lietzensee
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Rot auf Weiß
Nachts allein auf dem Bahnsteig, Mäuse rascheln im Gleisbett und Durchsagen knarren durch Lautsprecher: "Für die Gesundheit unserer Fahrgäste ..." Endlich kommt die U-Bahn. Ich trete durch die Tür und merke, dass etwas fehlt. Ich habe keine Maske auf, keine Ersatzmaske im Rucksack und auch keine zerknüllt vergessene Maske in der Hosentasche. Ich bin ungeschützt. Verdammt, aber der Wagon ist leer. Ich setzte mich auf eine Bank und die Bahn taucht ab in den Tunnel. Nur drei Stationen und wenn ich dann zügig laufe, bin ich noch vor zwei Uhr zu Hause.
Die nächste Station flimmert verlassen vor den Fenstern. Türen öffnen und schließen sich. Plötzlich steht vor mir eine Frau. Sie setzt sich auf die Bank direkt gegenüber und blickt mich über ihre weiße Maske hinweg an. Der Zug rattert. Mir wird unwohl unter ihrem Blick. "Hab die Maske vergessen", sage ich und es klingt merkwürdig laut in dem leeren Wagon.
"Macht doch nichts", antwortet sie und starrt mich weiter an. Mir bleibt nichts, als den Blick zu erwidern und ihre großen Augen schimmern im Kunstlicht. Diese Maske ist blütenweiß. Irgendwann aber fällt mir auf, dass das nicht ganz stimmt. Sie ist weiß und glänzt wie Seide. An ihrem unteren Rand aber hat sie einen kleinen, roten Fleck, der wächst, während ich auf ihn starre. Schließlich bildet sich ein Tropfen und fällt in den Schoß der Frau. Das ist Blut! Die Frau blutet und ein dünnes Rinnsal sickert unter ihrer Maske hervor. Sie aber scheint es nicht zu bemerken oder es stört sie nicht. Lächelt sie unter ihrer Maske? "Eigentlich ist es doch Quatsch", sagt sie, "wir zwei ganz allein im Abteil. Wär es da nicht netter, wenn ich die Maske auch ausziehe?" Tatsächlich, sie lächelt. Sie lächelt mich an und die Maske spannt sich über ihren Zähnen.
"Nein, es wäre nicht netter", antworte ich, lauter als gewollt. Was für eine unangenehme Frage. Meine Hände schwitzen. Der Zug hält und fährt wieder an - Noch eine Station. "Es tut mir leid", stoße ich hervor, "aber bitte behalten Sie ihre Maske auf."
"Hab dich doch nicht so, das ist nur ein bisschen Blut." Die Frau beugt sich vor. Grazil wischt sie mit dem Finger ein rotes Tröpfchen von ihrem Kinn und mein Körper presst sich ins Polster. Die Maske der Frau bauscht sich, als ihre Zunge von innen dagegen drückt.
Ich schließe die Augen, zähle meinen Puls und wünsche, endlich aussteigen zu können. Aber immer wieder verzähle ich mich. Trotz der Maske spüre ich ihren Atem auf meinem Gesicht.
"Scheiß doch auf ansteckende Krankheiten", flüstert sie. Sie greift meine Hand. "Deine Station hast du eh gerade verpasst." Darauf sehe ich in ihre großen Augen. Sie hat recht. Ihre Hand zieht die weiße Maske vom Gesicht. Ich öffne meinen Mund, um diese wunderbar roten Lippen zu küssen.
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