musste sie aufpassen, nicht an die Zellwände zu schlagen. Je länger sie trieb, umso mehr beruhigte sich das Wasser. Ronia atmete auf und blickte sich interessiert um. Flache Scheiben schwammen neben ihr. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einige winzige Ärmchen, die aus der Wand zu ragen schienen. Daneben befanden sich dicke Haufen von Scheiben und an ihnen klebten Teile, die Ronia nicht kannte. Schräg gegenüber lagen diese Teile neben einem der Ärmchen. Aber es waren keine roten Plättchen dabei. Ein Ärmchen hatte Ronia entdeckt. Es winkte mit seiner kleinen Hand. „Komm her, leiste mir Gesellschaft. Ich bin so allein!“, rief es ihr zu. „Nein, bleib hier“, raunte eine Stimme warnend neben ihr. Sie gehörte zu einem der Plättchen. „Es ist böse und will dich fangen, um dich dann zu töten. So wie es mir und den anderen hier ergangen ist“, erklärte die Stimme. „Aber du lebst doch noch? Sonst könntest du nicht mit mir sprechen“, antwortete Ronia verwirrt. „Die Mörder sind schon unterwegs. Sie kommen aus einem anderen Teil dieses Körpers. Sie werden uns alle umbringen, denn wir haben den Abfall, der aus der Wand gerieselt war, als die Ärmchen in sie eindrangen, angefasst. Jetzt sind wir nicht mehr die Freunde der Killer, sondern ihre Feinde und müssen vernichtet werden. Es hat schon viele von uns erwischt. Wir können deshalb unsere Arbeit nicht mehr verrichten“, wisperte die Stimme, die unter einer Ladung Müll begraben lag. „Sprich leise, es darf dich nicht hören. Es war einst wie du. Aber die Riesen haben es zerstört und nur einen Arm zurückgelassen. Den haben sie in die Riesen geschickt. Nun stehen die Ärmchen auf der Seite der Riesen und bekämpfen uns.“ Ronia nickte. Das war nicht leicht zu verstehen, aber sie gehörte zu den Klugen ihrer Art.

„Wie komme ich hier wieder raus?“, fragte sie die Stimme, die von einem Plättchen kam und einen großen Packen Müll festhielt. „Du musst versuchen, an den Greifarmen vorbei zu schwimmen. Wenn du Glück hast, ist der Weg zum Herzen des Riesen noch frei. „Und wenn nicht?“ Ronias Stimme klang ängstlich. Dies hier war anders, als alle vorigen Abenteuer, welche sie bereits erfolgreich überstanden hatte. Sie spürte zum ersten Mal in ihrem Leben Gefahr. Noch nie war der Tod so nah, wie in diesem Augenblick. „Was ist, wenn mich der Arm erwischt? Bitte, sag es mir! Ich habe Angst!“, rief Ronia und vergaß, dass sie mit ihrer Geschichte kein Aufsehen erregen durfte. „Psst. Leise. Alle, die Kritik üben, werden gefangen. Was ich dir jetzt sage ist die Wahrheit, kleine Ronia. Es stimmt, du bist in höchster Lebensgefahr. Aber, dass sind die Riesen auch. Sie glauben, euch mit den Armen fassen und töten zu können. Und das klappt bei einigen sogar. Aber nicht alle sind hierher bis in die rote Flüssigkeit hinein geschwommen. Die meisten von euch sind in dem großen Raum geblieben. Ronia lachte leise auf. „Ja, die liegen da wie in einer Art Bett oder Hängematte auf Haaren, die ganz weich sind und sich nicht mehr bewegen können. Sie haben mich hoch geworfen, damit ich in den Fluss springen konnte.“ „Richtig“, meinte die Stimme. „Die Härchen transportieren die Luft der Riesen. Wenn sie verkleben, sterben auch die Riesen. Diejenigen von euch, die sich an uns und den Abfall der Arme heften, werden mit dem Fluss weitertransportiert. Solange, wie der Fluss noch breit ist und Abfall aufnehmen kann. Dort wo der Fluss ganz langsam fließt, ganz oben im Riesen, verstopft es zuerst. Du weißt, was passiert, wenn sich plötzlich ein Damm auftut. Die Biber machen es vor. Sie stauen das Wasser durch Baumstämme und das Wasser kommt nicht mehr durch. Es fließt zurück und bildet Seen, wo keine Seen hingehören. Das Land wird überschwemmt, obgleich es dort noch nie Hochwasser gegeben hat. Die Folge, alles Leben stirbt.
Und so wird es den Riesen ergehen. Das, was ihnen andere Riesen als Rettung verheißen, wird bei einigen von ihnen später Folgen haben und ihnen den Tod durch die Hintertür bringen. Und wir können ihnen dann auch nicht mehr helfen, weil die meisten von uns durch unsere eigenen Leute umgebracht wurden. Wir sorgen sonst dafür, dass die rote Flüssigkeit nicht aus dem Flussbett läuft, wenn irgendwo ein Schaden entstanden ist. Jetzt haben wir genug geredet. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du hast verstanden, was ich dir sagen wollte. Klettere auf meinen Bauch und springe, wenn ich dich schubse, in den Fluss. Noch ist die enge Stelle am Kopf der Schlucht nicht zu. Das Wasser fließt dort langsam. Du kannst dich vorbei hangeln und lässt dich bis in den großen Saal zu den anderen transportieren. Die Riesen wirbeln dort Luft auf. Wenn du in einen dieser Wirbel gerätst, verlässt du den Riesen auf die gleiche Art, wie du hier reingekommen bist. Dann bist du frei.“

Ronia nickte und tat, was das Plättchen sagte. Es ging sehr schnell und leicht. Als Ronia erleichtert ihre Freiheit spürte, beschloss sie, sich künftig von den Riesen fern zu halten. Die Welt war groß, es gab viel zu erleben. Vielleicht wird sie in drei oder vier Jahren zurückkommen, wenn sie erwachsen und ihr Körper größer und kräftiger geworden ist. Ein merkwürdiger Geruch strömte in Ronias Nase. Er schien von dem kleinen Wesen im weißen Pelzmantel, welches mit der Nase auf dem Boden schnüffelte, zu stammen. Ronia ließ sich von der Schnauze einsaugen. Das letzte, was sie hörte, war ein kurzer undefinierbarer Laut. Wuff! Ronia erlebte den Anfang eines neuen Abenteuers.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Klasse Geschichte!

Wenn ich weiß, wer Ronia ist, komme ich nochmal wieder! :)

Auf jeden Fall hat sie von den Menschen erstmal genug und wendet sich nun einem Hund zu ...

Gruß DS
 



 
Oben Unten