Roswitha

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lietzensee

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Roswitha
Die Suppe war nicht schlecht. Möhren- und Kartoffelstücke darin schmeckten etwas nach Moder. Aber sie war heiß und füllte den Magen. Beim Essen sprachen wir zunächst stockend. Was man halt so redet, wenn man sich noch nicht kennt und zusammen in eine Zelle gesperrt wurde. Dem Anderen wurde ein Einbruch vorgeworfen und er betonte, dass er unschuldig war. Unschuldig war ich natürlich auch, einen Raubüberfall sollte ich begangen haben.
Die Stimme meines Zellengenossen hatte einen weinerlichen Ton. Ich merkte auch bald, dass er über etwas reden wollte. Aber was ich zu erzählen hatte, war besser. Ich war auf einem bemerkenswerten Weg hier reingekommen und würde lange vor ihm wieder draußen sein. Bis dahin sollte er meine Geschichte gebührend würdigen. Zuerst ließ ich ihn ein bisschen reden. Er sprach von einer Frau, mit solcher Hingabe und Ausführlichkeit, wie man sie wohl nur im Gefängnis findet, ihre weißen, etwas schiefen Zähne und das Grübchen auf ihrer linken Pobacke. „Zum Schluss hat sie mich ausgenommen und verpfiffen...“ Er schlürfte Suppe von seinem Löffel.
„Eine Frau hat dich verraten?“
„Ja, ist dir das noch nie passiert?“
Ich sah ihn an. Dann lachte ich in sein Gesicht. „Einerseits ja, genau das ist mir passiert. Andererseits, so banal ist es nicht gewesen.“ In meiner Schüssel kratzte ich noch einen letzten Löffel Suppe zusammen. Irgendwo in dem großen Polizeigebäude rasselten Gitter. Nach einer mit Bedacht bemessenen Pause fing ich dann an, zu erzählen.

In den Bahnhof der kleinen Stadt war ich zufällig gelandet, weil ich den letzten Zug nach Halle verpasst hatte. Bei meinen Geschäften komme ich ja im ganzen Land herum. Eine Weile sah ich mir den Wartesaal und den geschlossenen Kiosk an. Dann stand da ein älterer Herr, der auf seine Uhr sah und offensichtlich ebenfalls auf einen Zug wartete. Wir begrüßten uns. Wie man es gern tut, sprachen wir über das Angebot in den Exquisit-Läden und was es gerade nicht zu kaufen gab. Als die Gelegenheit günstig war, hieb ich ihm eins über den Schädel und riss die Uhr von seinem Handgelenk. Kein besonders elegantes Modell, aber tatsächlich Gold! Ich rannte aus einem der Seitenausgänge und sah mich um. Irgendwo musste ich ja warten, bis mein Zug fuhr.
Da draußen war nichts. Nur Kälte und der Kohlestaub biss einem in die Lunge. Dann hörte ich es. Eine eindringliche Stimme sang ein Lied in den dunklen Abend. Dieser Klang hatte etwas, das mich abstieß und gleichzeitig mächtig anzog. Ich folgte den Gesang um eine Ecke, dort führte eine Treppe ins Kellergeschoss und zu einer offenen, hell erleuchtenden Tür. Ich trat ein und da saß sie, an einem kleinen Tisch mit einem leeren Teller darauf. Ihre singenden Lippen waren rot geschminkt. Sie trug ein Blumenkleid und um den Hals hatte sie ein Seidentuch geschlungen. Über der Tischkante baumelten ihre groben Hände.
„Guten Abend“, sagte ich.
Sie sah mich an.
„Kalt ist es geworden.“ Ich zeigte durch die offene Tür in die Nacht heraus, aber statt einer Antwort prüfte sie nur ihre Lippen in einem Spiegel.
„Groß oder klein?“, fragte sie schließlich.
„Was?“
„Pinkeln oder Kacken?“
Solche Ausdrücke gefallen mir nicht. Aber oben vor der Tür hörte ich jetzt die ersten Rufe. Man hatte den alten Herren gefunden. Da erkundigte ich mich bei der Frau sehr höflich: „Macht das einen Unterschied?“
„Groß kostet fünfzehn Pfennige, klein nur vier.“
„Das muss ich mir überlegen.“
Aus einem kleinen Kasten unter dem Tisch zog sie eine Flasche und ein Stumpenglas hervor. Sie goss sich Schnaps ein, lehrte das Glas und wischte ihren roten Mund. „Auch einen?“
„Ja gerne.“
„Das macht fünfzehn Pfennige.“
Wir stießen an und tranken. Ich sah mich um, kahle Wände, Neonlicht, der Toilettenraum gab dem Auge nicht viel halt. Bald starrte ich doch wieder auf ihr eckiges Kinn. „Ich warte auf den ersten Zug nach Halle.“
„Hm.“
„Dort haben wir natürlich ganz andere Etablissements.“ Ich prüfte die Zeit auf meiner goldenen Uhr, weil sie sehen sollte, dass ich besseres gewohnt war.
Sie blickte mich an und schminkte sich dann lange ihre roten Lippen nach. „Jetzt bist du aber hier. Hast du schon Pläne für deine Wartezeit?“
Ich kann dir den Anblick kaum beschreiben, wie sie da saß, an ihrem zerkratzten Toilettentisch, den Lippenstift zwischen ihren Fingern drehend, den Blick prüfend auf mich gerichtet. Durch ihr seidenes Halstuch sah man einen blauen Fleck schimmern. Dann hörte ich Schritte oben am Treppengeländer vorbeieilen. Als ich mich umdrehte, begann sie hinter meinem Rücken zu kichern.
„Ich wette, du weißt nicht mal, wann der nächste Zug nach Halle fährt.“
„Oh doch!“ Jetzt wurde ich wütend. Frechheiten lasse ich mir nämlich nicht bieten. Nicht von so einer Landpomeranze, der ich einfach die Flasche über den Kopf ziehen konnte, wenn ihre Manieren unerträglich wurden. Das musste sie doch wissen. Ich stellte mich vor ihrem Tisch auf, da eilten Schritte die Treppe hinab.
Durch die Tür lief ein Mann mit Anzug und eleganter Brille. Er pinkelte, zahlte zwei Pfennige und verabschiedete sich mit „auf Wiedersehen Roswitha.“ Die teure Brille in seinem Gesicht erinnerte mich an meine Situation. Ich begann zu überlegen, wie lange man für den Raub einer Golduhr wohl einsitzen musste.
Sie lachte. „Du bist aber nervös Junge, soll ich dich beruhigen?“ Dabei stand sie auf. Das Blumenkleid spannte sich um ihre breiten Schultern und sie fragte: „Gefalle ich dir?“
In dem Moment wollte ich weg aus diesem Pissoir, nach draußen in die Kälte rennen, die dunklen Gleise entlang. Mein Puls schlug schneller. Doch als ich zur Tür sah, hörte ich wieder Rufe von draußen. Sie griff nach meiner Hand. Ich spürte die groben Haare auf ihren Fingern und stieß sie von mir. In ihr geschminktes Gesicht rief ich: „Das sind ja Bärentatzen!“
Darauf wurde sie so laut, dass man es bis auf den Bahnsteig hören musste. „Was fällt dir ein?“ Empört warf sie ihre frisierten Locken zurück und spreizte ihre Hände. „Das sind keine Tatzen!“ An ihren fleischigen Fingern waren die Nägel sorgfältig lackiert. Ich versuchte sie zu beruhigen, aber sie wurde immer lauter. „Ich bin eine Dame, merk dir das! Ein Strolch wie du darf mich nicht beleidigen. Ich sag dir das offen, zwischen meinen Beinen hängt ein Schwanz. Aber weißt du, was mich trotzdem zu einer Dame macht? Ich stelle mich nicht breitbeinig vor eine Rinne. Ich setze mich sauber hin beim Pinkeln.“ Ihre Augen funkelten. Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen, aber zum ersten Mal seit langem fiel mir keine Antwort ein. Es war auch zu spät. Hinter mir hörte ich wieder Tritte auf der Treppe. Das waren schwere Stiefel der Volkspolizei.
„Ist er das?“
„Das werden wir schon rausfinden.“
Zwei Wachmänner griffen mich am Arm. Das ist ja immer der unangenehmste Moment und da stieß sie ein Schluchzen aus. „So einer bist du?“ Sie umschlang meine Hüften und gab mir einen Kuss. Dann wandte sie sich ab und ließ sich theatralisch auf den Stuhl fallen. „Führt in ab Jungs.“ Die Polizisten drängten mich die Treppe hinauf. Sie tauschten Blicke aus, als hinter uns ihre Stimme wieder zu singen begann.

Ich stieß meinen Zellennachbarn an, um eine Reaktion von ihm zu bekommen. Verwirrt blickte er auf eine Kakerlake, die sich an seine geleerte Schüssel herantastete. „Wie viel war die Uhr wert?“, fragte er schließlich.
„Mindestens Dreihundert.“
„Dreihundert!“
„Wahrscheinlich noch mehr. Aber die Uhr haben sie nicht bei mir gefunden.“ Ich machte eine gekonnte Pause. „Sie hat mich geküsst und dabei ihre Finger tief in meine Taschen geschoben.“ Der Andere richtete sich auf seiner Pritsche auf. Ich studierte sein Gesicht. Dann stieß ich ihn noch einmal an, damit er endlich eine Meinung über dieses Weib äußerte. Sie hatte eine teure Uhr von mir gestohlen. Aber das Hauptbeweisstück gegen mich hatte sie so verschwinden lassen. Aber den Kuss dabei hatte sie mir aufgezwungen.
 
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John Wein

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Hallo lietzensee,

Na wenn das kein überraschendes Finale war! Mich jedenfalls hat es überzeugt! Frage: kann man ein Heulen ausstoßen? Eher doch ein Schrei oder hob ein Kreischen an, so ja?
Zwei Wachmänner griffen mich am Arm. Das ist ja immer der unangenehmste Moment und da stieß sie ein Heulen aus. „So einer bist du?“ Sie umschlang meine Hüften und gab mir einen Kuss. Dann wandte sie sich ab und ließ sich theatralisch auf den Stuhl fallen. „Führt in ab Jungs.“ Die Polizisten drängten mich die Treppe hinauf. Sie tauschten Blicke aus, als hinter uns ihre Stimme wieder zu singen begann.

dies beiden Absätze würde ich breiter trennen w.g. verschiedener Zeit und Ort

Ich stieß meinen Zellennachbarn an, um eine Reaktion von ihm zu bekommen. Verwirrt blickte er auf eine Kakerlake, die sich an seine geleerte Schüssel herantastete. „Wie viel war die Uhr wert?“, fragte er schließlich.
Gruß John
 

lietzensee

Mitglied
Hallo John,
vielen Dank für Deine Antwort! Ich denke, ein Heulen kann man ausstoßen, nicht im Sinne von Weinen, aber im Sinne von Wolfsheulen. Dann ist wohl nicht eindeutig, was an der Stelle gemeint ist. Jaulen wäre eindeutiger, aber das ist mir zu negativ belegt. Kreischen wäre auch zu hysterisch für Roswitha. Da werd ich noch mal drüber nachdenken.
(Edit: Ich lasse sie jetzt schluchzen)

Um Rahmen- und Binnhandlung besser zu trennen, hab ich zwei Absätze eingefügt.

Es freut mich ganz besonders, dass dir der Schluss gefallen hat! Mit dem habe ich lange gekämpft. Besonders die letzten drei Sätze hatte ich etliche Male neu geschrieben.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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