Rotes Neonlicht

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Kalinina

Mitglied
Du weißt nicht, wann du das letzte Mal so wütend warst. So müde, so genervt, so unglaublich von der Welt angekotzt. Niemand versteht dich, schon lange nicht mehr. Alle reden nur noch Unsinn. Jeder fühlt sich erleuchtet und so unfassbar geil. Das Leben ist eine einzige Party, auf der sich jeder hart selbst feiert.

#gönnung.

Du kannst es nicht mehr hören. Du kannst sie nicht mehr hören. Diese Selbstverliebtheit. Diese Egomanie. Manchmal weißt du nicht, ob es an der Welt liegt - oder an dir selbst. Bist vielleicht du das Problem? Sind nicht deine ganzen Mitmenschen Dummschwätzer, sondern du? Wobei, du sagst ja nie was. Und jemand, der seinen Mund hält, kann auch keine Scheiße quatschen. Einfache Faustregel.

Besonders Ankes Neuer nervt dich. Redet den meisten Mist, macht aus jeder kleinen Nummer ein übertriebenes Spektakel und kennt jeden und alles. Er studiert Jura, was er auch jedem, der es wissen will, und vor allem auch jedem, der es nicht wissen will, mindestens dreimal am Abend brühwarm erzählt. Sein Studium ist ja ach so schwer. Nur die Besten der Besten und haste nicht gehört. Dabei hat der Typ nur ein paar lausige Stunden Uni am Tag und bekommt von Mama und Papa sein überteuertes WG-Zimmer bezahlt. Beste Lage, coole Mitbewohner. Ankes Neuer hat noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet, will dir aber ständig das Leben erklären. Nur er hat den Durchblick. Nur er kann dies, nur er kann das. Rhabarber-Rhabarber. Er trifft sich aus Prinzip nur mit Frauen, die im Berghain tanzen können. Sagt deiner Meinung nach schon alles. Der Kerl lebt in seiner eigenen Welt.

Aber so einer passt zu Anke. Nicht, dass du eifersüchtig bist. Klar, du hattest mal eine Weile was mit ihr, aber ey. Das Leben geht weiter. Sie wollte zu viel - du zu wenig. Außerdem ist Anke auch gar nicht mehr dein Typ. Sie war mal witzig und spontan, jetzt hat sie eine Instagram-Karriere am Start und braucht für das perfekte Foto mindestens neunzig Versuche. Außerdem ignoriert sie dich meistens, da sie viel zu sehr damit beschäftigt ist ihrem neuen Jura-Macker mit seiner blöden Hipster-Brille am Hals rumzulutschen. Mal ernsthaft, wie alt sind die? Zwölf? Scheinbar hat ihnen noch niemand gesagt, dass Knutschflecke ab Mitte zwanzig lächerlich sind.

Das ständige Geknutsche nervt dich, aber du sagst nichts. Du sagst nie was, denn Faustregeln sind nicht ohne Grund da. Wer nichts sagt, kann auch keinen Unsinn reden. Du nippst gelangweilt an deinem Bier, als wäre es irgendein sauteurer Cocktail auf einer öden Strandparty. Die Bar ist wie immer voll und laut und die Musik kaum zu hören, so viel belangloses BLA-BLA-BLA hängt in der Luft. Alle reden. Niemand hört zu.

Ankes Neuer ist müde. Endlich. Er verabschiedet sich dramatisch, weil er ja noch so viel für die Uni machen muss. Weil sein Studium ja ach so hart und würg und kotz ist. Du würdest diesem Kerl so verflucht gerne in seine neunmalkluge Fresse treten. Anke folgt ihrem Freund nach einem kurzen Tschüss in die Runde und lässt dich mit einem Haufen Menschen zurück, von denen du die meisten nicht kennst. Nicht wirklich. Der alte Kreis ist längst zerbrochen und anstatt der einst mal vertrauten Gesichter aus dem Kiez sitzen hier jetzt Erasmus-Studenten aus England, Frankreich und aus anderen Ecken der Welt. Die Franzosen reden meist Französisch und ignorieren alle, der Engländer ist ganz witzig und hat coole Kartentricks auf Lager. Niemand kennt den jeweils anderen, aber für ein paar coole Party-Fotos reicht es aus.

Du starrst in die fremden Gesichter der Studenten. Anke hat sie angeschleppt und als Freunde von der Uni vorgestellt. Natürlich. Seit Anke studiert und diesem neuen Jura-Macker den Hals ableckt, hat sie auch einen Haufen neuer Freunde. Coole Freunde. Nur du bist noch übrig vom alten Kern. Den Pappenheimer vom Kiez. Du und Wojciech, denn der Esel nennt sich stets zuerst.

Wojciech sitzt neben dir, wie jeden Abend belagert ihr zwei breitbeinig das Sofa. Manspreading in Bestform. Wojciech schweigt, genau wie du. Er hält die Klappe, nippt am Bier und lässt die Studenten über ihr ach so stressiges Leben jammern. Wobei es ihm wirklich am Arsch vorbeigeht. Er ist cool mit sich selbst. Mit der Welt im Einklang. Du bist eifersüchtig. So unfassbar eifersüchtig.

Du arbeitest sechs Tage die Woche, Einzelhandel. Wenn du nicht gerade von einem Kunden beleidigt oder angeschrien wirst, weil irgendein gekauftes Elektrogerät scheiße, kaputt oder der Kunde einfach nur blöd im Hirn ist, musst du müde lächeln und so tun, als würdest du nach zehn Stunden ohne Pause noch Bock haben. Du bist immer der Idiot. Du bist der, auf den Eltern mahnend zeigen und ihren Kindern eintrichtern, sich in der Schule bloß anzustrengen, weil sie sonst eines Tages so enden wie du. Niemand will im Verkauf arbeiten. Niemand will mehr in den Service. In die Pflege. Es gibt zu wenig Fachkräfte. Es fehlt an Bauarbeiter, Handwerker und Müllmänner. Es fehlt an allem, nur sicher nicht an Influencer.

Du findest es zum Kotzen. Du brennst innerlich vor Eifersucht. Schau dir doch bloß diese coolen Studenten an. Waren alle erst kürzlich für ein paar Monate in Indien und Südamerika. Haben dies und das erreicht. Die haben echt was auf dem Kasten. Und du? Du hattest schon früh keinen Bock mehr. Selbst Schuld. Ohne Abitur läuft heute nichts. Du bist der Versager der Runde. Du weißt ja nicht mal, wer du eigentlich bist.

Wojciech reicht dir sein halbvolles Bier. Du hast gar nicht gemerkt, dass dein eigenes bereits leer ist. Du hast an Luft genippt, wie ein echter Idiot. Im roten Neonlicht der Bar sieht Wojciech irgendwie anders aus. Kantiger. Dabei hat er ein rundes und nettes Gesicht. Er ist der ewig entspannte Kumpel. Dieser eine Freund, der irgendwie immer da ist, nie irgendwelches Drama veranstaltet und alles gelassen sieht. Dem man schon seit Jahren zwanzig Euro schuldet, aber nie was deswegen sagt. Wojciech ist die Ruhe in Person. Warm und vertraut. Die Stille, die du so dringend brauchst. Er hält dir immer noch sein Bier unter die Nase. Du winkst ab, stellst deine leere Flasche auf den Tisch und stehst auf.

«Muss mal pissen», brummst du niemand bestimmten zu und schlurfst zum Klo. Hinter dir brechen die Franzosen in Gelächter aus. Sogar das Gelächter klingt cool. Ein sichtlich besoffener Typ steht vor einem Urinal, zielt schlecht mit der einen Hand, mit der anderen wischt er Dating-Profile mal nach links, mal nach rechts. Willkommen im 21. Jahrhundert.

Du beziehst gut einen Meter weiter Aufstellung und pinkelst dir die Seele aus dem Leib. Zumindest fühlt es sich so an. Dabei starrst du leicht in Richtung Deckenbeleuchtung, die dich immer an die trüben Lichter eines UFOs erinnern und denkst über den Sinn und Unsinn des Lebens nach.

«Alter, alles klar?»

Du verziehst das Gesicht. Nicht, weil du etwas gegen Wojciech hast, nun wirklich nicht, sondern weil du es verabscheust, wenn dich irgendwer Alter nennt. Aber so wirkst du eben auf andere. Du bist der Kerl, den andere Alter nennen - oder Bro. Mit dir kann man was trinken gehen, danach noch etwas im Park abhängen und Frauen schlecht von der Seite anmachen. Du bist der raue Kumpel, der ordentlich austeilen kann. Du bist der, den alle akzeptieren, aber niemand so wirklich mag. Mit dir redet kein Mensch über Gefühle. Dich berührt niemand vorsichtig. Du bist der, der kumpelhaft geboxt wird. Der seinen Mann steht.

Aber scheiße, du stirbst fast, so viele Gefühle hast du in dir. So sehr sehnst du dich nach zarten Berührungen. Du spielst verzweifelt Tetris mit all der Wut, Eifersucht und Liebe und dennoch wird es langsam eng. Du hast sogar ein bisschen Angst. Ach was, ein bisschen? Du scheißt dich fast ein. Wojciech kommt langsam näher. Du hörst seine Schuhe. Das Rascheln seiner Kleidung.

«Was?», fragst du monoton. «Bist du neuerdings ein Spanner?»

Wojciech lacht.

«Rede keine Scheiße, Mann», sagt er. «Als gäbe es hier was zu sehen.»

Er grinst von einem Ohr zum anderen, wobei das Grinsen schlagartig stirbt, kaum sieht er deinen Gesichtsausdruck.

«Ich rede niemals Scheiße», sagst du. «Niemals.»

Wojciech schweigt. Er weiß, dass du niemals Scheiße redest. Er weiß auch, dass du weißt, dass er sehr wohl ein Spanner ist. Irgendwie, zumindest. Er folgt dir die letzte Zeit verflucht oft auf die Toilette. Sicher machen sich die coolen Studenten gerade über euch lustig. Die zwei Loser, die zusammen auf Toilette gehen. Aber Wojciech macht sich Sorgen um dich. Er ahnt, was mit dir los ist. Zumindest heute, in dieser verdammten Nacht.

Du hast schon länger das Gefühl, dass dir Wojciech folgt. Wie ein Schatten, der immer da ist. Immer neben dir sitzt. Du erkennst die Zeichen, denn du bist selbst ein Schatten. Nur, dass Wojciech dich im Auge behält, ohne dich wirklich wahrzunehmen. Du bewegst dich knapp unter seinem Radar.

«Ich mache mir Sorgen um dich, Berlin.»

Endlich. Dein Name. Kein Alter, kein Bro. Einfach nur dein Name. Klar, dein Name ist nicht sonderlich geil, denn mal ehrlich. Berlin? IN BERLIN? Das ist einfach zu viel des Guten. Berlin aus Berlin. Du bist ein wandelnder Lacher. Wobei, manchmal passt dein Name. Manchmal fühlst du dich wie diese verdammte Stadt. Alle erwarten Party und Skandale, aber unter all diesem Neonlicht bist du abgefeiert und grau.

«Lass uns ne’ Runde um den Block drehen», schlägt Wojciech vor. Er weiß, dass du immer dann pinkeln gehst, wenn dir alles zu viel wird. Wenn du Ruhe brauchst. Bewegung, um den Kopf frei zu bekommen.

Ihr verabschiedet euch nicht von den anderen. Wieso auch? Die Franzosen sind mit sich selbst beschäftigt und die anderen reden auf Englisch über Uni-Zeug, von dem du keine Ahnung hast. Draußen auf der Straße schweigt ihr. Eure Redseligkeit ist längst verflogen. Euer Bedürfnis nach Kommunikation ist in der Bar zurückgeblieben. Ihr geht im Gleichschritt, die Hände tief in die Taschen eurer Jacken vergraben.

Du kennst jede Straße und jedes Haus. Das hier ist immerhin dein Kiez, dein Revier, auch wenn sich vieles verändert hat. Dort drüben war früher einmal ein Waschsalon. Jetzt ist dort eine Shisha Bar, in der fast nur 17jährige Mädels mit geglätteten Haaren und falschen Fingernägeln abhängen, die ständig «Ich schwör, ey!» sagen und sich für den Hauptgewinn halten. Ein paar Meter weiter ist der Spätkaufladen vom alten Said, der seine ganzen Einnahmen in Glücksspiele steckt und nie irgendwas gewinnt.

Beim kleinen Polenladen an der Ecke herrscht Hochbetrieb. Nächtliche Anlieferung. Ein weißer Transporter steht halb auf dem Gehweg, halb auf der Straße und wird von zwei Männern in Lichtgeschwindigkeit ausgeladen. Wojciech nickt einem der Kerle zu, der ihm daraufhin etwas auf Polnisch zuruft. Wojciech lacht und zeigt dem Mann den Mittelfinger.

«Mein Cousin», erklärt er dir. Du nickst und tust so, als wäre das völlig klar. Dabei sehen die zwei sich überhaupt nicht ähnlich. Wojciech ist eher groß und breit, gemütlich veranlagt mit einem netten Gesicht, während der Mann beim Lieferwagen irgendwie giftig wirkt. Hager, flink und mit einer Nase, die Augen ausstechen kann. Aber was weißt du schon von Genetik? Dein Bruder sieht aus wie die Wiedergeburt von James Dean, während du die finstere Visage von deinem Alten hast. Du hast einen Gesichtsausdruck, der Bände spricht. Bei dir drehen sich Frauen besorgt um, wenn du zu lange hinter ihnen gehst.

Und du bist es Leid. So unfassbar Leid. Du bist müde und traurig und scheiße, verdammt, irgendwie depressiv. Alles fühlt sich nutzlos an. Unfertig. Du willst nichts mehr, als einfach mal zu heulen. Stundenlang. Dein Alter meint immer, du sollst dich zusammenreißen. Deinen Mann stehen. Aber du willst nicht deinen Mann stehen, sondern flennen wie ein Kleinkind. Du willst dich in deine Bettdecke einrollen, wie ein verdammter Burrito, und nie wieder irgendwas hören oder sehen. An Nächten wie diesen fühlst du dich zerbrechlich.

Ihr landet beim alten Park. Dort, wo einmal Bäume standen, stehen jetzt Baukräne. Hier soll ein Wohnhaus entstehen. Angeblich. Im Endeffekt werden es immer billige Motels, die keiner haben will. Diese Stadt braucht keine Motels. Ebenso wenig wie tausend neue Anwälte und abertausende Jura-Studenten, die einem das Leben erklären. Dieser Ort hier braucht Wohnungen. Bezahlbare. Faire Arbeit. Leute, die nicht liken, sondern mal ernsthaft nachdenken. Etwas verändern. Wenn man nämlich erst einmal damit anfängt, diese ganze Scheiße zu durchschauen, dieses makabere Trauerspiel namens Alltag, dann kann man fast nicht anders als sich wie Marko vor einen Zug zu schmeißen. Marko. Der war so einer, ein Rebell. Ein viel zu netter Typ, den die Welt gnadenlos überrollt hat.

Wojciech folgt schweigend deinem Blick. Mustert die Baukräne. Den aufgerissenen Boden. Was sie wohl mit den ganzen Bäumen gemacht haben? Sicher nicht umgepflanzt. So funktioniert diese Welt einfach nicht. Hier geht es um Kostensparen und Ego. Der Kiez, so wie du ihn kennst, ist eigentlich schon längst Geschichte. Genau wie die alte Clique. Vergessen ist die Zeit der ewigen Freundschaften. Einer ist schon tot, andere sind spurlos verschwunden - oder abgehauen. Weiß der Teufel, was Nastja und Ivo heute so treiben. Nach Markos Tod ging eh alles den Bach runter.

«Ankes Neuer nervt ziemlich, huh?» Wojciech grinst dich schief an. Ihr wisst beide, dass das hier nur ein schwacher Versuch ist. Eigentlich geht ihm Ankes Neuer komplett am Arsch vorbei. Im Gegensatz zu dir ist Wojciech nicht verbittert. Oder zornig.

Du schweigst.

Wojciech schließt sich dir an. Ihr seid beide einfach keine begabten Redner. Schweigen könnt ihr aber wie echte Profis. Kein Ton ist zu hören. Dafür sind deine Gedanken umso lauter. Sie brüllen und toben. Brennen sich von innen nach außen. Wojciech hängt seinen eigenen Gedanken nach. Er legt den Kopf in den Nacken und sucht nach Sternen, die nicht da sind. Der Himmel über euch ist schwarz und leer.

«Heute ist Markos Geburtstag», sagt Wojciech und schaut dich direkt an. Er weiß, dass du es weißt. Du denkst jedes Jahr daran und jedes Jahr bist du genau in dieser Nacht besonders unausstehlich. «Scheiße, er fehlt mir.»

Dir fehlt er auch. Dein Freund aus der Schule und dem Kiez, der einfach nicht mehr mit der Welt klar kam. Der auf Demos ging und die Welt verändern wollte, letztendlich aber scheiterte. Markos Worte waren in dieser Stadt voller sinnlosem Gerede unerhört und unverstanden untergegangen.

Du sagst immer noch nichts, als du die Baukräne anstarrst. Wojciech starrt mit dir, dicht neben dir stehend und die Klappe haltend. Vielleicht ist die Erwähnung von eurem toten Freund der Auslöser, vielleicht einfach nur deine Verzweiflung, aber im Endeffekt ist es auch egal. Es zählt nur, dass du Wojciech grob am Kragen seiner Jacke packst und deinen Mund auf seinen drückst. Es ist kein Kuss, nicht wirklich, eher ein wütender Versuch. Ein Versuch vor einem Trümmerfeld aus Erinnerungen und unfertiger Baugerüste. Wojciech drückt dich überrascht weg. Du versuchst es erneut, aber dieses Mal halten dich seine Hände auf, ehe dein Mund mit seinem kollidieren kann.

«Was?», fragst du aggressiv. Die Abweisung brennt, schmerzt und bringt das Feuer in dir zum Lodern. Du fühlst es dicht unter deiner Haut. «Ich dachte, du stehst auf Typen?»

Es ist kein Geheimnis, dass Wojciech Männer mag und verflucht nochmal, du bist einer. Egal, was dein Alter wegen deinen Weicheier-Gefühlen sagt. Wegen deinen Gedanken. Wegen deiner Angst vor diesem sonderbaren Leben. Aber du bist ganz eindeutig nicht die Art von Mann, die Wojciech bewusst wahrnimmt. Du siehst es in seinem Gesicht. In seinem runden, netten und völlig fassungslosen Gesicht. Er hat ganz eindeutig nicht mit so einem Scheiß gerechnet.

«Berlin.»

Mehr sagt er nicht. Einfach nur deinen beschissenen Namen. Du sagst überhaupt nichts, da du viel zu große Angst davor hast, hier und jetzt einen Haufen Unsinn von dir zu geben. Wojciech geht es scheinbar genauso, denn er starrt dich einfach nur an. Schließlich holt er tief Luft und klopft dir auf den Rücken. Wie ein Kumpel. Ganz unverfänglich und so, als hättest du ihm nicht gerade zweimal versucht die Zunge in den Hals zu stecken. Aber so ist Wojciech nun mal. Vergeben und vergessen. Kein böses Blut. Ziemlich sicher denkt er, dass du einfach nur besoffen bist. Neben der Spur. Immerhin hast du dich nie für Männer interessiert. Da waren immer nur Frauen gewesen. Frauen wie Anke, aber was spielt das überhaupt für eine Rolle? Mann. Frau. Nichts davon. Im Endeffekt ist es doch egal.

«Komm schon», sagt Wojciech und grinst schief. «Lass uns zurückgehen. Gleich fängt das Karaoke an.»

Du hasst Karaoke, nickst aber. Du willst noch nicht nach Hause und weißt sonst nicht wohin mit dir. Schweigend geht ihr zurück. Am zerstörten Park vorbei in Richtung Polenladen, wo der weiße Lieferwagen so gut wie komplett ausgeräumt ist. Erneut ruft Wojciechs Cousin ihm etwas auf Polnisch zu. Erneut bekommt er den Mittelfinger gezeigt. Beim Spätkaufladen geht gerade das Gitter runter.

Die Bar ist rappelvoll, aber euer alter Platz ist noch frei. Die Studenten sind immer noch da, wild auf Englisch am diskutieren und nicken euch kurz zu, als ihr euch wieder auf das Sofa fallen lasst. Breitbeinig, als wärt ihr nie weg gewesen. Als hättest du nie versucht deine Gefühle zu zeigen. Niemand hat euch vermisst.

Ihr seid nichts weiter als zwei Gesichter im roten Neonlicht.
 

lexor

Mitglied
WOW!

Diese Tiefe der Protagonisten, sehr überzeugend!

Ich hatte zeitweise das Gefühl, selbst Berlin zu sein, so gut wie seine Gedankenwelt und die Umgebung beschrieben war.

Ich werde diese Geschichte bestimmt noch einige Male lesen um heraus zu finden, was mich so umgehauen hat.

Danke für diese Geschichte!

Gruss
Lexor
 

wolf999

Mitglied
Durch die Perspektive „Du-Erzähler“ ziehst Du als Autor den Leser in die Geschichte. Gefällt mir.
Verdichte die Geschichte noch ein wenig. Zum Beispiel wenn Du so Sätze weglässt. „...auch wenn sich vieles verändert hat....“, denn aus dem Folgesatz geht hervor, dass sich vieles verändert hat.
Gruss
wolf999
 



 
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