Royston Red & Chucky's Cheescake

Dichter Nebel hing wie ein kalter Schleier über den Straßen der Großstadt. Es hätte ihn nicht einmal gebraucht. Nächten in Greyville mangelte es an Vielem, doch nicht an Schrecken. Sollte bei Tageslicht je so etwas wie freudiges Treiben in der Stadt vernommen worden sein, so nahm ihr die Nacht auch diesen Schein, und wischte alle Freude von ihrem Antlitz, wie alle Clowns es tun, nach dem Ende einer Show. Doch in Greyville wurde selbst die Nacht noch von der Finsternis verschluckt.
Das Leuchten der Sterne mochte sich seinen Weg durch die dunkelsten Orte unserer Galaxie bahnen, an einem Ort wie Greyville suchte man es vergebens. Was blieb, waren löchrige Straßen, eingeschnürt in ein dicht an dicht aus maroden, trist-grauen Wohnblöcken, verwahrlosten Geschäften und Gaststätten, deren zerbrochenen oder mit Holzbrettern vernagelten Fenster jedes Willkommen-Schild überflüssig machten.

Ja, trister Nebel schmeichelte dem Stadtbild Greyvilles durchaus, wusste er doch zumindest bei Nacht manche der übleren Stellen zu verschleiern. Nicht verschleiern ließen sich Korruption und Widerspruch. Sie wuchsen in Form von protzigen Wolkenkratzern im Zentrum der Stadt aus dem Boden, Wolkenkratzer, die sich selbst bei Nacht noch schwarz und unheilvoll aus ihrer verkommenen Nachbarschaft abhoben, und der Szenerie bis weit in den dunklen Nachthimmel zu entfliehen versuchten.
Sie waren Denkmäler einer Weltordnung, in der ein Mensch nur so viel wert ist, wie er besitzt. Greyville lebte seine Widersprüche wie keine andere Stadt. Hier malte man sich seine Welt in den grauesten Farben aus, denn man lebte zwar nicht gerne in Greyville, doch immerhin - man lebte.

Tief im schwarzen Herzen der Stadt ersuchten Straßenlaternen und Neonreklamen gerade surrenden Lichtes die Nacht zu durchdringen. Straßen zu beleuchten, durch die man sich nicht zu gehen getraute, war beinahe so kläglich, wie jenen Park zu errichten, dessen Schaukeln längst eingerostet waren, dessen Grün schon lange nicht mehr grün war, und in dem man niemals auch nur ein einziges Kind hatte spielen sehen.
Doch die Stadt Greyville war lediglich das Krankheitssymptom. Der schleimige Auswurf des übel wuchernden Lungenkrebses, der den Einwohnern die Luft zum Atmen nahm. Der Lungenkrebs in Greyville hörte auf den Namen Jim Blossom. Bürgermeister Jim Blossom, der einmal gesagt haben soll: „Von einem Kinderlachen kann ich mir nichts kaufen, von Geschäften mit Gangstern hingegen schon. Ihr solltet euch glücklich schätzen – ohne all die Kriminellen, hätte die Stadt überhaupt keinen Park.“.
Der Greyville Telegraph nannte ihn seither nur noch „Glücksbringer-Jim“. Es gab nicht wenige, die behaupteten, dass „glücklich“ das einzige Adjektiv wäre, welches Bürgermeister Vollidiot überhaupt kannte. Doch vertraute man in dieser Stadt schon seit jeher lieber auf die Waffe des Mordes, als die Stimme der Vernunft.

Und so blieb in Greyville stehts alles wie gehabt. Blossom war ohnehin nur die Kakerlake, die man zu Gesicht bekam, im Untergrund Greyvilles fleuchten noch weit schlimmere Kreaturen… Eine jener Kreaturen sollte uns in dieser Nacht begegnen. Denn in dieser Nacht, wie auch in jeder anderen Nacht, war das Neonschild über dem Eingang von „Chucky’s Cheescake“, einem Café in der Main Street, das hellste und bunteste Neonschild aller Geschäfte der Innenstadt.
Ein Stockwerk darüber beugte sich gerade eine junge Frau aus dem Fenster ihrer Wohnung, um gedankenverloren Zigarettenrauch in den pechschwarzen Nachthimmel zu hauchen. Ihr hageres, bleiches Gesicht wirkte sorgenvoll, ihre Augen übernächtigt, ihr kurzes blondes Haar abgestumpft. Sie blickte flüchtig hinab auf die von Nebel durchzogene Straße vor ihrem Haus, sah aus dem Augenwinkel zwei Gestalten vor dem Café herumlungern, bevor sie ihren Zigarettenstummel wegschnippte, und sich wieder ins Innere der Wohnung zurückzog. Das Arbeitszimmer, in dem sie stand, war uralt und baufällig. Risse zogen sich die Wände entlang, und bis auf einen alten Schreibtisch mitsamt Holzstuhl sowie einem überfüllten altmodischen Bücherregal, stand es leer und wirkte trostlos.

Sie schritt gerade sichtlich nervös zum Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers, und fummelte fahrig in einer darauf abgestellten Reisetasche, als ein wohlriechender Duft vom offenen Fenster her zu ihr hinüberwehte - ein Hauch von Lavendel. Verdutzt blickte sie sich um - und hätte vor Schreck fast den kompletten Schreibtisch umgeworfen.

Dort, vor ihrem Fenster, hing ein Mann. Kopfüber, mit stechend roten Augen und einer wilden pinken Mähne, die der Wind bedächtig um seinen Kopf flattern ließ. Er war in einen karmesinroten Blazer samt Hemd gehüllt, hielt seine Arme verschränkt, und hatte das breiteste Grinsen aufgesetzt, das man jemals gesehen hatte. Die Frau schien unfähig sich zu rühren. „What’s your name, baby girl?“, kam eine sanfte, klare Stimme aus der Nacht zu ihr ins Haus geweht. Sie schluckte. „Ich…Officer Jane Grealish.“. „Shitty last words, if you ask me...“, kam es zurück, und ehe sie die blitzartige Bewegung seiner Hand auch nur hätte erahnen können, knallte bereits ein ohrenbetäubender Schuss durch die Nacht, und Officer Jane Grealish schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.

Der Mann schwang sich durchs offene Fenster, landete elegant auf beiden Füßen im Zimmer, und zupfte seinen Blazer zurecht. Royston Red hätte mit seinen makellosen, edlen Gesichtszügen, den leuchtenden Augen und seinen zerzausten pinken Haaren auf ungewöhnliche Weise attraktiv wirken können. Doch gab es da auch noch dieses Grinsen. Ein durchtriebenes, unnatürlich breites Grinsen, das sich über sein komplettes Gesicht zog, perfekte, mattschwarze Zähne offenbarte, und wirkte, als würde ihm der geballte Wahnsinn in seinem Inneren aus den Augen hervorquellen.
Red schloss das Fenster. „Wir wollen ja nicht, dass du dich erkältest, Mäuschen.“, sprach er mit dem gemeinsten aller Grinsen, und stieg über den leblosen Körper der Frau hinweg. Dann hielt er inne. Er schloss die Augen, atmete tief und langsam durch seine Nase ein, sodass sich seine Nüstern weit blähten, und es war, als würde er, irgendwo tief in seinem Kopf, einer wundervollen, sanften Melodie lauschen, denn er bewegte die schwere goldene Waffe in seiner Hand geschmeidig und rhythmisch durch die Luft, wie einen Taktstock, wie ein tief in sich versunkener Dirigent, der eins mit der Musik war.
Mit einem Mal zuckte das boshafte Grinsen zurück auf sein Gesicht. „Bingo!“, formte er lautlos mit seinen Lippen, und ging langsam und bedächtig auf die Tür zu, die Augen weiter geschlossen. Wieder hielt er inne. Sein Grinsen wurde breiter. Ohne die Augen zu öffnen, und mit einer weiteren blitzschnellen Bewegung, riss er plötzlich die Tür auf und – zwei weitere ohrenbetäubende Schüsse. Zwei weitere dumpfe Aufschläge.

Royston Red öffnete die Augen. Er fand sich in einem schmalen Flur wieder. Karge Wände, gefliester Boden. Eine einzelne Glühbirne hing von der Decke und spendete Licht, während ein wenig Putz - die Nachwirkung seiner Schüsse - seicht von der Decke auf ihn hinabrieselte, und seine Waffe noch immer in Richtung der zwei leblosen Körper zu seiner rechten zielte. Red musterte die beiden Männer in Uniform am Boden kurz, bevor auch schon ein Ausdruck grenzenloser, wahnhafter Glückseligkeit auf sein Gesicht tanzte. „How ironic!“, höhnte es durch den Flur, „Normalerweise verschließen Cops bei Gräueltaten in dieser Stadt die Augen.“, er salutierte spöttisch mit seiner Waffe an der Stirn vor den beiden Toten, blickte aus dem Augenwinkel kurz ans andere Ende des Flurs – und erstarrte inmitten der Bewegung.

Mit einem Mal wischte es sämtliche Freude aus seinem hochmütigen Gesicht, und da war nur noch blankes Entsetzen. Regungslos verharrte Red im Flur, die Waffe in seiner Hand begann zu zittern. Angst flutete jeden klaren Gedanken in seinem Kopf – wie konnte das sein?! Es konnte nicht sein. Er hatte alles gesehen; Officer Grealish, unbewaffnet im Arbeitszimmer, die Officer Sutterby und Langdon mit erhobenen Waffen im Flur. Nichts war so präzise wie das Gespür tief in seinem Kopf. Er brauchte keine Augen, brauchte keine Ohren, nur diese Eingebung, die ihm jedes Geheimnis offenbaren würde, jeden Millimeter des Weges kannte…immer. Royston Red hob langsam den Kopf, und wagte erneut einen Blick ans andere Ende des Flurs. Ein Augenpaar funkelte ihm aus dem Spalt in der Tür eines ramponierten alten Wandschrankes entgegen.

Das…konnte nicht…Reds Augenlider begannen unkontrolliert zu zucken, er schlug sich die schwere goldene Waffe mit aller Wucht gegen die Stirn. Wieder, und wieder, und wieder… Blut spritzte, lief ihm heiß übers Gesicht und auf seinen Blazer. Er atmete schwer, und blickte sich nun panisch im Flur um. Da waren weitere Zimmer, und sicher weitere Verstecke – und er stand hier, völlig schutzlos, wie auf einem Präsentierteller. Wer war noch hier? War es eine Falle? Mit Sicherheit. Doch…wieso war er dann noch am Leben? Er lauschte nun aufmerksam, ignorierte den stechenden Schmerz an seiner Stirn, ignorierte das stete Tröpfeln seines eigenen Blutes…

Das einzige Geräusch in der gesamten Wohnung, war ein leises Wimmern aus jenem Wandschrank im Flur. Nun war es Reds Finger am Abzug der Waffe, der unruhig zuckte. Drück den Abzug, dann gibt es kein Problem. Drück den Abzug, dann gibt kein Problem. Doch seine Neugierde überwog. Was hatte die Macht, sich vor seinem Gespür zu verbergen, doch war nicht fähig oder willens, aus einem bloßen Wandschrank zu steigen?

Sein Blick schweifte kurz über die beiden Officer am anderen Ende des Flurs, und eine leise Vorahnung beschlich ihn, als er dem Augenpaar im Schrank schließlich entgegentrat, und die Tür mit einem Mal aufstieß. Ein Junge im Teenageralter. An einen Stuhl gefesselt, und leise in den Knebel in seinem Mund weinend. Der Junge blickte mit angsterfüllten, verquollen roten Augen zu ihm empor. Red beäugte ihn geringschätzig.

Ein Junge? Wie kann das sein?! Er befreite ihn unsanft von seinen Fesseln. Der Junge, bleich und schmächtig, rieb sich seine geröteten Handgelenke, schluchzte, und starrte mit großen Augen zu diesem absonderlichen Mann auf, der seinem Blick nun mit einer Mischung aus Ehrfurcht und unverkennbarem Interesse begegnete. Der Junge deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die beiden Körper am anderen Ende des Flurs, erhob sich langsam und unsicher, ohne seinen Blick von Red abzuwenden, und begann mit brüchiger Stimme zu sprechen. „…m-mit geschlossenen Augen…w-wie konnten Sie…o-ohne zu sehen -“, er brach ab, und starrte weiter ungläubig in diese unnatürlich roten Augen, in dieses blutüberströmte, befremdliche Gesicht über ihm. Reds Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. „I guess everybody‘s got a little secret, Timmy.“.

Der Junge wischte sich sein tränennasses Gesicht an einem Ärmel ab. Das Schluchzen hatte sich gelegt, er atmete nun etwas ruhiger. „Warum… nennen Sie mich Timmy?“, fragte er, und starrte zu Red auf, als könne er seinen Blick nicht abwenden. „Merk dir eins, Timmy: Names ain’t worth shit around here.“, sein Kopf zuckte zu den beiden Polizisten. „…when not even your life matters.“, der Junge schluckte, nickte, und dann standen sich die beiden wieder stumm und mit gegenseitigem, unverblümtem Interesse gegenüber.
Der Junge, ängstlich und unsicher, Red argwöhnisch. Doch nun, im Schein des Flurlichts, zog eine weitere Begebenheit Reds Aufmerksamkeit auf sich. Ein winziges Detail. Von unermesslicher Bedeutung?
Seine blutverschmierte Stirn legte sich nachdenklich in Falten. „Was ist mit deinen Haaren, Junge?“, fragte er brüsk. Der Junge strich sie mit der Hand glatt, und blickte zu Boden. „Oh, das… ich färbe sie schwarz, damit mir niemand auf die Nerven geht. Für gewöhnlich sind sie blau.“. Und es war, als wäre Royston Reds Grinsen niemals fortgewesen. Er beugte sich langsam zu dem Jungen hinunter, und der Blick in seinen Augen war dabei so stechend, als würde der Wahnsinn nun tatsächlich jeden Moment daraus hervorbrechen.

„Timmy – we’re gonna have so much fun together. But first –“, und ohne Vorwarnung warf Red die Jacke seines Blazers von sich, und begann hektisch das Hemd darunter aufzuknöpfen. „…first, you’ve got to understand.“ - er riss sich sein Hemd vom Leib. Was der Junge sah, ließ ihn abrupt die Hände vors Gesicht schlagen. Er schreckte entsetzt zurück, und fiel unsanft auf den Stuhl im Wandschrank. „Look at me, Timmy. LOOK. AT. ME!“, donnerte Reds Stimme durch den beengten Flur. Langsam, und haltlos zitternd, ließ der Junge seine Hände sinken.

Royston Reds gesamter Oberkörper bestand aus verbranntem Fleisch, und war übersät mit tiefroten Narben. Es sah aus, als hätte man ihn zum Messerschleifen verwendet, und im Feuer aushärten lassen. Abgrundtiefer Hass zeichnete sein Gesicht, als seine Augen rot aufglühten, und er sich erneut über den Jungen beugte, mit der einen Hand nach seinem pinken Haar griff, und mit der anderen auf die beiden Polizisten deutete. „We’re alike, Timmy! I – AM - what they were about to do to you!“.
Der Junge schien nicht imstande zu sprechen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er krampfhaft zu Boden, blinzelte gegen neuerliche Tränen an, und war bemüht darum, Reds Anblick zu meiden.
Doch Red wandte sich mit einer plötzlichen Bewegung auch schon wieder von ihm ab, zog sich kurzerhand die blutverschmierte Jacke des Blazers über seinen nackten Oberkörper, zupfte sie zurecht, und der hasserfüllte Ausdruck in seinem Gesicht war von einem auf den anderen Moment wieder jenem bösartigen Grinsen gewichen. „Du siehst aus, als könntest du etwas zu essen vertragen. Steht ihr Kids denn noch auf Käsekuchen? Onkel Red kennt da zufällig den besten Laden der Stadt…“

Das Chucky’s Cheescake war in dieser Nacht gut gefüllt. Tagsüber hatte der Laden nie geöffnet, doch schienen sich die Bewohner Greyvilles daran nicht zu stören. Wohin man auch hörte, das Urteil blieb das gleiche: Bei Chucky’s Cheescake weiß man ein Dessert noch zu schätzen! Es war ein Café ganz im Stile der 80er Jahre, mit gepolsterten, altmodischen braunen Sitzbänken, einer schlichten Glasfassade, und dem unverkennbaren Geruch von aufgebrühtem Kaffee in der Luft. Ein Mann mit blutverschmiertem Gesicht, einer fleckig-roten Blazerjacke über dem zerfleischten nackten Oberkörper, und einer schweren goldenen Waffe in der Hand, betrat, begleitet von einem ängstlich dreinblickenden Teenager, gerade zur Hintertür den Laden.

Einige der Gäste blickten kurz desinteressiert in Richtung der Neuankömmlinge, doch das seichte Stimmgewirr legte sich fast umgehend wieder gleichmäßig über den Raum. Eine brünette Bedienung in honigfarbener Arbeitskleidung und weißer Schürze, trat forschen Schrittes auf Red und den Jungen zu. Freudestrahlend, und in zuckersüßem Tonfall, verkündete sie: „Willkommen bei Chucky’s Cheescake! Mein Name ist Clara, und ich bin für heute Nacht Ihre Bedienung.“, sie wies mit einladender Geste auf einen freien Tisch zu ihrer rechten. „Tisch 17 wäre frei. Darf ich den Herren denn bereits etwas bringen?“, Red warf seine Waffe arglos auf den zugewiesenen Tisch, und ließ sich bereits lässig auf eine der Sitzbänke fallen - während der Junge reihum, mit immer größer werdenden Augen, und zunehmend besorgterer Miene, durchs Café blickte. „Aber?!…jeder in diesem Café ist bewaffnet?!“.

Mit einem Mal schlug die Stimmung im Café um. Die seichten Gespräche kamen zum Erliegen, und Anspannung legte sich über die Szenerie, spürbar, wie der dichte kalte Nebel vor den Fenstern. Sämtliche Gäste funkelten nun bedrohlich in Richtung von Tisch 17. Einzig das Lächeln der Bedienung blieb unverändert freudig. Eine Gestalt, groß und breit wie ein Grizzly, gehüllt in einen Ledermantel samt schwarzem Zylinder und nicht minder schwarzem Halstuch, welches ihr Gesicht fast vollständig verbarg, erhob sich, und eine tiefe sonore Stimme, wie nicht von dieser Welt, erfüllte das Café mit einem Mal: „Gibt es ein Problem?“.

Red packte den Jungen, drückte ihn unsanft auf die Sitzbank vor ihm, erhob sich erneut, und wandte sich zu der Gestalt um. „Setz‘ dich, Dickerchen – hier ist alles in Ordnung.“. Die Gestalt musterte mit geneigtem Kopf, und äußerst argwöhnisch, Reds dabei erhobenen Mittelfinger, setzte sich nach kurzem Zögern jedoch wieder, und das Stimmgewirr erhob sich allmählich erneut, als wäre nichts gewesen.
Red bestellte zwei Käsekuchen, sah gerade zu, wie sich die Bedienung freudig und über beide Ohren strahlend davonmachte, bevor er den Jungen auch schon bedrohlich anfunkelte. „Listen, fuck face. Hier drin gibt es nur eine einzige Regel: Wenn du ein Anliegen hast, und das nicht irgendwo auf der Speisekarte steht, dann hast du kein Anliegen, verstanden?! In diesem Café geht es um Käsekuchen – AUSSCHLIEßLICH - um Käsekuchen. The second you have an issue with anyone in here, is the second there’ll be 18 different kinds of bullets bursting through your head – and mine will be the first one!“.

Der Junge blickte betreten drein. Er weinte nicht mehr, und wirkte ein wenig zuversichtlicher als noch oben in der Wohnung, doch schien ihm beim Gedanken an die Gäste in diesem Café äußerst unwohl zumute, denn er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, und glitt seine Sitzbank schließlich im Sitzen so tief wie möglich hinab, um möglichst von niemandem gesehen werden zu können. „Warum geht man überhaupt freiwillig in so ein Café? Ich wette, jeder hier in diesem Raum ist ein Mörder…“, flüsterte er, sichtlich angespannt.

Red grinste unheilvoll. „Haben Raubtiere denn kein Recht zu leben? Du gehst in den Zoo, um Löwen, Giftschlangen und Alligatoren zu sehen, auf Netflix, um Dokus
über Serienmörder zu schauen, aber, wenn wir dann in einem Café sitzen, hast du auf einmal ein Problem mit uns? Show some empathy, Timmy.“, sein Grinsen wurde noch eine Spur heimtückischer, ehe er sich auch schon gelangweilt mit einem Zahnstocher Essensreste aus den Zähnen puhlte. „Und außerdem hat dieses Café eine 5-Sterne-Bewertung auf Yelp. Ich bin mir sicher, das hat etwas zu bedeuten…“

Zwei weitere Gäste betraten das Café, und setzten sich an einen Tisch unweit von Red und dem Jungen. Die Bedienung begrüßte auch sie mit der allergrößten Freude, nahm ihre Bestellungen auf, und erschien auch schon bald darauf mit zwei großen Stücken Käsekuchen an Tisch 17. Der Junge aß, als hätte er seit Tagen nicht gegessen. Red musterte ihn interessiert. Wer ist dieser Junge? Wie kann es sein, dass er mein Gespür täuscht? Red war gerade drauf und dran, ihn darüber auszufragen – als explosionsartig mehrere Schüsse fielen und eine Scheibe hinter ihnen mit einem gewaltigen Knall zu Bruch ging.

Red hatte seine Waffe gezückt, noch ehe der erste Schuss verklungen war, doch drehte er sich nicht einmal um, um zu schauen, was passiert war - er richtete die Waffe auf den Jungen. Der hatte panisch aufgeschrien, und war von seiner Bank aufgesprungen. „Sit your ass back down and eat your cake!“, zischte Red. Der Junge war kreidebleich, doch er gehorchte. Er fuhr mit dem Essen fort, als wäre nichts gewesen, doch die Gabel in seiner Hand zitterte unaufhörlich. Sein starrer Blick sprach Bände. Red zeigte keinerlei Emotionen. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als der Tumult in seinem Rücken losgebrochen war, und fuhr nun eindringlich flüsternd an den Jungen gewandt fort „You haven’t seen anything. You haven’t heard anything - you’re eating cake.“.

Timmy musste verstehen. Noch ein Fehler, und nicht einmal Red würde ihm mehr helfen können. Und tot würde er ihm nichts nützen. Der Junge blickte nur, mit weit aufgerissenen Augen, und weiter am ganzen Körper zitternd, starr auf sein Stück Kuchen, während wenige Zentimeter neben ihm, untermalt von einem unangenehmen Schleifgeräusch, die Bedienung, mit dem lieblichsten aller Lächeln im Gesicht, die Leiche eines Mannes über den Boden zog, und damit in ein Hinterzimmer verschwand. Zurück blieben seine tiefrote Blutspur, die den Weg markierte, den sie ihn entlanggezogen hatte, ein glitzerndes Meer aus Scheibenbruchstücken, unweit des Tisches, an dem er gesessen war, und kalter Nebel, der durch den nun offenen Teil des Cafés aus der kalten Nacht ins Innere drang.

Über dem Café hing längst wieder das gewohnte, unaufgeregte Durcheinander aus seichten Unterhaltungen, während der Todesschütze an seinem Platz zunächst noch seinen Kaffee zu Ende trank, ehe er sich auf den Weg in Richtung Hinterausgang machte, und unter seiner Kapuze hervor eine Nachricht für Royston Red überbrachte: „Inspektor Clumsy hat den Fall auf Grönland angenommen.“. Der Unbekannte verließ das Café, während ein Lächeln Royston Reds Lippen umspielte. „Und so beginnt das Spiel von Neuem, Inspektor Clumsy.“, sprach er vor sich hin,
gerade als ihre Bedienung, mit dem herzlichsten aller Lächeln, aus dem Hinterzimmer zurück ins Café gewuselt kam, um eine neue Kanne Kaffee aufzukochen. Denn es war eine Nacht wie jede Nacht in Greyville, wo die Sterne niemals leuchten, und die Neonreklame über Chucky’s Cheescake, die hellste und bunteste aller Neonreklamen in der Main Street war. Aber vor allem, weil jeder lebende Mensch in Greyville bestätigen würde, dass die Leute bei Chucky’s Cheescake noch ganz besonders viel Wert auf ihren Käsekuchen legen.

Immer.
 

ahorn

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Ahorn
 



 
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