Rudolf Gingels Wechseljahre

Matula

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"Findest du nicht auch, dass er immer mehr wie ein Mastschwein ausschaut ?"
Schantl lachte: "Du übertreibst, aber er hat wirklich ziemlich zugenommen."
"Ich frag mich schon die ganze Zeit, woran das liegen könnte ...".
"An den Schokoriegeln !"
"An den - bitte was ?" Schorski tat als hörte er das Wort zum ersten Mal.
"An den Schokoriegeln," wiederholte Schantl, "das sind diese bunt verpackten, zirka zehn Zentimeter langen Süßigkeiten. Man kriegt sie im Supermarkt."
"Das ist doch nicht dein Ernst ! Seit wann weißt du das ?"
"Seit ein paar Tagen, ich habe Verpackungsreste in seinem Sakko gefunden ... ".
"...und sie ihm hoffentlich gleich unter die Nase gehalten," empörte sich Schorski.
"Aber nein, das wäre doch peinlich gewesen, außerdem hätte er wahrscheinlich alles abgestritten."
"Was sollte er abstreiten ? Schätzungsweise zehn Kilo mehr in den letzten zwei Jahren, sind doch ein eindeutiger Beweis !"
"Er sagt, das kommt vom Älterwerden, weil der Stoffwechsel langsamer wird, angeblich sagt das auch sein Arzt."
Schorski begann fassungslos an seinem Dreitagebart zu rupfen: "Gut, dann ist ein Gespräch mit der Frau Gemahlin fällig," "Schon geschehen ! Sie schwört, dass sie beide immer noch nach der Bauernfeind-Diät leben, von den Riegeln hat sie offenbar keine Ahnung. Wahrscheinlich isst er sie unterwegs oder im Büro."
"Und das hast du noch nie bemerkt ?!"
"Lukas, ich bitte dich, ich kann ihn doch nicht rund um die Uhr bewachen !"
Schorski vergrub sein Gesicht in den Händen: "Wie widerlich das ist," wimmerte er zwischen den Fingern, warum tut er sich das an ... verstehst du, warum er sich das antut ?"
Schantl zuckte die Achseln: "Was heißt schon 'antut' ? Ich vermute, das Zeug schmeckt ihm einfach. Es ist süß und fett, mit Haselnüssen, Kokos, Mandeln, Honig ...."
"Hör auf !" herrschte ihn Schorski an, "so etwas isst man, wenn man ein Kind und noch im Wachsen ist. Dass er sich nicht geniert, so etwas einzukaufen ... wenn ich mir vorstelle, ich müsste so etwas auf das Kassenförderband legen ... ich würde im Erdboden versinken."
"Wahrscheinlich hat er einen Lieferanten," meinte Schantl.
"Einen 'Dealer' müssest du sagen ! Finde heraus, wer es ist !"
" Lukas, auch wenn er Schokoriegel isst, ist er ein erwachsener Mann ..."
"Ja, das ist ja das Verrückte! Und dir scheint nicht klar zu sein, wie ernst die Lage ist. Unser feiner Herr Minister ist seit drei Jahren im Amt und kaum einer kennt ihn oder weiß, wofür er zuständig ist. Die Medien interessieren sich hauptsächlich für seine Frau ! In der Partei heißt es, dass er sich nicht gegen seine Sektionschefs durchsetzen kann !! Der Schratt hat ihn mit seiner Initiative für einen neuen Feiertag im Regen stehen lassen !!! Und auf die Frage, mit wem die 'Wienerin' am liebsten eine Nacht auf der Donauinsel verbringen würde, hatte er keine einzige Nennung !!!!"
Schorski zählte die Unzulänglichkeiten des Ministers an den Fingern seiner linken Hand ab und suchte nun nach einer fünften für den kleinen. "Und wann wird er sich endlich die Warze in seiner Nasenfalte wegmachen lassen !!!!!"
"Schrei nicht so ! Was fragst du mich ? Die fällt in deine Zuständigkeit ! Ich kann ihn doch nicht dauernd kritisieren !"
"Markus, wir haben in zehn Monaten Wahlen. Wenn er bis dahin nicht zehn Kilo abgespeckt hat und irgendwie durch irgendwas positiv in der Öffentlichkeit aufgefallen ist, ist er weg vom Fenster - und wir mit ihm. Ich weiß vom Moldaschl, dass der Schratt womöglich noch vor den Wahlen ausmustern will, und der Gingel steht ganz oben auf seiner Liste."
Schantl seufzte und schüttelte den Kopf: "Ich weiß wirklich nicht ... du überschätzt meinen Einfluss. Er ist in letzter Zeit ziemlich verschlossen. Ich vermute, es ist ihm egal, was nach den Wahlen mit ihm passiert. Er ist eben ein Quereinsteiger ...".
"Na und ? Auch Quereinsteiger sind Einsteiger und müssen sich an die Spielregeln halten. Du bist viel zu zimperlich mit ihm." - "Immer diese Vorwürfe ! Wo bleibt eigentlich deine Verantwortung. Du bist doch für seine Performance zuständig. Und viel hast du da nicht erreicht. Weißt du, was mir eine Freundin - die Ulla Hornwald, falls du dich noch an sie erinnern kannst - gesagt hat ? 'Der Gingel' hat sie gesagt, 'schaut bei den Interviews immer so aus, als ob er gerade etwas gestohlen hätte und hinter seinem Rücken versteckt' ...".
"Einen Schokoriegel vermutlich," murmelte Schorski erbittert.
"Und das ist verdammt scharf beobachtet, er wirkt immer irgendwie betreten, fast belämmert. Der Zuschauer muss den Eindruck haben, dass er etwas zu verbergen hat."
"Blühender Unsinn," widersprach Schorski," wir haben keinerlei Hinweise dafür, dass er als besonders unehrlich eingeschätzt wird. Dazu ist er einfach nicht bekannt genug. Außerdem darfst du mir glauben, dass ich alles Menschenmögliche getan habe, um ihn für die Kamera zu dressieren. Leider waren nur Teilerfolge möglich ...",
"Ja geh, und welche ?" fragte Schantl hämisch.
"Zum Beispiel schaut er die Leute jetzt nicht mehr über seine Brillenränder hinweg an, er fuchtelt nicht mehr mit den Händen - sollte sie allerdings auch nicht hinter dem Rücken verstecken - , aber er merkt sich das nicht. Er ist ein richtiges Muli, ein medialer Kaspar Hauser. Jetzt kommt dazu, dass er dauernd schwitzt, weil er so fett ist."
"Ja hast du ihn nicht auch darauf angesprochen ?"
"Selbstverständlich ! Und die Geschichte mit dem trägen Stoffwechsel hat er mir natürlich auch aufgetischt, aber mir kommt er nicht so leicht davon. Ich habe ihm einen Fitnesstrainer angedroht, und falls der nichts nützt, einen Stoffwechselexperten. Dass er sich mit Schokolade vergiftet, konnte ich natürlich nicht ahnen !" Schorski ließ sich tiefer in den Fauteuil sinken, legte den linken Fuß auf das rechte Knie und begann seinen flachen Bauch zu massieren.
Schantl betrachtete die kleinen roten Weintrauben an Schorskis Sockenbund.

"Schaut so aus, als ob wir mit unserem Latein am Ende wären. Man muss halt bedenken, dass er bald fünfundsechzig wird ...". "Das ist aber an sich noch keine Leistung," erwiderte Schorski und betrachtete seine polierten Fingernägel. "Für meinen Geschmack hält er sich ein bisschen viel auf sein Alter zugute, immer muss es als Ausrede herhalten. Warum lässt du dich davon so beindrucken ?"
"Tu ich ja nicht, aber mein alter Herr ist auch schon Ende fünfzig. Und wer weiß, wie wir in diesem Alter ...".
"Niemand hat ihn in sein Amt gezwungen. Wer die Spielregeln nicht versteht, soll Privatmann bleiben !"
"Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Partei keinen Nachwuchs hat. Vielleicht sollte man die Spielregeln ändern". Schantl holte sein Zigarettenetui aus der Brusttasche. "Darf ich ?"
"Ungern !"
"Also im Ernst, ich glaube nicht, dass wir ihm jetzt wegen ein paar Schokoriegeln Vorwürfe machen sollten. Er ist ja kein Banker, von dem man denkt, dass er sich die Wucherzinsen angefressen hat. Wir haben doch Beispiele aus der Politik, die zeigen, dass behäbige Männer als vertrauenswürdig und zuverlässig ...".
"Ja, aus dem politischen Präkambrium," fiel ihm Schorski ins Wort, "und ich habe auch nichts dagegen, dass es in den Reihen der Opposition solche Männer gibt. Wir aber stehen für Wandel und Fortschritt, für die dynamische Anpassung an eine sich rasch verändernde Welt. Als Mann des Wortes wirst du hoffentlich begreifen, dass solche Attribute nicht durch einen faulen Dicken verkörpert werden können !"
Schantl lachte: "Gut, dass du mich erinnerst. Ich will heuer beim Vienna Night Run mitmachen und muss mich noch anmelden."
"Dann sollte das aber deine letzte Zigarette gewesen sein. Es wundert mich nicht, dass du dem Gingel nicht beikommst. Du bist ja selber so ein Suchtmensch !"
"Dir ist hoffentlich klar, dass wir nicht das geringste ausrichten werden. Er ist nicht faul, aber eben schon älter."
"Und dieses Übergewicht macht ihn noch älter. Es reicht doch, dass er sich partout nicht die Haare färben lassen will. Ein Politiker kann schon älter sein, aber man sollte bei seinem Anblick nicht an Zahnersatz und Prostatabeschwerden denken ! Wieso begreifst du das eigentlich nicht ?"
"Weil ich mir denke, dass ein Wählerdurchschnittsalter von zirka fünfvierzig Jahren die Präferenzen verschoben hat," erwiderte Schantl bockig.
"Aber du irrst dich ! Weil selbst die Alten den Alten nicht über den Weg trauen. Sie wollen junge Volksvertreter, die noch nicht viel Vergangenheit haben. Die meisten glauben doch, dass sie vom Leben und von der Gesellschaft benachteiligt wurden, also wünschen sie sich einen jungen Rächer, einen Robin Hood, der sie entschädigt."
"Und das Buckelchen ?"
"Der Schratt ist der Kanzler und außerdem behindert, für den gelten andere Spielregeln ! Er ist der weise König Artus !" - Schantl seufzte, wie einer, der bereit ist, sich überzeugen zu lassen. "Okay, was also schlägt unser großer Guru vor ?"
Schorski streichelte wieder eine Weile seinen Bauch, dann entwickelte er Schantl seinen Plan: " Ganz einfach, wir sagen ihm, dass wir uns Sorgen um seine Gesundheit machen. Hilf ihm, wenn er sich das Sakko an- oder ausziehen will, binde ihm notfalls die Schnürsenkel zu und bück' dich sofort, wenn ihm etwas zu Boden fällt. Lass ihn deutlich spüren, dass du Mitleid mit ihm hast, weil er so alt und unförmig geworden ist."
"Dafür wird er mich hassen," gab Schantl zu bedenken.
"Das ja, aber es wird ihn auch ärgern und er wird dir beweisen wollen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Wenn du ein übriges tun willst, stell' dich zwischen ihn und die Piwonka, die ist Gift für ihn."
"Sie ist seit zwanzig Jahren seine Sekretärin ! Er hängt an ihr !"
"Ja, aber sie tut ihm nicht gut, verstehst du ? Sie arbeitet gegen uns. Mütterliche Sympathie für die vielen Nachlässigkeiten, die er sich leistet, ist das letzte, was wir brauchen können. Außerdem bestärkt sie ihn noch in seiner Widerspenstigkeit. Neulich hat er mir gesagt, dass sie der einzige Mensch ist, der ihn wirklich versteht. Das heißt aber nur, dass sie ihm nicht widerspricht und dass er sich bei ihr ausheulen kann. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihm dieses süße Zeug beschafft."
Schantl lachte und schüttelte den Kopf: "Also ich fürchte, gegen die Piwonka bin ich machtlos, aber wenn ich dich richtig verstanden habe, geht es darum, ihn wie ein impotentes Großväterchen zu behandeln."
"Exakt !" grinste Schorski. "Denn das können die älteren Herren auf den Tod nicht leiden. Von mir kommen die flankierenden Maßnahmen: Ratschläge für das Leben zu zweit, eine strengere Diät, ein check-up im Sporthotel 'Dingl', Weizenschrot statt Schokoriegel, Sex und Liegestütz ...".
"... Marathon und Kamasutra," ergänzte Schantl begeistert, "... und Bewegung, Bewegung, Bewegung ... Wäre doch gelacht, wenn wir ihn nicht mit vereinten Kräften wieder hochkriegen, nicht wahr !"

Es wurde noch ein sehr vergnüglicher Abend, an dem sie lustvoll die Details ihrer neuen Strategie in der Erziehung des Dr. Rudolf Gingel ausarbeiteten. Schantl kam es am Ende so vor, als ob nur noch Gingel selbst das Problem wäre. Er wusste aus Erfahrung, dass dieser Mann anderer Leute Pläne ohne weiteres über den Haufen werfen konnte, Er sollte recht behalten. Drei Wochen später saßen sie im "Johnny Be Good" und waren verzweifelt.
Sie hatten sich dort, wie schon öfter, in ein Séparée zurückgezogen, weil Schorski behauptete, dass ein Séparée der einzige Ort in Wien sei, an dem zwei Personen unbelauscht und ungestört wichtige Gespräche führen konnten. Das "Johnny Be Good" war eine Mischung aus Nachtclub und Diskothek und gehörte einem gemeinsamen Freund, einem gewissen Herbert Neusiedler, der sie durch die Hintertür herein- und wieder hinausließ. Seinen Namen trug das Etablissement nach einem Bediensteten der niederösterreichischen Raiffeisenlandesbank, den Neusiedler mit den Worten "Geh' Hansi, sei so gut !" immer wieder - und schließlich mit Erfolg - um die für die Einrichtung notwendigen Kredite angegangen war. Schantl fürchtete bei jedem Besuch eine Razzia und mochte sich die Schlagzeilen im Falle seiner und Schorskis Entdeckung gar nicht ausmalen. Andererseits war ihm aufgefallen, dass das schwüle Ambiente und vielleicht gerade der Kitzel einer möglichen Razzia, seinen Geist beflügelte. Nirgendwo sonst waren ihm schon so viele gute Ideen gekommen wie im "Johnny Be Good".

*****​

Während Schantl und Schorski einen Krisengipfel abhielten, saß das Objekt ihrer Verzweiflung an seinem ministerialen Schreibtisch, aus dem es eine rotseidene Briefschatulle mit Staatswappen hob und mit einem goldenen Schlüsselchen aufsperrte. In der Schatulle lagen, sorgfältig geschlichtet, die besten Schokoriegel, die die Süßwarenindustrie ersonnen hat. Ein zarter Duft von Vanille, Kokos und Karamell breitete sich schon beim Anheben des Deckels aus. Eigentlich sollte man sie in Holzkistchen mit Bauchbinde verkaufen, dachte Gingel und begann genussvoll einen "Mercury" auszuwickeln. Endlich allein ! Was für ein beschissener Tag ! Schon am Morgen war man über ihn hergefallen und bis vor wenigen Minuten hatte er nach allen Richtungen Erklärungen abgeben und sich rechtfertigen müssen. Die dümmsten Parteifreunde waren als Kritiker angetreten, kleine Beamte aus seinem Ministerium hatten ihm Ratschläge erteilt, und die Kollegen aus der Regierung wollten wissen, ob beziehungsweise wann er zurücktreten werde. Am Schlimmsten war aber, dass Schantl und Schorski, seine beiden Hyänen, ihm einen Krisenmanagementplan in Aussicht gestellt hatten, was nichts anderes als die lückenlose Überwachung seiner Person bedeutete. Wahrscheinlich steckten sie in diesem Moment schon irgendwo die Köpfe zusammen und berieten über seine vollständige Entmündigung. - Aber noch war er im Amt, noch saß er hinter seinem Schreibtisch, noch war er ihr Vorgesetzter. Jetzt galt es, nicht die Nerven zu verlieren, nicht zu Kreuze zu kriechen und das Vorgefallene gründlich und sachlich zu überdenken.

Was zum Beispiel hatte ihn bewogen, die Einladung zu dieser Fernsehdiskussion überhaupt anzunehmen ? Hatte er sich nicht schon zu Beginn seiner Amtszeit geschworen, solche Auftritte unter allen Umständen zu vermeiden ? Da saßen am Sonntagabend Herr und Frau Österreicher, die p.t. Bürger und Bürgerinnen, in ihren Jogginganzügen und Küchenschürzen vor den Fernsehgeräten und hatten nichts Besseres zu tun, als den Anzug des Herrn A, die Frisur der Frau B und die Ausdrucksweise des Herrn C zu benörgeln. Wenn sie sich einmischen und ihre unmaßgeblichen Ansichten zum Besten geben wollten, stellten sie die Bierflasche ab und griffen zum Handy. Wahrscheinlich war die Nummer schon eingespeichert. Nie ging es in diesen Diskussionen um Ergebnisse oder auch nur um den Versuch, die Grundbegriffe zu klären. Immer ging es um das Sehen und Gesehen-werden und um die wechselseitige Versicherung der eigenen Orientierungslosigkeit. Ein Thema wie "Brauchen wir mehr oder weniger Staat ?", das seit Jahrzehnten wieder und wieder und selbstverständlich ohne Ergebnis gewälzt wurde, sei bestens geeignet, ein paar Grundsatzerklärungen abzugeben, ohne irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen, weil Anarchisten zu solchen Diskussionen prinzipiell nicht eingeladen wurden. Schorski hatte ihm dringend geraten, diesmal über seinen Schatten zu springen und sich ein bisschen in der Öffentlichkeit zu profilieren. Fragte sich nur, warum er diesmal auf Schorski gehört hatte ? Eine unangenehme Antwort wollte aufsteigen. Er riss einen "Galaxy" auf und biss hinein. War es möglich, dass er sich tatsächlich profilieren wollte, dass es ihn kränkte, immer als Schlusslicht der Regierungsmannschaft angeführt zu werden ? Als farbloser Bürokrat, als Mann, von dem man zunächst einiges erwartet hatte, von dem man am Ende aber enttäuscht war ? Einer, der sich nur noch die Ministerpension verdienen, im übrigen aber mit dem Wählervolk nichts zu tun haben wollte ? Wie auch immer, erreicht hatte er das Gegenteil beziehungsweise etwas völlig anderes. Jetzt galt er als "Verbalrabauke", wie heute in einer Zeitung zu lesen war, und als solcher würde er den Österreichern wohl noch eine Weile in Erinnerung bleiben. Jetzt waren alle empört und machten ihm Vorwürfe: "Rudi, was um Himmels willen ist in dich gefahren !" - "Oje, Herr Minister, das war aber ein böser Ausrutscher !" - "Du warst mir gestern zum ersten Mal in meinem Leben peinlich, Darling !" - War es das, was er eigentlich gewollt hatte ? Gingel versuchte sich den Abend noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ein "Captain Bley" half ihm, seine Gedanken zu ordnen.

Da waren sie also in den weinroten Fauteuils gesessen: der Polizeipräsident, der Sicherheitssprecher der Grünen, der Erzbischof für griffige Presse-Zitate, ein Privatdetektiv von Adel, die unvermeidliche deutsche Emanze, ein sogenannter "Betroffener" und er. Als Moderatorin fungierte die Turban, eine Frau, bei deren Anblick ihm immer das Wort "Harpyie" einfiel. Genüsslich kauend überlegte er, aus welchen Teilen eine Harpyie zusammengesetzt war. Aus dem Kopf eines Vogels und dem Unterleib einer Frau ? Oder umgekehrt ? Egal, die Turban war jedenfalls eine Harpyie und gehörte zu der Sorten von Frauen, die er verabscheute. Allein, wie ein Mensch sich solche Fingernägel wachsen lassen konnte ! Wahrscheinlich riss sie ihren Liebhabern damit den Rücken auf und zog ihnen mit der anderen Hand das Portemonnaie aus der Hosentasche. Gingel versuchte sich die Details dieses Bildes vorzustellen und fühlte, dass er zu einer gründlich-sachlichen Analyse des Vorfalls noch nicht in der Lage war. In den ersten eineinhalb Stunden war alles glatt gegangen. Der Grüne laborierte an einer Kehlkopfentzündung, die er sich wahrscheinlich bei einer Obstruktionsrede im Parlament eingehandelt hatte. Es war ein leichtes, ihn auszuschalten. Der Bischof verlangte, dass sich der Staat aus Familie und Kindererziehung zurückziehe. Wahrscheinlich wollten er und seine Leute sich dort wieder einnisten. Alle nickten, nur die Deutsche nahm in ernst und widersprach heftig. Der Polizeipräsident leugnete standhaft die Existenz von Geheimakten über Personen des öffentlichen Lebens. Er überwache nur "böse Buben und böse Mädchen" zum Schutze der Österreicher und Österreicherinnen. Die Runde dankte es ihm, indem sie sich mit seiner Erklärung zufrieden gab. Soviel Eintracht war der Deutschen natürlich zuwider. Sie blätterte fortwährend in irgendwelchen Unterlagen, um mit der Zahl der illegalen Polizeiinterventionen in Deutschland Zweifel zu schüren. Der Polizeipräsident parierte mit einem besorgten Kopfschütteln. Wahrhaft schlimme Zustände, wenn zutraf, was sie erzählte, in Österreich aber aus diesen, jenen und anderen Gründen nicht denkbar. Der Grüne versuchte, der Deutschen beizustehen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor. - Alles hätte gutgehen können. Er selbst hatte sich ein kleines liberales Credo zurechtgelegt, weil Schantl ihm versichert hatte, dass er damit Zustimmung finden würde ("Nichts ist lächerlicher als ein Minister, der für mehr Staat plädiert."). Und tatsächlich hatte ihm niemand widersprochen. Natürlich war die Diskussion ein heilloses Durcheinander an Themen, die nur ein unreiner Geist wie die Turban unter einen Hut bringen konnte. Da ging es einerseits um die Gesetzesflut, die die Staatsbürger überrollt, andererseits um die polizeilichen Befugnisse, drittens um den Datenschutz und um die Macht der Behörden schlechthin, jedes ein Thema, zu dem in Vorbereitung einer ernsthaften Auseinandersetzung ein gründliches Studium der zeitgenössischen, vor allem aber der historischen Autoren vonnöten gewesen wäre. Irgendwann in der Diskussion begann er zu begreifen, dass wohl jede Generation die Illusion brauchte, am Zenit einer geistigen Entwicklung zu stehen und von dort aus die Probleme des menschlichen Zusammenlebens für immer zu lösen. Was die Toten darüber zu sagen hatten, war interessant, aber nicht maßgeblich, denn es war evident, dass sie versagt hatten und im übrigen nicht mehr zu den Betroffenen zählten. Er war versucht, der Runde seine Überlegungen mitzuteilen, unterließ es aber, weil die Turban nun den "Betroffenen" zu Wort kommen ließ und ihn bat, seine Erlebnisse zu schildern. Der "Betroffene" war ein vierundzwanzigjähriger Student, der von einem Rudel Sicherheitsbeamten in seiner Wohnung überfallen, zu einem Paket verschnürt und auf eine Wachstube verschleppt worden war. Eine Verkettung von unglücklichen Umständen hatte ihn in diese Lage gebracht, und er hatte sie offenbar so sehr genossen, dass ihm das erlösende Wort - "Ich heiße Peter, nicht Walter Mayr" - nicht und nicht eingefallen war. Der Polizeipräsident und er, Gingel, bedauerten heftig. Der "Betroffene", das Volk pars pro toto, hatte ja in jeder Diskussion den Vorteil, den größten Unsinn verzapfen zu dürfen, ohne dass jemand zu widersprechen wagte. "Hüten sie sich davor, mit dem 'Betroffenen' in Konflikt zu geraten !" hatte Schantl gewarnt. "Was immer er auspackt, zweifeln sie nicht an seinen Worten. Bedenken sie, dass man daheim vor den Fernsehgeräten schadenfroh über ihn lacht, aber wehe, wenn ein Mächtiger ihn nicht ernst nimmt. Da verstehen die Leute keinen Spaß !" - Der Privatdetektiv hatte weniger Skrupel, wie Adelige überhaupt, auch wenn sie einem bürgerlichen Beruf nachgingen, oft gewisse volkserzieherische Ambitionen an den Tag legten, was sie ihrer vermeintlichen Vorbildfunktion schuldig zu sein glauben. Er war der Einzige, der dem "Betroffenen" Verschlagenheit gegenüber den Sicherheitsbeamten vorwarf. Da aber die Runde in stiller Übereinkunft einen harmonischen Ausklang des Abends beschlossen hatte, wurde dieser Vorwurf vom Polizeipräsidenten selbst zurückgewiesen. - Alles hätte gutgehen können.

Die letzte halbe Stunde war den Fragen des Publikums gewidmet. Man erwartete "ganz viele" (die Turban) Anrufe und Emails. Allein die Fernsehzuschauer, etwa 180.000, zeigten sich an diesem Abend von ihrer trägen Seite. Es dauerte ziemlich lange, bis der erste Anruf durchgestellt werden konnte. Die Turban hatte sich in der Einschätzung des Publikumsinteresses gründlich geirrt und wurde nervös, weil die Diskussion unter ihren Gästen zur Überbrückung der Wartezeit nicht wieder in Gang kommen wollte. - Endlich der erste Anrufer ! Ein Zuschauer wollte vom Polizeipräsidenten noch einmal hören, dass es keine Dossiers über "Andersgläubige" gab. Ein anderer versuchte zu beweisen, dass die Überwachung mittels Radarfallen der Bundesverfassung widerspreche . Eine Jugendliche forderte strengere gesetzliche Bestimmungen für Erziehungsberechtigte, und eine ältere Dame behauptete, dass der Staat durch seine laschen Gesetze den Drogenmissbrauch fördere. - Offensichtlich war auch das Publikum verwirrt. Die Runde versuchte, die Fragen reihum zu beantworten und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Am Ende meldete sich noch ein Herr Horvath zu Wort. In einer umständlichen Einleitung stellte er klar, dass auch er keine Frage, sondern eine Beschwerde vorzutragen habe. Es sei nämlich ein unerträglicher Zustand, dass man in Österreich auf Schritt und Tritt überwacht und selbst innerhalb der eigenen vier Wände mit Kameras und Abhörgeräten belauscht beziehungsweise beobachtet werde. Er verbitte sich solche Nazi-Methoden und wünsche fortan unbelästigt zu bleiben. - Die Turban bedankte sich auch für diese Wortmeldung aufs artigste und ließ ihren Schlangenblick in der Runde kreisen. "Möchten sie vielleicht etwas dazu sagen, Herr Minister ?" Nie würde er ihr lauerndes Grinsen vergessen oder vergeben.

In einem ersten Impuls wollte er dem Verrückten die sofortige Einstellung jeglicher Überwachung zusichern, bis ihm einfiel, dass womöglich nicht alle Zuschauer begriffen, worum es sich handelte.
"Nun, ich nehme an, dass sie auf das Bild vom gläsernen Menschen anspielen wollen, von dem ja viel die Rede ist," hatte er ihm geantwortet. "Ich möchte aber festhalten, dass es in unserer Rechtsordnung eine, wie ich glaube, ausreichende Zahl von Schutzbestimmungen gibt, die einen Missbrauch ...".
"Das war aber, glaube ich, nicht das, was Herr Horvath gemeint hat," unterbrach ihn die Turban.
Er ignorierte ihren Einwurf und setzte fort, dass die Rechtsordnung eine Überwachung von Personen in ihren privaten Räumlichkeiten nicht vorsehe, und das Abhören von Telefongesprächen nur in Ausnahmefällen, nämlich bei Verdacht auf Vorliegen eines Kapitalverbrechens und mit richterlicher Anordnung, zulässig sei. Er räumte ein, dass viele Gesetze und Verordnungen in viele Lebensbereiche der Bürger eingriffen, und manche dieser Eingriffe womöglich überflüssig waren. Das Beobachten und Abhören von Privatpersonen gehöre aber nicht dazu, sondern sei weit eher ein Instrument der Programmmacher, um das Publikum mit billigen Fernsehsendungen abzuspeisen. Er erinnere an Wohnzimmerproduktionen, in denen man Bürgern und Bürgerinnen beim Kochen, beim Umtopfen, beim Kerzengießen oder bei der Herstellung von Lavendelsäckchen zusehen müsse. - An dieser Stelle hörte er die Turban leise schnauben, achtete aber nicht darauf, sondern sprach weiter. Erst als sie mit ihren Papieren zu rascheln begann, hielt er inne.
"Herr Minister," sagte sie bissig, "ich glaube nicht, dass man das Beobachten von Selbstdarstellern - und um solche handelt es sich in den angesprochenen Produktionen - mit der Überwachung eines ahnungslosen Staatsbürgers vergleichen kann !"
Er erwiderte, was freilich ein wenig boshaft war, dass der Anrufer keineswegs "ahnungslos" sei, weil er ja andernfalls nicht von seiner Überwachung hätte berichten können. Diesen Hinweis quittierte sie mit einer Zurechtweisung, indem sie ihm Zynismus (natürlich im Fremdwort vergriffen !) gegenüber einem österreichischen Staatsbürger und Steuerzahler (!) vorwarf. Er reagierte nun seinerseits gereizt und fragte, ob sie eigentlich verstanden hatte, worauf der Anrufer hinauswollte. Sie atmete tief durch, wie um ihren Ärger über seine Begriffsstutzigkeit zu unterdrücken, und setzte zu einer Erklärung an, in der sie jedes Wort, wie zu einem Kleinkind sprechend, betonte: Es gehe um das subjektive Empfinden des Einzelnen, der sich in diesem Staat überwacht und kontrolliert fühle, ohne sich vor solchen Übergriffen schützen zu können. Nicht aber gehe es um Fernsehunterhaltungssendungen, die immer mit dem Einverständnis der Gefilmten produziert würden.

Ihre belehrende Geringschätzung traf ihn unter der Gürtellinie und was er in der Folge zu ihr und leider auch zu rund zweihunderttausend Zuschauern und Zuschauerinnen gesagt hatte, war heute in allen Zeitungen nachzulesen gewesen.
"Also das war jetzt, wenn sie gestatten, eine ganz intellektfreie Antwort. Erstens ist 'empfinden' meines Wissens immer subjektiv, oder hatten sie schon einmal objektive Empfindungen ? Zweitens geht es nicht um 'den' Einzelnen, sondern um 'einen' Einzelnen, nämlich um den Herrn, der gerade angerufen hat. Versuchen sie also nicht aus einem Einzelfall den Generalfall zu konstruieren, noch dazu, wenn ihnen drittens klar sein muss, dass es sich dabei um einen Geistesgestörten handelt. Oder glauben sie am Ende wirklich, dass dieser Mann überwacht wird ?"
Nach diesen Worten sah sie ihn einen Moment lang fassungslos an, raffte dann ihre Unterlagen zusammen und sprang aus dem Fauteuil.
"Ich denke, das Fernsehpublikum und ich brauchen solche Beleidigungen nicht hinzunehmen, auch dann nicht, wenn sie aus dem Mund eines Mitglieds unserer Bundesregierung stammen ! Ich wünsche eine gute Nacht !" Und sie verließ mit eiligen Schritten das Studio.
Die Kamera verfiel in eine Art von Schockstarre, indem sie sekundenlang auf den leeren Fauteuil gerichtet blieb. Erst als Bewegung in die Runde kam, fuhr ihm eine andere Kamera direkt ins Gesicht. So konnte jeder sehen, dass er bestürzt war, aber jeder konnte auch die tiefe Genugtuung sehen, die noch in seinen Mundwinkeln lag. Diese letzte Einstellung erst, meinte Schorski, habe die "Volksseele zum Kochen" gebracht.
"Ihre rabulistischen Wortklaubereien hat kaum einer verstanden, aber dass ein Minister Gefallen daran findet, einen Verrückten zu beleidigen und eine kleine Fernsehmoderatorin zur Schnecke zu machen, das hat die Leute auf die Palme gebracht !"

Noch in derselben Nacht gingen hunderte Anrufe, Mails und sogar Faxe in der Fernsehanstalt, in seinem Büro und in der Parteizentrale ein. Auf allen Kanälen wurde sein Rücktritt gefordert. Die Zeitungen nannten ihn einen Verbalrabauken, und im Mittagsjournal wurde die Frage erörtert, welchen strafbaren Tatbestand er mit seinen Aussagen gesetzt hatte. Besonders erbost zeigten sich die Betreuungsvereine für psychisch Kranke. Schon am Vormittag veranstalteten sie eine gemeinsame Kundgebung vor seinem Amtshaus, indem sie mit Plakaten aufmarschierten ("Herr Minister, die Geistesgestörten grüßen Sie !") und "Wir alle heißen Horvath" skandierten. Für morgen Mittag hatte sich der Betriebsrat der Fernsehanstalt angesagt, und für den Nachmittag die Vertreterin einer Initiative "Frauen gegen verbale Gewalt". Schon morgen wollte der Kanzler ein Vier-Augengespräch mit ihm, in dem es um die weitere Vorgangsweise in dieser "unglaublichen Entgleisung" gehen sollte.
Gingel seufzte und kaute lustlos an einem neuen "Captain Bley". Er fühlte sich plötzlich sehr krank und elend und wünschte sich nichts mehr, als nach Hause zu fahren und seinen Kopf in Helgas Schoß zu legen. Leider war daran nicht zu denken, weil sie es nicht ausstehen konnte, wenn er kindliche Bedürfnisse zeigte (angeblich war ihr auch sein Kopf zu schwer). Außerdem würde sie ihn heute wohl mit einer säuerlich-mitleidigen Miene empfangen und wissen wollen, ob er zurücktreten müsse. Bekümmert sammelte er die leeren Schokoriegelhüllen ein und stopfte sie in seine Rocktasche. Dann rief er seinen Chauffeur an und bat ihn, mit ihm noch auf die Höhenstraße zu fahren. Für Frau Piwonka hinterließ er einen Zettel mit der Zahl "5".

"Wissen sie, Alfons, es gibt keine Solidarität unter den Männern," sagte Gingel und blickte hinunter auf die hell erleuchtete Stadt. "Jeder freut sich insgeheim, wenn man einer solchen Harpyie einmal das Maul stopft, aber keiner würde es zugeben. Wenn wir das nicht bald ändern, werden sie uns mit ihren Fingernägeln aufschlitzen, uns ausweiden und sich unsere Häute überstülpen, wie die Schamanen das Rentierfell."
"Was ist eine Harpyie ?" fragte Alfons und gähnte.

*****​

Schantl und Schorski saßen diesmal in einem Séparée, das "Arabische Nächte" genannt wurde. Herbert Neusiedler hatte einen Fernseher und einen Videorecorder organisiert, weil Schantl, in manchen Dingen altmodisch, die Sonntagsabenddiskussion, in der sein Chef so schrecklich aus der Rolle gefallen war, auf Videocassette gespeichert hatte. Neusiedler hätte selbstverständlich auch WLAN- Anschluss bieten können ("Kommen ja immer öfter junge Herren, die lieber in Ruhe 'World of Warcraft' spielen wollen.").
Vom Fußende des Bettes aus und versorgt mit drei Flaschen Chardonnay machten sie sich an die Arbeit. Es galt herauszufinden, wie es zu der Auseinandersetzung zwischen Gingel und der Moderatorin gekommen war, wer genau was gesagt und vor allem, wie er es gesagt hatte.
Nach eineinhalbstündiger Analyse unter Zuhilfenahme der technischen Möglichkeiten, den Ablauf des Geschehens anzuhalten, zu verzögern oder zu beschleunigen, stand ihnen das Ergebnis klar vor Augen.
Gingel hatte es von Anfang an auf eine Konfrontation mit der Turban angelegt. Schon zu Beginn der Diskussion konnte man beobachten, wie er sich immer ein wenig abwandte, wenn sie zu sprechen begann, konnte man hören, wie er ihr ins Wort fiel und ihre Fragen und Einwendungen ignorierte. Wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken, verzog er geringschätzig den Mund, wenn sie eine humorvolle Bemerkung einwarf, und es gab kaum eine Situation, in der er beim Sprechen Blickkontakt zu ihr herstellte. Diese Details waren natürlich niemandem aufgefallen, nur die Turban selbst schien die Ablehnung, die ihr von Gingels Seite entgegenschlug, zu spüren. Sie reagierte darauf, indem sie ihn betont höflich ansprach und peinlich genau darauf achtete, seine Wortmeldungen nicht zu überhören. Sie verkniff sich insistierende Nachfragen, griff aber andererseits keine seiner Äußerungen für den weiteren Gang der Diskussion auf. Wer das Ende kannte, konnte schon in der Mitte sehen, wie es sich vorbereitete.
Nachdem der Sachverhalt soweit geklärt war, wechselten Schantl und Schorski in die nachtblauen Fauteuils und öffnete die letzte Flasche. - Von der Wand lächelte eine Odaliske.

"Es schaut so aus, als ob er Probleme mit gewissen Frauen hätte," meinte Schantl und zündete sich eine Zigarette an.
Schorski lachte bitter: "Wer hat die nicht ?"
Sie schwiegen eine Weile und nippten an ihren Gläsern.
"Apropos, wie geht es der Ute ?"
"Keine Ahnung, sie ist seit zwei Monaten in L.A." -
"Und wie kommst du zurecht ?"
"Ich geh mit dir ins Séparée," antwortete Schorski sarkastisch.
"Nein, im Ernst, habt ihr euch getrennt ?"
"Halb und halb. Mach dir keine Sorgen, mir fehlt nichts. Denk lieber nach, wie wir den Mist, den unser Alter gebaut hat, wegräumen können,"
"Eva lässt mich zur Zeit am ausgestrecktem Arm verhungern ... dabei ist sie mir im Grunde genommen gleichgültig. Verstehst du das ?"
"Nein, aber es hört sich vielversprechend an. Können wir jetzt zur Sache kommen ?"
Schantl seufzte und griff wieder zum Glas: "Auf Eva und Ute, wo immer und auf wem immer sie jetzt sein mögen !"
Schorski, im Trinken standfester als Schantl stand auf und begann mit seinem Glas den Raum abzuschreiten. "Hör zu, wir haben verflixt wenig Zeit. Der Moldaschl hat mir gesagt, dass der Schratt in spätestens zwei Wochen entscheiden will, ob der Gingel geht oder bleibt. Bis dahin brauchen wir eine Lösung."
Die Erwähnung des Kanzlers ernüchterte Schantl ein wenig. "Ja und was sollen wir tun ? Sollen wir sagen, dass er einfach ein Problem mit gewissen Frauen hat ? Oder: tut uns leid, Leute, aber er ist eben in den Wechseljahren und wird schnell grantig ?!" "Beruhig' dich Markus, und hör jetzt mit dem Trinken auf. Wir brauchen einen vernünftigen Plan, ein ganz schlaues Ablenkungsmanöver, irgendetwas, was die Leute wieder versöhnt. Wichtig ist, das es rasch wirkt, und am besten wäre natürlich, wenn er am Ende als das Opfer dastünde, wenn du verstehst, was ich meine."
"Hat er eigentlich gewusst, dass die Turban moderieren wird ?"
"Nein, sie ist im letzten Moment für den Oberbichler eingesprungen und der war in unserer Vorbereitung kein Thema." "Irgendwie ist sie mir auch unsympathisch," bekannte Schantl, "sie ist scharf ... aber unsympathisch."
"Du verirrst dich schon wieder," mahnte Schorski, "bleib doch bei der Sache. Wir brauchen eine Schlagzeile wie: Minister-Faux Pas war Hilfeschrei ! Oder Gingel-Ausrutscher: darf niemand mehr das Fernsehen kritisieren ? Denk dir eine Story aus, die zu so einer Schlagzeile passt - und hör endlich mit dem Trinken auf !"
Schantl lachte: "Warum soll ich aufhören ? Glaubst du mir fällt mehr ein, wenn ich nüchtern bin ? Auf unseren Rudi ! Er lebe hoch, hoch, hoch !"
Schorski hielt in seiner Wanderung inne und betrachtete missmutig den alkoholisierten Kollegen. "Sag, was willst du eigentlich ? Willst du dich jetzt volllaufen lassen oder arbeiten ?"
"Ich will deine Socken sehen, " erwidere Schantl schelmisch. "Was trägst du heute ? Sind Artischocken an den Socken oder Aprikosen unter Hosen ?" Er begann lauthals über seinen Reim zu lachen und versuchte mit der Schuhspitze Schorskis Hosenbein zu lüpfen.
"Okay, genug für heute, ich ruf' jetzt den Herbert an." Schorski trat einen Schritt zurück und holt sein Handy aus der Brusttasche.
"Nein, nein, warte, ich habe da eine Idee ! Wir behaupten, dass der Gingel an einem Gehirntumor leidet. Was hältst du davon ?"
"Nichts, und würdest du jetzt bitte mit dem Trinken aufhören !" -
"Oder, dass er leider schon vor der Sendung nicht ganz nüchtern war. Dafür wird jeder Verständnis haben. Schau', da muss sogar die Haremsdame da an der Wand schmunzeln. Hast du gesehen, wie sie gezwinkert hat ? Die erinnert mich irgendwie an die Viktoria, das heißt ...". Schantl erhob sich schwankend aus dem Fauteuil und torkelte auf das Bild zu, " ... eigentlich nur die linke Brustwarze." Er tippte mit dem Finger dagegen, "die rechte kenn' ich nicht ...". Er betrachtete sie misstrauisch aus der Nähe: " ... nein, die hab ich mit Sicherheit noch nie gesehen !"

Schorski hatte inzwischen Herbert Neusiedler her- und wieder wegbestellt. Es war klar, dass man Schantl so nicht aus dem Lokal schaffen konnte. Er ließ sich wieder in den Fauteuil fallen und versuchte ein letztes Mal, den Freund zum Nachdenken zu bewegen.
"Dein Ansatz ist gar nicht so schlecht, ein Ausnahmezustand, der ihn entschuldigt, aber Alkohol geht unter keinen Umständen. Es muss etwas anderes sein, etwas, was die Leute nicht missbilligen müssen."
"Ich hab jetzt Kopfweh, ich will nach Hause," jammerte Schantl, "er soll sich morgen einfach bei allen entschuldigen und der Turban einen Scheck fürs Schizophrenen-Hilfswerk übergeben, basta !"
"Das geht nicht, dafür ist es zu spät. Wir stehen zu knapp vor den Wahlen. Das kann man machen, wenn noch genug Gras über die Sache wachsen kann. Jetzt kommt ein Schuldbekenntnis nicht mehr in Frage. Vor Jahren gab es einmal einen Minister, der vor Journalisten angeblich sehr abfällig über ausländische Ressortkollegen gesprochen hat. Der ist später sogar Kanzler geworden ... Der Unterschied ist, dass unser lieber Rudi die staatliche Fernsehanstalt, einen Geisteskranken und eine Moderatorin beleidigt hat ... ".
"Was macht eigentlich die Ute in L.A. ?"
"Ihren Bachelor of Arts," antwortete Schorski zerstreut.
"Und ihr Job ?"
"An den Nagel gehängt."
"Why so ?"
"Sie will lebenslang lernen."
"Ach so."
Schorski erhob sich wieder und setzte schweigend seine Wanderung fort.
"Sag, ist die Alexandra nicht auch in die Staaten gegangen ?"
Schorski nickte.
"Lustig, deine Ex sind alle in Amerika ! Da werden sie drüben bald eine Kolonie gründen können !"
Schantl begann wieder lauthals zu lachen, verschluckte sich dabei und wurde von einem Hustenreiz überwältigt.
"Bevor du erstickst, beantworte mir bitte noch eine Frage: welchen Eindruck hat er heute auf dich gemacht ? War er einsichtig oder verstockt ?"
Von Schantl kam keine Antwort. Er warf sich hustend hin und her, rang nach Atem, verspritzte Tränen und lachte dazwischen. Schorski betrachtete ihn ungerührt. "Markus, ich verspreche dir, wenn wir das ausgestanden haben, darfst du einen ganzen Abend lang über Eva reden. Aber jetzt reiß' dich bitte zusammen !" Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen, wobei kleine gelbe Äpfel am Saum seiner Socken sichtbar wurden, was bei Schantl einen neuen Lachanfall auslöste.
"Herrgott, du bist ja zu nichts zu gebrauchen !" schrie Schorski. "Ich fahr jetzt heim !"
Schantls Lachen verebbte ein wenig. "Ich will auch nach Hause ! Oder frag den Herbert, ob wir heute hier übernachten können."
"Bist du verrückt, ich brauch' meine Schlafbrille und mein Dormipax !"
Schantl versuchte über die Schlafbrille zu lachen, war aber schon zu müde dazu. Mit letzter Anstrengung richtete er sich in seinem Sessel auf und sagte: "Gut ... dann werden wir morgen sagen, dass der Gingel in Schei... Scheidung lebt. Er soll von daheim ausziehen, und wir organisieren die Presse ... berichte ... viel ... vielleicht hilft das."
Schorski hob langsam seinen schlanken langen Körper aus den Kissen, wobei ein breites Lächeln sein Gesicht erhellte. "Schanti, du kleines abgefeimtes Arschloch ! Komm an mein Herz und lass dich küssen."

*****​

Nach zwei Wochen saß Rudolf Gingel in einem geräumigen Innenstadtappartement mit Blick auf die Ruprechtskirche. Es war Sonntag Abend und seine Laune auf dem absoluten Nullpunkt. Zwar hatte er von Herrn Horvath eine sehr freundliche Antwort auf sein Entschuldigungsschreiben erhalten, mit der Zusicherung, dass er keine Ehrenbeleidigungsklage in Erwägung ziehe, weil er ja selbst wisse, dass er geistesgestört sei und auch immer dankbar, wenn das ein anderer, noch dazu ein Minister, so klar zur Sprache brachte. Eine freundliche Journalistin mit Psychologie-Studium hatte irgendwo geschrieben, dass die Moderatorin "eher ungeschickt agiert" hatte, und dass sie persönlich es vorziehe, wenn Laien von einer "Geistesstörung" sprachen, anstatt mit Fachvokabeln wie "psychotisch" oder "paranoid" um sich zu werfen.
Schon bald würden auch diverse Zeitschriften über lancierte Hinweise von seiner "Ehekrise" berichten und einen Zusammenhang zu seiner Entgleisung herstellen. Er und Helga würden für Interviews zur Verfügung stehen müssen. Es war schwer abzuschätzen, wieviel Medienecho man damit auslösen konnte, aber die Experten waren optimistisch, weil er ja erst vor wenigen Tagen in die Schlagzeilen gekommen war und weil Helga auf Grund ihres Aussehens und ihrer Art, sich zu kleiden, viel Beachtung fand. Trotzdem war das alles ein ganz unwürdiges Schauspiel, auf das er sich nur eingelassen hatte, weil ihn Partei und Kanzler so unter Druck gesetzt hatten.
"Du wirst diese Suppe auslöffeln, so oder so. Ich werde nicht dulden, dass du uns in Verruf bringst. Wenn du weitermachen willst, dann hör' auf deine Berater und lass dir erklären, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt. Du bist nicht mehr im Verhandlungssaal, wo solche Lustigkeiten vielleicht gut ankommen ! Und wenn diese Scheidungsgeschichte hilft, soll es mir recht sein. Am besten, du lässt dich tatsächlich scheiden, deine Frau ist ohnedies viel zu jung für dich."
Bei diesen Worten hatte ihn der Kanzler vom Scheitel bis zu den Schuhspitzen gemustert.
"Was ist das eigentlich für ein Bauch ? Ist der echt ?"
Er hatte sein Sakko über der Brust zusammengezogen und verschiedene Erklärungen angeboten, aber der alte Schratt wollte nichts davon wissen.
"Schau, es interessiert mich nicht, wie und warum es dazu kam. Mich interessiert nur, ob und bis wann du es wieder in Ordnung bringst. Seit wann hast du denn diesen Bauch ? Der ist mir noch gar nicht so aufgefallen ... ja, ja, talis hominibus oratio qualis vita. Der Mensch redet, wie er lebt, und du bis ein recht Zügelloser, wie mir scheint !"

Es war beschämend und lächerlich. Als er vor drei Jahren dem Ruf der Partei gefolgt war und den glücklosen Minister Katzbacher abgelöst hatte, waren ihm alle dankbar gewesen. Schratt hatte ihn intern als "Retter in der Not" bezeichnet und in der Öffentlichkeit als "originellen Querdenker". Heute, und dafür hatte eine geringfügige Unbedachtheit, ein kleiner Lapsus, genügt, musste er bei einer Schmierenkomödie mitmachen, die ihn und vor allem seine Frau in Verruf brachten. Helga hatte überraschend tapfer und einsichtig reagiert und war sogar damit einverstanden, dass man ihr, allerdings nur angedeutet, ein außereheliches Verhältnis unterstellen würde, um ihres Ehemannes Unbeherrschtheit zu erklären. Heftige Sehnsucht packte ihn. Er wollte ihr auf der Stelle sagen, wie sehr er sie vermisste, dass er sie noch heute Nacht sehen wollte und überhaupt nur ein Wort von ihr genügen würde, damit er diese ganze lächerliche Aktion sofort abbrach. Leider war sie telefonisch nicht zu erreichen.

Draußen vor der Ruprechtskirche standen ein paar junge Leute. Er konnte nicht hören, was sie sprachen, aber manchmal drang ein lautes Auflachen zu ihm herauf. Es waren drei Pärchen. Eines stand nebeneinander, die Hände in den Manteltaschen vergraben, weil es kalt geworden war. Das andere versuchte sich aneinander zu wärmen und das dritte, zu einem Menschen zu verschmelzen, indem der junge Mann das Mädchen Huckepack trug und stampfenden Schrittes die Gruppe umkreiste. Gingel schien es, als ob ihm hier die drei Stadien der Beziehung von Mann und Frau bildlich vor Augen geführt wurden. Er wandte sich vom Fenster ab und einem Buch zu, das auf einem Tischchen unter der Stehlampe lag. Es war "Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil. Er hatte sich vorgenommen, sein erzwungenes Single-Dasein für die Lektüre dieses umfangreichen Werkes zu nutzen. Später, dachte er, würde er sich immer, wenn davon die Rede war, an seine persönliche "Parallelaktion" erinnern.
Er wusste nur, dass es darin um das dreißigjährige Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II ging und um eine Parallelaktion zum siebzigjährigen von Kaiser Franz Josef. Da er sich nicht entschließen konnte, mit dem ersten Satz auf der ersten Seite zu beginnen, schlug er das Buch irgendwo auf und begann zu lesen:
"Ehebruch, diesen Gedanken hatte Diotima seit einiger Zeit gefaßt, Es ist ein unfruchtbarer Begriff, seine Pflicht dort zu tun, wohin man gestellt worden ist; man verausgabt Kraftsummen um nichts; die wahre Pflicht ist es, seinen Platz zu wählen und die Verhältnisse bewußt zu gestalten ! Wenn sie sich schon dazu verurteilte, an der Seite ihres Gatten auszuharren, so gab es doch ein unnützes und ein fruchtbares Unglück, und sie hatte die Pflicht, sich zu entscheiden."
Gingel schlug rasch eine andere Seite auf.
"Wenn Ulrich in ihrer Gegenwart von allgemeinen Dingen sprach, so mochte sie es nicht. Sie fühlte sich mit Recht bei allen ihren Fehltritten doch immer inmitten einer Menge ihr ähnlicher Menschen und hatte ein richtiges Empfinden für das Ungesellige, Übertriebene und Einsame seiner Art, sie mit Gedanken, statt mit Gefühlen zu bewirten."
Am Ende eines anderen Kapitels stand: "Er fühlte nur noch das Absurde, wirr sich Wiegende der menschlichen Ordnung und seiner selbst. 'Ich bin nun ganz allein in der Welt -' dachte er 'ein Ankertau ist zerrissen - ich steige auf !' In diese Erinnerung an den Eindruck, den er als erstes bei der Botschaft vom Tod seines Vaters empfangen hatte, kleidete sich jetzt wieder sein Gefühl, indes er zwischen den Menschenmauern weiterschritt."
Gingel schlug das Buch zu. Eingeschüchtert von den wenigen Leseproben, legte er es auf seinen Platz zurück. Schon lange war er nicht mehr mit einem solchen Text in Berührung gekommen, ja hatte fast vergessen, dass es solche Texte gab. Dass man so tief in der Beobachtung und Beschreibung von seelischen Verfasstheiten gehen konnte, dass man, wie es schien, ohne Moral oder Sentimentalität, aber auch ohne die Hilfsmittel aus dem Repertoire der Psychologie, die Gedanken eines Menschen so differenziert darstellen konnte, beeindruckte ihn. Offenbar handelte das Buch von den großen Themen, denen er auszuweichen gewohnt war, weil man von den großen Themen nur hin und wieder naschen sollte, wenn man sich nicht den Magen verderben will.

Wie konnte sich zum Beispiel ein erwachsener Mann, der seinen Vater verloren hat, als haltlos empfinden ? Doch nur, wenn er selbst ein schwacher Mensch war und den Vater beispielsweise zur Finanzierung seines Lebensunterhalts gebraucht hatte. Warum wurde die durch den Tod des Vaters befürchtete Veränderung als ein "Aufsteigen" beschrieben, und nicht eher als ein "Fallen" oder ein "Aufs-offene-Meer-hinaustreiben" ?
Gingel dachte an das Begräbnis seines eigenen Vaters vor fünf Jahren. Er, Helga, seine Mutter, zwei Schwestern des Vaters, ein Nachbar und seine Schwiegereltern waren anwesend. Es war ein strahlend schöner Frühlingstag, an dem die Vögel auf dem Friedhof um die Wette sangen. Er erinnerte sich an die Wut, die ihn bei dem unausgesetzten Zwitschern in der Baumkrone über dem Grab erfasste. Während seiner Ansprache musste er sogar die Stimme erheben, um sich gegen das Tirilieren durchzusetzen. Damals kam ihm der unsinnige Gedanke, bei der Friedhofsverwaltung eine Vogelbannmeile um jedes offene Grab einzufordern. Ein Gedanke, dem nur sein Schwiegervater etwas abgewinnen konnte. Im übrigen, wenn man von der Trauer und der Sorge um den Zustand der Witwe absah, hatte er zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, seine Verankerung verloren zu haben oder gar aufzusteigen, auch nicht in dem Sinne, dass nun eine Last von ihm abgefallen war. Wahrscheinlich, dachte er, wollte das Bild vom Fesselballon besagen, dass Eltern allein durch ihre Existenz an das Wesentliche erinnerten, an das Zeugen, Werden und Vergehen. Wer daran nicht erinnert werden wollte, weil er das Menschliche im Leben als Demütigung empfand, der konnte den Tod der Eltern als Befreiung erleben, sich in die Lüfte erheben und vergessen, wozu er auf der Welt war.

Gingel dachte nach langer Zeit wieder an seine Tochter, die im zwölften Lebensjahr durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Sie war auf dem Schulweg in ein Taxi gelaufen, "wie eine Selbstmörderin", hatte eine Augenzeugin berichtet. Er hielt das für eine Übertreibung, konnte sich aber einen letzten Zweifel nie ganz ausreden. Er und Christine, seine erste Frau, hatten damals im Zustand eines Kalten Krieges gelebt. Dem Kind zuliebe verzichtete man auf Streit und Scheidung. Er musste Tag für Tag mit ansehen, wie die Mutter das Kind mit unsinnigen Vorschriften traktierte, und wie es das Kind, im Rahmen seiner Möglichkeiten, der Mutter mit gleicher Münze heimzahlte. Aber er schwieg, weil im Austausch gegen sein Schweigen die diversen amourösen Engagements, die er sich immer wieder leistete, nicht zur Sprache kamen. Mit seinem Stillhalten wollte er das Kind schützen, das die rachsüchtige Mutter wohl bedenkenlos in einen Strudel von Gefühlen mitgerissen hätte.
Eine Szene kam ihm vor Augen, in der Mutter und Tochter einander schreiend gegenüberstanden. Es ging um einen schwarzen Schipullover, den das Mädchen trotz sommerlicher Temperaturen unbedingt anziehen wollte. Christine versuchte, ihn ihr zu entwinden, aber das Kind hatte seine Finger in das Gewebe verkrallt und schrie, als wollte man ihm die Haut vom Leibe ziehen. Bei seinem Erscheinen ließ die Mutter los und sagte: "Schau dir deine verrückte Tochter an ! Sag ihr, dass die vielen jungen Mädchen, die du kennst, um diese Jahreszeit keine Schipullover tragen."
Er verstand die Warnung, drehte sich um und ging. Zu seiner Rechtfertigung dachte er, dass man sich bei Müttern und Töchtern nicht einmischen sollte, denn einerseits waren sie aus demselben Holz geschnitzt und einander viel stärker verbunden als Mütter und Söhne, und andererseits war es bei Gott nicht die Aufgabe eines Vaters, Schiedsrichter in Bekleidungsfragen zu spielen. Er ließ die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen und spürte plötzlich ein Würgen im Hals. Hatten sie das Kind in diesem Pullover begraben ? Oder trug es ein anderes, ähnlich dunkles Kleidungsstück ? Er versuchte sich zu erinnern und starrte in die finstere Tiefe des fremden Zimmers. Das Erinnern ging von den Gedärmen aus und kam stoßweise wie ein unkontrollierter Schluckauf, wie ein peristaltisches Erdbeben. Während er noch verwundert auf seinen zuckenden Bauch blickte, öffnete sich sein Mund und entließ einen langen qualvollen Laut. Dann erst stürzten ihm die Tränen in die Augen.
Am nächsten Morgen räumte er den Musil weg. Er fand es passender, endlich einmal Max Webers "Schriften zur Sozialgeschichte und Politik" zu lesen.

*****​

"Sagen sie, Frau Piwonka, ist ihnen auch aufgefallen, dass unser Chef wieder zugenommen hat ?"
Schantl beugte sich von hinten über die Schulter der Angesprochenen, die gerade vor dem Computer saß und in Gingels Kalender nach einem Termin für ein Pressegespräch suchte. Sie erschrak ein wenig und errötete.
"Wie soll ich das wissen ? Bin ich seine Waage ?"
"Nein, aber sie haben Augen im Kopf, es geht nämlich nicht um eine nach Dekagramm messbare Verbreiterung, sondern um eine, die man mit freiem Auge mühelos erkennen kann. Können sie sich das erklären ?"
Er ließ sich mit der rechten Gesäßhälfte auf ihrem Schreibtisch nieder, um zu demonstrieren, dass er sich nicht mit einer kecken Antwort würde abwimmeln lassen.
"Was brauchen sie da eine Erklärung, bei dem, was er in letzter Zeit mitgemacht hat ? Zuerst diese Fernseh-Tussi, die ihm einen Skandal macht, dann die eigene Frau, die sich angeblich herumtreibt ...".
"Sie verwechseln die Reihenfolge, Frau Piwonka," korrigierte Schantl, "zuerst war die Sache mit seiner Frau und dann erst, als Folge davon, die Geschichte im Fernsehen."
"Ja, ja, so steht's in der Zeitung, aber glauben tu ich das nicht. Man hätte doch schon vorher von Eheproblemen gehört - oder ?" "Und sie meinen, er hätte ihnen davon erzählt ?" Sie errötete wieder. "Nein, aber ich hätte das sicher bemerkt."
"So, so, sie hätten das sicher bemerkt ...".
Schantl betrachtete sie nachdenklich und überlegte, ob sie für die von ihm und Schorski ausgeheckte Medien-Desinformationskampagne eine Gefahr darstellte.
"Sie kennen ihn wohl schon lange, stimmt's ?"
"Seit über zwanzig Jahren."
Er nickte anerkennend: "Dann haben sie ja schon als ganz junges Mädchen für ihn gearbeitet."
"Danke für die Rosen, Herr Magister, aber als junges Mädchen war ich in der Kanzlei Schlaggenberg, fast zehn Jahre." - "Schlaggenberg ... Schlaggenberg ... ein komischer Name."
"Ja, und auch ein furchtbar komischer Mann. Stellen sie sich vor, der hat seine Frau über ein Zeitungsinserat kennengelernt !" "Und sich damit als fortschrittlicher Mensch erwiesen, heute nutzt man das Internet, weil's Zeit und Kosten spart," gab Schantl zu bedenken.
"Ja, nur die Frau, die er gefunden hat, war mindestens doppelt so dick wie er. Und damit sie nur ja nicht abnimmt, hat er ihr immer Cremeschnitten und Malakoff-Torte heimgebracht !"
"Was sie nicht sagen ? Wo hat er denn die eingekauft ?"
"Die hab' ich besorgen müssen, in einer kleinen Konditorei in der Lerchenfelderstraße !"
Schantl hob die Brauen und lächelte grimmig.
"Da haben sie also immer schon ein Herz für Naschkatzen gehabt, nicht wahr ?"
Die Piwonka prallte zurück und ließ augenblicklich das Visier herunter: "Ja, für Naschkatzen, für herrenlose Hunde, für Unglücksraben und arme Schweine."
"Also ihre Tierliebe in Ehren, Frau Piwonka, aber man muss sich schon auch überlegen, ob man so einem Viecherl, einer Naschkatze zum Beispiel, etwas Gutes tut, wenn man es soviel füttert. Haben sie schon einmal darüber nachgedacht ?"
Die Piwonka legte den Kopf schief und tat, als würde sie das jetzt nachholen.
"Also, mein Mohrli weiß eigentlich selber ganz genau, wann er genug hat und wann er einen Nachschlag braucht. Da muss ich nicht viel nachdenken ...".
"Ja, der Mohrli weiß das, Frau Piwonka, aber andere Kater vielleicht nicht. Da muss man dann streng sein und nein sagen können, verstehen sie ?"
"Eigentlich nicht. Mir ist so ein Kater noch nie untergekommen ... Natürlich werden sie dicker, wenn sie kastriert sind, aber das kommt dann vom faulen Herumliegen, nicht weil sie mehr fressen als vorher. Die Kater werden ja sehr häuslich nach der Kastration ..."
"Sterilisation, Frau Piwonka, Sterilisation ! Aber wir haben eigentlich von Naschkatzen gesprochen," fiel ihr Schantl entnervt ins Wort.
"Ja, richtig, bei den Katzen, also bei den Weibchen, ist das anders. Bei denen verliert sich das Strawanzen-wollen nie ganz. Meine Tochter zum Beispiel hat eine vier Jahre alte Katze, ein graubraunes Tigerl aus dem Tierheim in Kritzendorf. Die hat sie schon in ihrem ersten Lebensjahr kastrieren lassen und erst letzte Woche läuft dieses kleine Biest ...".
"Frau Piwonka !! Ich stelle ihnen jetzt eine Frage: glauben sie, dass der Doktor Schlaggental ...".
"Schlaggenberg !"
"Okay, der Doktor Schlaggenberg also, seiner dicken Frau einen Gefallen getan hat, wenn er ihr Cremeschnitten und Torten mitgebracht hat ? Hätte er ihr nicht lieber Blumen ... oder, was weiß ich, ... ein interessantes Buch mitbringen sollen ?"
Die Piwonka tat, als würde sie Schantls Vorschlag aus der Sicht der Madame Schlaggenberg prüfen.
"Blumen ... ? Bücher ... ? Nein, das wäre unpassend gewesen. Sie haben die Frau Schlaggenberg natürlich nicht gekannt, aber wenn sie sie gekannt hätten - leider ist sie meines Wissens vor einem halben Jahr verstorben -, hätten sie ihr sicher keine Blumen oder Bücher mitgebracht. Sie war nämlich eine Feinkosthändlerin, bevor sie meinen Chef geheiratet hat, und sie können sich denken, was das heißt: um vier Uhr früh auf, um fünf Uhr am Großmarkt, um sieben im Geschäft, da war nicht viel Zeit für Bücher oder Blumen ...".
"Ja, ja, das kann ich mir vorstellen und ich kann mir auch denken, dass sich die Frau Schlaggenberg nicht direkt gegen die Torten gewehrt hat, nur hätte in diesem Fall ihr Mann, der noch dazu ein Akademiker war, so vernünftig sein müssen, der dicken Frau nicht noch mehr Schaden zuzufügen, indem er ...".
"Aber wieso denn 'vernünftig' ?" warf die Piwonka ein. "Das war keine Vernunftehe, auch wenn sich die beiden über ein Inserat kennengelernt haben. Eine echte Liebesheirat war das !"
"Ja, aber verstehen sie denn nicht ? Gerade deshalb hätte der Mann doch ganz besonders auf die Gesundheit und die Figur seiner Frau achten müssen !"
Schantl ging auf Abstand, um die Piwonka nicht versehentlich zu ohrfeigen.
"Nein, nein, das ist ein Missverständnis, Herr Magister. Der Doktor Schlaggenberg wollte nur eine dicke Frau. 'Dein BMI sollte keinesfalls unter 32 liegen' hat er in das Inserat geschrieben. Er hat es mir vorher gezeigt und gemeint, dass der Satz gleichzeitig ein Intelligenztest ist. Verstehen sie ?"
"Das ist ja pervers," hauchte Schantl und ließ sich kopfschüttelnd auf einem Rollschrank nieder.
Die Piwonka lachte: "De gustibus non disputandum est ! Das hab' ich mir aus dem Lateinunterricht meiner Tochter gemerkt, weil es so wahr ist."
"Aber es ist eben nicht wahr !" heulte Schantl. "Es geht nicht um den Geschmack, sondern um die Gesundheit und das Wohlbefinden ! Mit einem BMI von 32 kann man ja nicht mehr aufrecht gehen !"
"Da irren sie sich aber, Herr Magister, die Frau Schlaggenberg war unter anderem eine ausgezeichnete Tangotänzerin. - Natürlich gibt es beim Tango Figuren, die für sie weniger in Betracht gekommen wären, zum Beispiel, wenn die Dame Bauch an Bauch auf dem Herrn liegt, der sich so nach hinten biegen muss. Kennen sie die Figur ? Soll ich sie ihnen zeigen ?"
Schantl winkte ab.
"Also das wäre nicht möglich gewesen, weil sie den Herrn Doktor dann umgerissen hätte. Aber man muss ja nicht alle Figuren tanzen."
"Okay, ich gebe zu, dass es auch recht bewegliche Dicke gibt," räumte Schantl ein, "aber mit der Beweglichkeit ist es vorbei, sobald sie auf die Fünfzig zugehen. Dann kommt die Rache der Wirbelsäule, dann kommen die Gelenksbeschwerden, der Diabetes und die Gallensteine, die Blutverfettung und die Thrombosen. Woran ist denn die Frau Schlaggenberg gestorben ?" "An einem Herzinfarkt."
"Na bitte, da haben sie's !" triumphierte er. "Und der Herr Doktor wird sich jetzt jeden Tag die Frage stellen müssen, ob er seiner Frau mit den Cremeschnitten und den Torten tatsächlich etwas Gutes getan hat !"
Die Piwonka lächelte: "Das glaub' ich nicht. Der Doktor Schlaggenberg ist schon seit vier Jahren unter der Erde, obwohl er jünger war als seine Frau. Man kann sich's halt nicht aussuchen ... ".
Schantl begriff, dass ihr auf diese Weise nicht beizukommen war. Sie schien die Erhaltung der körperlichen Gesundheit ihres Chefs, wahrscheinlich auch der eigenen, nicht als moralische Verantwortung zu begreifen, sondern als eine Aufgabe des Schicksals, das in diesem Punkt eben versagen oder über die Jahre und die Ausschweifungen triumphieren konnte.
Dennoch wollte er das Schlachtfeld nicht verlassen, ohne einen Warnschuss abzugeben.
"Na, vielleicht haben sie recht, aber es gibt eben auch andere Aspekte als die gesundheitlichen, vor allem bei Leuten, die in der Öffentlichkeit stehen. Ob sie oder ich kugelrund sind, interessiert niemanden, aber ein Politiker zum Beispiel darf sich nicht gehen lassen. Nachdem sie lateinische Sprichwörter mögen, könnte man in diesem Fall sagen: Quod licet bovi, non licet Iovi, verstehen sie ?"
Sie nickt langsam und ihr Blick blieb prüfend in seinen Augen hängen: "Sie haben Angst um ihre Zukunft, stimmt's ? Was werden sie denn tun, wenn er gehen muss ?"
"Das lassen sie nur meine Sorge sein, Frau Piwonka," erwiderte Schantl gallig, "ich steige wahrscheinlich in die Schokoriegelindustrie ein ! Schönen Abend noch !" Er stand auf und verließ das Zimmer.
Sie sah auf die Uhr und stellte mit Schrecken fest, dass es schon viertel nach acht war.

*****​

"Du bringst mich um den Verstand !" keuchte Alfons und ließ sich auf den Rücken fallen.
Von diesem Moment an dauerte es immer exakt dreißig Sekunden, bis er sich eine Zigarette anzündete. Sie beobachtete ihn aus der Bauchlage mit aufgestütztem Oberkörper und mit der Frage auf der Zunge, in welchen seiner Schundromane er diesen Satz gelesen hatte. Ein anderer, den er früher öfter benutzt hatte, lautete: "Du bist vielleicht ein Weibsteufel, ein richtiger Weibsteufel bist du !" Im Vergleich dazu war das Um-den-Verstand-bringen fortschrittlicher, weniger biblisch, andererseits klang es aber doch recht hochtrabend für einen Chauffeur, der sich seine Stehzeiten, die anderen sozusagen, mit Zigaretten und Schundromanen vertrieb. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass der Mann am Ende eines horizontalen Infights irgendeine beschwichtigende oder anerkennende Formel finden musste, wahrscheinlich, um neben seiner Gegnerin gefahrlos einschlafen zu können. Die Piwonka verkniff sich also die Frage nach der Herkunft des Zitats und begann stattdessen seine Haare zu kraulen.
"Na, werd' ich dich schon nicht um viel gebracht haben, oder sind dir da oben ein paar Lichter aufgegangen ?"
Sie malte mit dem Finger kleine Kreise auf seine Stirn.
"Das kannst du laut sagen," antwortete er und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.
"Seit heute weiß ich nämlich, was da in Wahrheit mit dem Chef läuft. Willst du's auch wissen ?"
Sie lächelte geringschätzig: "Ja, erzähl."
"Aber es muss unter uns bleiben, verstanden ?" Sie nickte.
"Also ich glaub', dass der Gingel nach der Wahl der neue Medien- und Informationsminister wird."
Die Piwonka starrte ihn an, dann warf sie sich auf den Rücken und begann lauthals zu lachen. Sie wusste ja, dass ihr Alfi nicht der Klügste war, was von einem Mann der späten Jahre, von dem man weder Heim noch Herd noch Kind will, auch nicht erwartet wird, aber dass er auf einen derart dummen, allen Wahrscheinlichkeiten widersprechenden, Gedanken kommen konnte, überraschte sie doch.
"Geh Alfi, hast du jetzt wirklich den Verstand verloren ? Der Gingel ist so gut wie tot - politisch gesehen ! Der frisst doch nur noch das Gnadenbrot bis zur Wahl. Dann ist er weg vom Fenster !"
"Ja, das glaubst du, weil du dich hinters Licht führen lässt, so wie die anderen. Aber wenn man die Hintergründe kennt, die wirklichen nämlich, dann sieht man schon, wo's lang geht."
"Geh, was redest denn da ? Hast du denn nicht kapiert, dass er sich mit seinem Auftritt im Fernsehen für alle Zeiten unmöglich gemacht hat ? Und dass man jetzt einfach noch retten muss, was zu retten ist ? Die Scheidungsgeschichte mit seiner Alten ist doch nur ein Vorwand, damit man ihn noch bis zu den Wahlen mitschleppen kann !"
"Du meinst, das ist ein Vorwand ?" fragte Alfons und runzelte die Stirn.
"Na sicher, alles erstunken und erlogen, dass sich die zwei getrennt haben ! Die Helga ist gar nicht der Typ, der fremdgeht. Die braucht so einen Sugar Daddy wie ihn - und nicht so einen Faun wie dich, zum Beispiel."
"Aber ich hol' ihn doch jeden Tag aus seiner neuen Wohnung ab," gab Alfons zu bedenken.
Die Piwonka lachte: "Na und ? Gehst du vielleicht nachschauen, ob sie unterm Bett liegt oder im Schrank steht ? - Na eben ! Das haben der Schorski und der Schantl eingefädelt, damit der Rudi nicht ganz das Gesicht verliert. Die glauben, dass er bemitleidet wird, wenn seine Alte fremdgeht !"
Alfons blickte starr auf ihren Bauch, und sie wusste im Moment nicht, ob er nun seine neuen Erkenntnisse ordnete oder ein weiteres Mal um den Verstand gebracht werden wollte.
"Was ist, was grübelst du ?"
"Aber da war doch ein Foto in der Zeitung, in der 'Illustrierten', glaub ich, von ihr und ihrem Neuen ! Und vor ein paar Tagen ein Interview ... ".
"Na und ? So ein Foto sagt gar nichts. Man sieht ja nur einen Mann, der ein paar Plastiksackerl tragt, das könnte der Taxichauffeur gewesen sein oder ein Pfadfinder."
"Geh, ein Pfadfinder ! Seit wann tragen denn die den jungen Frauen die Einkaufssackerln !"
"Das war ein Witz, Alfi ! Und was das Interview angeht: da hat sie ja am Ende nur gesagt, dass sie gern ins Modegeschäft einsteigen und ein Jahr nach Paris gehen würde. Da lass ich mich stechen ...", sie tippte an ihre Halsschlagader "wenn die aus Wien weggeht, wo ihr alle nachrennen !"
"Was ich dann aber nicht versteh', ist, wieso sie ihn nicht gleich geschasst haben. Das wär doch besser für die Wahlen."
"Das kann ich dir schon erklären, Schatzi !" Sie rollte sich wieder auf den Bauch.
"Unser Rudi ist kein Parteisoldat, sondern ein Quereinsteiger. Und wer hat ihn ausgesucht, geholt und in den Himmel gelobt ? Na ?"
"Der Schratt ...," flüsterte Alfons und nickte begreifend.
"Eben ! Und ein Schratt kann sich nicht irren, verstehst du ? Einen, den der Schratt geholt und gelobt hat, den muss man bis zum Schluss halten, weil die Leute ja sonst denken könnten, dass er keine Menschenkenntnis hat und sich nur irgendwelche Freunderln in die Riege holt - schlimm genug, dass es mit den 'interessanten Ideen' auch nicht weit her war."
"Also die Idee mit dem neuen Staatsfeiertag hat mir schon gefallen," meinte Alfons, "und den 26. Oktober hätten wir ja als Nationalfeiertag beibehalten können."
"Ach geh, zwei Feiertage für so ein kleines Land ! Weißt du überhaupt, was wir am 8. September hätten feiern sollen ?" - "Unsere Befreiung von den Bayern, glaub ich."
"Geh Alfi !" Die Piwonka schüttelte den Kopf und seufzte. "Am 8. September 1156 ist Österreich ein Herzogtum geworden. Der Heinrich Jasomirgott hat dafür auf seine Ansprüche in Bayern verzichtet. Kennst du nicht das Denkmal vom Heinrich Jasomirgott vor der Schottenkirche ?"
"Nein, stehen ja überall schon so viele Denkmäler herum, dass man sich gar nicht mehr auskennt. Außerdem hab ich es nicht so mit der Geschichte," gestand Alfons.
"Aber einen neuen Feiertag willst du haben ! Und was war am 26. Oktober ?"
"Da hat der letzte Besatzungssoldat unser Land verlassen."
"Ja, schon möglich, aber wegen dem hätten wir keinen Feiertag angesetzt. Es geht um unsere Neutralität, Schatzi ! Am 26. Oktober 1955 hat der Nationalrat unsere immerwährende Neutralität beschlossen ! Verstehst du jetzt, warum ein neuer Staatsfeiertag, ein Konkurrenz-Staatsfeiertag, keine so gute Idee von unserem Rudi war ?"
"Ja, aber er hat ja gemeint, dass es mit der Neutralität seit unserem EU-Beitritt eh schon Essig ist, und außerdem hätten wir den Nationalfeiertag ja auch behalten können."
"Na, da hätte man in der Wirtschaft aber gemeutert und alle Hebel in Bewegung gesetzt ...".
Alfons zuckte die Achseln: "Von mir aus brauchen wir auch gar keinen Feiertag. Mir ist das egal, für mich macht das keinen Unterschied ...".
"Das würd' ich so nicht sagen," warf die Piwonka ein und tat sehr nachdenklich. "Ich finde, dass man sich auch an die Vergangenheit erinnern sollte, an seine historischen Wurzeln sozusagen, sonst lebt man ja wie ein Tier."
Er wandte ihr langsam sein Gesicht zu und grinste, während seine Hand unter die Decke glitt: "Das Tier steht zu ihren Diensten, Frau Gräfin !"
"Sei nicht so blöd, ich mein' das ernst."
"Wie Frau Gräfin befehlen. Es ist nur so, dass meine historischen Wurzeln unter meinem Bauch hängen, wovon sie zwar tief in die Geschichte reichen, ihre Säfte aber aus den Leibern von Schäfern und Keuschlerinnen, von Mägden und Lohnhandwerkern, von Fuhrleuten und Zugehweibern gesogen haben, von welchen keiner am Rad der Geschichte gedreht hat."
Sie lachte schnaubend durch die Nase. "Na und, wo hast du denn das gelesen ?"
"Im Ariernachweis von meinem Großvater." Er zündete sich eine neue Zigarette an: "Es ist zwar nur der kleine, aber es ist schon klar, dass ich keine Ahnengalerie hab' und nicht einmal ein Gutsbesitzer oder ein Großbauer unter meinen Vorfahren war. Was soll ich mich also für die Geschichte interessieren ? Wir waren nicht dabei."
"Also so einfach darf man sich's aber nicht machen," antwortete die Piwonka, "denn nur wenn man die Vergangenheit versteht, versteht man die Gegenwart, verstehst du ?"
"Geh komm, red' nicht so geschwollen daher. Zeig mir einen, der die Gegenwart versteht, zum Beispiel die Geschichte, die dem Gingel passiert ist. Ist doch alles Zufall ... dass der Verrückte beim Fernsehen angerufen hat ... dass die Turban die Freundin vom Generalintendanten ist ... dass der Chef die Beherrschung verloren hat."
"Sie ist die Freundin vom Homolka ?"
"Ja, gell, das hast du nicht gewusst. Und angeblich will der Schratt den Homolka schon die längste Zeit loswerden."
"Und was hat das mit dem Rudi zu tun ?"
"Keine Ahnung, aber ich denk mir halt, dass er, wenn er Medienminister wird, den Homolka ausschalten soll."
Die Piwonka schüttelte unwillig den Kopf und seufzte: "Das sind doch Hirngespinste, Alfi ! Du solltest dir über solche Sachen nicht den Kopf zerbrechen."
"Na wie du meinst." Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schwieg beleidigt. Sie betrachtete die weiche Haut seiner Innenarme und die blonden Nester in seinen Achselhöhlen und empfand ein wenig Reue.
"Schau, ich glaub' halt, dass wir zwei uns nicht soviel mit diesen Dingen beschäftigen sollten, schon gar nicht im Bett. Wenn der Rudi wieder in seine Kanzlei zurückmuss, werd' ich halt wieder mit den Klienten telefonieren statt mit dem Herrn Staatssekretär. Und du wirst einen anderen Minister herumkutschieren."
Er schwieg.
"Der Schantl scheint übrigens herausgekriegt zu haben, dass sich der Rudi nicht an seine Diät hält. Heute hat er mir einen Vortrag über die Schädlichkeit von Naschereien gehalten. So ein Trottel ! Der wird mir auch nicht abgehen, wenn wir wieder in unserer Kanzlei sind."
Alfons zündete sich eine neue Zigarette an und stieß mit teilnahmsloser Miene den Rauch aus der Nase.
"Was ist ? Bist du jetzt beleidigt ?"
Er zuckte sie Achseln: "Du weißt halt immer alles besser, und ich bin der, der gar nichts kapiert."
Die Piwonka nickte innerlich und spürte, dass es mit ihr und dem Alfi ein Ende haben würde, sobald sie nicht mehr für denselben Mann arbeiteten. Es war eine Dreiecksgeschichte, auf eine irgendwie undurchsichtige Weise. So, wie wenn Geschwister blutschänderisch den gemeinsamen Vater hintergehen. Und auch Alfons dachte, dass die Gerti Piwonka nicht die letzte Frau in seinem Leben sein würde, denn für später wünschte er sich eine liebe, sanfte, eine, die ihm die Leibschüssel brachte, falls er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Die Gerti Piwonka war eine Frau für gewisse Stunden, von denen er noch viele zu erleben hoffte, aber sie war eine ... Harpyie. Das Wort, das er erst jüngst von seinem Chef gehört hatte, fiel ihm ein, aber hatte schon wieder vergessen, was es bedeutete.

*****​

Während die Presse sich allmählich beruhigte, wurden die Gazetten lauter. Sie zeigten die Stationen des in Verschiss geratenen Dr. Gingel anhand von Archivbildern wovon es allerdings nur wenige gab, auf denen der Minister allein zu sehen war. Zu Beginn seiner Amtszeit strahlend neben der Gemahlin am Opernball und während eines Landaufenthalts. Ein Jahr später, etwas abgekämpft und lustlos neben derselbe Gemahlin auf derselben Veranstaltung, mit Knickerbocker und verschrammtem Lächeln auf einem Berg. Im dritten Jahr schien es fast, als versteckte er sich hinter der üppigen Garderobe seiner Frau. Man hätte ihn für ihren Bodyguard halten können. Das letzte Bild zeigte ihn quasi auf der Flucht: ein älterer dicker Herr, der sich den Schweiß von der Stirn wischt. Die neue Bildunterschrift dazu lautete: Einer, dem die Verantwortung sichtlich zu viel wurde.

Jeder und jede konnte sehen, dass im Leben dieses bedauerlichen Mannes irgendetwas vorgefallen war, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Wie zufällig fand sich auf der folgende Seite ein Interview mit Helga Gingel. Es zeigte die schöne Ministergattin bei Weihnachtseinkäufen in der Kärntner Straße, in einigem Abstand ein junger Mann, der sein Gesicht zu Seite wandte, wie um dem Kameraauge zu entgehen. Niemand hätte sagen können, ob er die Einkäuferin begleitete oder ein zufällig hinter ihr stehender Passant war. Sie freue sich schon wie ein Kind auf das Fest, sagte Helga, und das ganze Gerede um die Kommerzialisierung von Weihnachten könne ihr nicht die Freude daran verderben. Die Frage, ob sie auch schon ein Geschenk für ihren Gatten ausgesucht habe, beantwortete sie mit einem ausweichenden "Ja, aber darüber wird nichts verraten ...". Eine Woche später konnte man Frau Gingel auf einem Eislaufplatz sehen. Nur sehr aufmerksame Leser und Leserinnen hätten in dem jungen Mann, der im Hintergrund am Holzbretterzaun lehnte und nachdenklich den Schliff seiner Kufen betrachtete, den Weihnachtseinkaufsbegleiter aus der Vorwoche wiedererkannt. Und natürlich gab es solche in großer Zahl. Manche äußerten die Vermutung, Frau Gingel umgebe sich neuerdings mit gleichaltrigen und wohl umgänglicheren Männern als es ihr Ehemann war.

"Weißt du, wer der Typ ist ?" fragte Schantl.
"Keine Ahnung, er kommt von irgendeiner Agentur, glaub' ich."
"Und wird er dicht halten ?"
"Ja sicher, es heißt, dass sie viel Spaß miteinander haben."
"Oh, oh ! Das wird unseren Schokoriegel aber nicht freuen."
"Wer sollte es ihm erzählen, wenn nicht du ?" antwortete Schorski unwirsch.
Sie saßen diesmal im "Heart Core", einem der am besten gebuchten Séparées im "Johnny Be Good", und wollten die aktuelle Lage und weitere Vorgehensweise besprechen.
"Es muss jetzt ein bisschen Bewegung in die Sache kommen, sonst vergessen die Leute die Geschichte mit der Turban und sie wird erst wieder kurz vor den Wahlen aufgewärmt. Das darf nicht passieren, hörst du ?!"
"Was regst du dich auf ? Am Wochenende wird der Gino in der 'Society' schreiben, dass man die Gingel wahrscheinlich nicht am kommenden Opernball sehen wird, weil möglicherweise eine Scheidung bevorsteht."
"Ja - und ?"
"Was heißt 'ja - und' ?"
"Ja, Kruzi-Türken ! Bist du noch immer nicht weitergekommen ? Er muss sich jetzt endlich zu Wort melden ! Das haben wir doch schon letztens besprochen und du hast gesagt, dass du dich darum kümmern wirst. Er muss jetzt ein großes Interview geben, sagen, dass er seit Monaten leidet, leider nicht aus Holz ist, großer Kummer et cetera et cetera. Das solltest doch du ihm verklickern !"
Schantl lachte bitter: "Na glaubst du, dass das so leicht ist ? Er ist doch vernarrt in sie !"
"Mir kommen die Tränen ! In der Partei hat man immer noch alle Hände voll damit zu tun, seine Aussagen herunterzuspielen, aber Monsieur ist verliebt. Du glaubst nicht, wie viele Leute sich allein durch das Wort 'geistesgestört' beleidigt gefühlt haben !" -"Kann ich mir vorstellen, " antwortete Schantl und streckt seine langen Beine von sich, "das war ja schließlich eine nationale Bestandsaufnahme. In diesem Land sind alle irgendwie gestört, geistig oder seelisch. Schau dich um: da draußen vor der Tür hampeln und kreischen die Vierzigjährigen herum, als ob sie fünfzehn wären - während man die Fünfzehnjährigen als Alkoholleichen einsammeln muss."
"Also, was das Trinken angeht, mein Lieber, hast du keinen Grund, moralisch zu werden, und getanzt haben wir schließlich auch noch vor ein paar Jahren," erwiderte Schorski.
"Ja eben ! Und hab' ich gesagt, dass wir Ausnahmen sind ? Wir sollten schon Väter sein, statt hier herumzusitzen und die Ehe eines alten Mannes zu ruinieren."
"Ganz richtig, und darum wirst du jetzt ans Bett geschnallt und nach allen Regeln der Kunst verdroschen, du Versager !" Schorski hatte in einer verspiegelten Schublade eine schwarze Peitsche mit rotem Plastikgriff entdeckt und ließ sie bedrohlich durch die Luft sausen.
"Hast du eigentlich schon einmal ein Verhältnis zu einer verheirateten Frau gehabt ?" wollte Schantl wissen.
"Ja sicher, mit der Frau vom Nachbarn meiner Eltern."
"Und wie war das ? Wie lang hat es gedauert ?"
"Es war ein einmaliges Vorkommnis - und glaub' nicht, dass du mich schon wieder von der Arbeit ablenken kannst. Heute bin ich dein Sklaventreiber !"
"Leg' das blöde Ding weg und erzähl' !"
"Da gibt's nicht viel zu sagen: er war so ein Prolet, aber mit viel Geld ... und eines Tages war er verreist, und sie hat den Rasenmäher gekillt ... mein Vater wollte unbedingt, dass ich ihr helfe ... es war banal, komplett uninteressant."
"Hat ihr Mann es erfahren ?"
"Ich glaube nicht, aber manchmal erscheint er mir im Traum. Dann ist er mein Vorgesetzter und will mich entlassen."
"Womit wir beim Thema wären !" seufzte Schantl. "Der Rudi wird uns auch entlassen, wenn die Helga mit dem Agenturtypen durchbrennt ... und wenn du nicht sofort diese blöde Peitsche weglegst, fang ich laut zu schreien an."
"Tu's doch, wenn du dich traust ! Ich bin ziemlich wütend, weil nichts, nichts, nichts so lauft wie es soll !"
"Hat sich die Ute wieder gemeldet ?"
"Lass mich in Ruhe mit den privaten Geschichten ! Ich habe gestern mit einer gewissen Roswitha Lorbeer geredet. Sie ist eine von diesen Hand-auf-Herz-Journalistinnen und schreibt für die 'Bunte Allerlei'. Sie wäre bereit, das Interview zu machen, wartet aber natürlich auf eine Zusage von ihm. Aber du ...," Schorski ließ die Peitsche über Schantls Schuhspitzen sausen, "tust ja nicht, was man dir anschafft ! Immer kommst du mit Ausreden - Einwänden - Ablenkungen !"
Schantl erhob sich blitzartig, fing den nächsten Hieb ab und entriss Schorski die Peitsche.
"Setz dich, bevor ich dich damit erwürge ! Er wird dieses Interview wahrscheinlich nicht machen. Er will seine Frau und seine Kanzlei zurück. Wir sind sehr weit gegangen mit dieser Geschichte, und ich weiß, dass es meine Idee war, aber ich war besoffen und wollte ihn ein bisschen für seinen Ausrutscher büßen lassen. Jetzt ist es genug. Die Leute haben sich halbwegs beruhigt, die Turban wird noch ein Dutzend Diskussionen moderieren, dann ist sie weg vom Fenster, weil auch der Homolka gehen wird. Und bei den Wahlen wird die Partei starke Verluste einfahren, ob mit oder ohne Gingel. Bleiben wir zwei. Was werden wir tun ? Wir werden uns da und dort bewerben und in unsere Vita 'Ministersekretär' schreiben. Tempora mutantur et nos mutamur in illis ...".
"Oh nein !"rief Schorski und baute sich vor Schantl auf. "So haben wir nicht gewettet ! Die Ulla Hornwald hat mir erzählt, dass jetzt viele Leute fragen, wer den Gingel eigentlich berät, und dass er da offenbar die falschen Leute in seiner Nähe hat. Dergleichen lasse ich nicht auf mir sitzen ! Da geht es auch um meinen Ruf ! Ich bin erst achtundzwanzig und denke nicht daran, mich wieder mit Landwirtschaftsverordnungen und Düngemittelzusätzen zu beschäftigen ! Ich habe noch mein ganzes Berufsleben vor mir und werde es nicht für einen Möchtegern-Politiker opfern !"
"Du spinnst ja ! Worin soll denn dieses 'Opfer' bestehen ?"
"In den letzten drei Jahren habe ich alles gegeben, vor allem mein Privatleben !"
"Du meinst jetzt aber nicht die Ute, du Heuchler ?"
"Nicht unbedingt, aber dass ich noch keinen Ersatz gefunden habe, geht auf das Konto des Jobs, glaub' mir !"
Sie ließen sich beide ermattet in die Fauteuils fallen.

"Schau, " sagte Schantl und legte die Peitsche beiseite, "ich glaube, dass die Scheidungsgerüchte schon ihren Zweck erfüllt haben. Soweit ich weiß, sind seine Umfragewerte wieder etwas besser. Belassen wir es doch dabei. Kurz vor den Wahlen gibt's dann ein Happy End. Ich kann ihm jetzt nicht dauernd zureden, dieses Interview zu machen. Er will das einfach nicht."
"Darf ich dir sagen, dass du auf dem Holzweg bist ! Seine Umfragewerte sind tatsächlich marginal gestiegen, aber das ist wahrscheinlich ein statistischer Ausreißer. Die Leute bedauern weit weniger ihn als seine Frau, vor allem die Männer, bei den Frauen gehen die Meinungen auseinander. Und schau ihn an: er hat ein bisschen abgenommen und daheim einen Hometrainer stehen, damit ihm am Abend nicht langweilig ist, hat er mir erzählt."
"Und das befriedigt dich jetzt - ja ?! Und deshalb willst du mit diesem Theater weitermachen ? Bis er in einen Slim-Fit-Anzug passt ? Du bist ja nicht bei Trost."
Schantl zündete sich zur Beruhigung eine Zigarette an.
"In Wahrheit weiß er einfach nicht, was er will - und da kommen wir ins Spiel," sagte Schorski mit einem verschwörerischen Lächeln. "Zu mir hat er neulich gesagt, dass er schon gern weitermachen würde, weil er glaubt, dass er noch einiges bewegen kann. Der Moldaschl sieht das zwar anders, aber der gönnt ihm keinen Erfolg, weil er immer noch am Katzbacher hängt und meint, dass man ihm Unrecht getan hat. Der Gingel hätte den Moldaschl rausschmeißen sollen, der ist eine Natter."
"Wohl war ! Der Rudi sitzt in einer Schlangengrube ...," seufzte Schantl und hatte das Gefühl, in einer Sache zu stecken, die eine Nummer zu groß für ihn war.

*****​

Rudolf Gingel saß erschöpft auf seinem Hometrainer und dachte an das Interview, das er am frühen Abend einer gewissen Roswitha Lorbeer gegeben hatte. Sie wollte ihm den fertigen Text vor der Veröffentlichung vorlegen - hoffentlich.
"Ist es richtig, dass sie und ihre Frau seit einiger Zeit getrennte Wege gehen ?"
Er hatte das bestätigt, weil es ja den Tatsachen entsprach.
"Sollen wir erwähnen, dass sie anderweitig liiert ist ?"
"Aber nein," hatte er geantwortet, "das wäre nur eine Behauptung. Ich habe keine Beweise dafür."
"Na, wie sie wollen. Ich dachte eigentlich, dass das ohnedies bekannt ist."
"Mir ist nichts bekannt, es gibt nur Gerüchte."
"Ihre Frau ist bedeutend jünger als sie, ist das richtig ?"
"Ja, sie könnte meine Tochter sein," hatte er trotzig geantwortet.
"Haben sie Kinder ?"
Eine beiläufige Frage, nur eingeflochten auf Grund einer assoziativen Verbindung, die er selbst hergestellt hatte. Die Journalistin war schon lange weg, aber ihre Frage stand immer noch im Raum wie ein lästiger Gast, der nicht heimgeht. "Lass mich erst fertigstudieren," hatte Helga vor ein paar Jahren gesagt, "dann werden wir uns ein paar kleine Gingels anschaffen." Später brach sie das Studium ab, aber von den kleinen Gingels war keine Rede mehr. Er war damals siebenundfünfzig und sie war achtundzwanzig. "Wir haben noch soviel Zeit, Darling ...", sagte sie.

"Ist ihnen die Trennung von ihrer Frau schwergefallen ?" wollte Frau Lorbeer wissen.
"Ja," hatte er wahrheitsgemäß geantwortet, "es klingt wahrscheinlich sentimental, aber meine Frau hat immer viel Sonnenschein in mein Leben gebracht. Sie hat ein heiteres Naturell. Das fehlt mir jetzt."
"Leidet auch ihre Arbeit unter der Trennung ?"
Das war eine heikle Frage, die er natürlich nur verneinen konnte, andererseits aber einen Zusammenhang mit seiner medialen Entgleisung herstellen musste.
"Wissen sie, Frau Lorbeer, von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, erwartet man reibungsloses Funktionieren rund um die Uhr. Erst am Abend daheim dürfen sie entspannen. In meiner Arbeit habe ich mir nie irgendwelche Schwächen erlaubt, bis heute nicht. Fernsehdiskussionsrunden gehören im weiteren Sinne natürlich auch zur Arbeit, so sagte man mir, aber sie nehmen doch eine Art von Zwitterstellung ein: es ist spät, man ist müde, die Diskussion ist angeregt, man redet über Dinge, die nicht den unmittelbaren Aufgabenbereich betreffen ... da kann es passieren, dass Verschiedenes, das einen privat beschäftigt, plötzlich mitschwingt und sich irgendwie Bahn bricht ... leider."
"Ich verstehe, es war also ein Fall von Kontrollverlust ? Kann ich das so schreiben ?"
"Also ist das nicht ein zu starkes Wort: 'Kontrollverlust' ? Haben sie die Sendung eigentlich gesehen ?"
Sie nickte.
"Ja und ? Würden sie meine Aussagen als ein Zeichen von Kontrollverlust bewerten ?"
Sie lachte: "Nein, eher das Verhalten der Moderatorin. Es ist sehr ungewöhnlich, plötzlich aufzuspringen und eine Sendung zu verlassen. Ich dachte zuerst, dass zwischen ihnen und der Turban etwas läuft ... entschuldigen sie, dass ich das so offen sage, ... aber dann ist mir eingefallen, dass sie die Freundin vom Homolka ist, ... was natürlich kein Ausschließungsgrund wäre, ... also ich war mir bis zum Schluss nicht sicher. Was sie gesagt haben, habe ich gar nicht mitgekriegt, nur dass sie am Ende den Anrufer als geistesgestört bezeichnet haben."
Er hatte geseufzt und ihr erlaubt, das Wort "Kontrollverlust" zu benutzen.

Nun würde es also heißen, dass er, getrennt von Tisch und Bett, ein Schatten seiner selbst und von allen guten Geistern verlassen war, weshalb er zu einem verbalen Rundumschlag ausgeholt hatte, was er zutiefst bedauerte. Alles an dieser Aussage fühlte sich falsch an, selbst unter der Annahme, dass die Grundlage real und nicht erfunden war. Würde er verzweifeln, wenn Helga ihn verließ ? Sehr unwahrscheinlich. Aber sehr unwahrscheinlich, weil er es nicht für möglich hielt, oder sehr unwahrscheinlich, weil er nicht verzweifeln würde, wenn sie es doch tat ? Mach die keine Sorgen, hatte sein Vater am Tag vor der Hochzeit zu ihm gesagt, sie liebt das Leben, das du ihr bietest, zu sehr, um es aufs Spiel zu setzen. Eigentlich ein recht fragwürdiger Zuspruch des alten Herrn: ein Gingel muss nur rackern, um nicht verlassen zu werden. Er dachte, dass die vielen unangenehmen Gedanken der letzten Zeit nur an die Oberfläche drängen konnten, weil Helga nicht da war, die sie offenbar mit ihrer schieren Existenz in Schach halten konnte. Seine Hyänen meinten, dass er das Tal der Tränen durchschritten hätte. Man sähe einen Silberstreif am Horizont. Irgendein Berufskollege hatte öffentlich Partei für ihn ergriffen und gemeint, man dürfe einem Juristen nicht übelnehmen, wenn er über kein psychiatrisches Vokabular verfügte, zumal Gingel nicht Strafverteidiger, sondern Anwalt für Marken- und Wettbewerbsrecht gewesen war. Das Attribut "geistesgestört" sei in gewisser Hinsicht weniger anstößig als die Begriffe "verrückt" oder "irrsinnig".

Er sollte sich über solche Meldungen freuen und erleichtert sein, war es aber nicht. Er hatte sich schon halb und halb damit abgefunden, wieder in seine Kanzlei zurückzukehren, in seine Kanzlei und in seine Sprache, die nicht so billig und leichtfertig war wie die Sprache der Politik. Nur mit Blick auf Helga hätte er die Rückkehr bedauert, weil sie es so sichtlich genoss, immer wieder fotografiert und zu diesem oder jenem Thema befragt zu werden: Frau Gingel, was denken sie über den Opernball, erscheint er ihnen noch zeitgemäß ? Oder: Frau Gingel, sie beschäftigen sicher eine Haushaltshilfe, dürfen wir nach der Höhe des Stundenlohns fragen ? Oder: Frau Gingel, wie oft im Jahr bestellen sie bei Amazon ?
Er seufzte. Die Journalistin hatte ihn gefragt, weshalb er keinen Facebook oder Twitter Account besitze. Es sei damit einfacher, die eigenen Standpunkte unters Volk zu bringen, man müsse nicht auf Interviews warten. Er hatte geantwortet, dass sich seine Frau um derlei kümmerte. Schantl und Schorski gehörten zu ihren "Followern" und erzählten ihm manchmal, dass sie ihre Sache ganz ausgezeichnet mache, immer auf Parteilinie sei und nie die Grenzen der Diskretion oder des guten Geschmacks verletze.
Er seufzte. Nichts war in Ordnung, alles aus dem Lot.

*****​

Sie trafen einander vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Kahlenberg. Beide trugen große Sonnenbrillen, die Chauffeure warteten in den Fluchtautos.
"Lustig ist das, wie wir alle Welt zum Narren halten," sagte Helga und kicherte.
"Sei nicht so eitel," erwiderte er, "kaum jemanden interessiert es, was wir tun, bis auf die, die ein leeres Leben haben."
"Das sind aber viele, glaubst du nicht ?"
"Ich weiß es nicht und es interessiert mich auch nicht. Was ich aber schon gern wüsste, ist, wann du dieses Theater zu beenden gedenkst ?"
Sie nahm verdutzt ihre Brille ab, und er sah zum ersten Mal, dass sie Fältchen in den Augenwinkeln hatte.
"Du solltest nicht so oft in eine Kamera lachen, das falsche Lachen macht alt."
"Huch, da hat aber einer schlechte Laune ! Und warum fragst du mich, wann wir das beenden ? Das hängst doch nicht von mir ab. Ich richte mich nach den Vorgaben deiner Berater. Der Schorski meint, dass sich alles ganz gut entwickelt. Deine Umfragewerte sollen jetzt wieder deutlich besser sein."
"Was du nicht sagst ... nur bei dir scheinen meine Umfragewert gesunken zu sein, nicht wahr ?"
"Wie kommst du darauf ? Was ist das plötzlich für ein Tonfall ?"
"Ich will nicht, dass du meine Angelegenheiten zu deinen machst."
"Ach, und wer wollte vor ein paar Monaten, dass ich bei einem Spiel namens 'Ehekrise' mitmache ? Weil er einen öffentlichen Skandal geliefert hatte ?!"
Sie blieben stehen und betrachteten den Sonnenuntergang.
"Vielleicht habe ich gehofft, dass du nein sagst ...".
"Aber wie hätte ich das können ? Alle haben gesagt, dass es der einzige Ausweg ist, und du selbst wolltest es ja auch !"
"Und jetzt hast du dich daran gewöhnt, so wie's aussieht."
"Nein," antwortete sie laut und entschieden, "du fehlst mir jeden Tag !"
"Und warum soll ich dann nicht wieder bei dir einziehen ?"
"Weil deine Berater meinen, dass es zu früh wäre. Es sollte knapp vor den Wahlen sein. Ich kann das nachvollziehen. Die Leute mögen es, wenn sich ein Paar des öffentlichen Lebens vor aller Augen wieder versöhnt. Es wird sicher Presseberichte geben, und ich werde natürlich auch ausführlich darüber schreiben."
Sie zitterte ein wenig, weil ihr kalt war und weil sie empört war.
"Hast du einen anderen ?" wollte er wissen.
"Du bist ja übergeschnappt," zischte sie.
"Würdest du es mir sagen ?"
"Was soll ich darauf antworten ? Wenn du nicht begreifst, dass ich das alles nur für dich getan habe, dann ist jedes weitere Wort überflüssig." Sie war jetzt sehr erregt und blickte zurück auf den Weg, den sie gekommen waren. Er aber wollte nicht umkehren, sondern hatte Lust, sie zu quälen.
"Dir ist aber schon klar, dass Schantl und Schorski meine Mitarbeiter sind und nicht meine Vorgesetzten. Wenn ich will, dass dieses Theater ein Ende hat, dann genügt ein Wort von mir."
"Ob du dich da nicht ein wenig überschätzt ?" Sie lachte hämisch und trat einen Schritt zurück. "Du bist nicht der Kanzler, aber der Kanzler will, dass du diese Geschichte durchziehst. Dem Schorski und dem Schantl könntest du dankbar sein, wenn du schon für mich nur Unterstellungen parat hast. Wenn ich gewusst hätte, wie das endet ...".
Sie kämpfte mit den Tränen, und erspürte, dass es ein Fehler gewesen war, ein außereheliches Verhältnis ins Spiel zu bringen. Damit hatte er sich in eine Sackgasse manövriert, wo sie auftrumpfen und auf ihn einprügeln konnte.
"Ich habe dir gar nichts unterstellt, ich habe nur gefragt. Du bist jung und attraktiv und wir leben seit einem halben Jahr getrennt. Am Anfang haben wir fast jeden Abend telefoniert, jetzt höchstens einmal pro Woche. Daraus ziehe ich den Schluss, dass du ganz gut allein zurechtkommst und mir nichts zu sagen hast. Aus den Zeitungen erfahre ich ja, was du tust."
"Willst du mir jetzt vorwerfen, dass ich mit Journalisten spreche ?! Die PR-Arbeit mache, die du immer verabscheut hast, die aber nur dir zugute kommt ?!" Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und durchbohrte ihn mit ihrem Blick.
Er zuckte die Achsel: "Ich bin dir nicht dankbar dafür, jetzt jedenfalls nicht mehr und auch im Rückblick nicht. Wir müssen einfach sehen, wie wir da wieder herauskommen - jeder für sich."
Sie standen noch eine Weile nebeneinander und blickten auf die hell erleuchtete Stadt, dann gingen sie zurück zu den Autos.

*****​

"Ich glaube, wir können zufrieden sein," meinte Schantl. "Man hat ihm verziehen und dass er jetzt auch noch einen Entwurf für eine Zivilprozessreform vorgelegt hat, an der zwei seiner Vorgänger gescheitert sind, ist eine schöne Draufgabe."
"Na ja, das interessiert die Justiz und sonst niemanden," erwiderte Schorski. "Ich denke schon weiter in die Zukunft, an die Zeit nach der Wahl. Hat er dich in seine Pläne eingeweiht ?"
"Leider nein, und an deiner Stelle würde ich nicht so weit denken. Ich glaube zwar schon, dass er weitermachen will, aber ganz sicher bin ich mir nicht."
"Wenn ich etwas an dir nicht ausstehen kann, dann ist es deine Indolenz," empörte sich Schorski und begann im Zimmer auf und ab zu wandern (diesmal das "Blue Velvet" mit zwetschkenfarbener Bett- und Sitzpolsterung, an der Wand ein Cyborg in aufreizender Pose).
"Und mich nervt dein Kontrollzwang ! Nie bist du zufrieden, nie kannst du es gut sein lassen, immer musst du manipulieren und steuern !" Auch Schantl war gereizt, weil er Schorski eigentlich nicht hatte treffen wollen, dann aber doch nachgegeben hatte.
"Natürlich bin ich nicht zufrieden ! Wie auch ? Er tut doch, was er will. Jetzt lässt er sich in Jeans und Pullover beim Sonntagsspaziergang ablichten und geht nicht mehr zum Friseur. Was kommt als nächstes ? Eine Tätowierung ? Hausschlapfen ? Ein Rauschebart ?"
Schantl musste lachen: "Also mir hat das Bild gefallen, man hat gleich gesehen, dass er gut aufgelegt war ... ".
"Freilich war er gut aufgelegt: die Alte in Paris, der Hometrainer am Flohmarkt, und die Partei wird die Wahlen haushoch verlieren !"
"Hast du ihn auf das Foto angesprochen ?"
"Natürlich, ich hab' ihm auch gesagt, dass seine Aufmachung ungewohnt lässig war und der Pullover beim nächsten Mal ein bis zwei Nummern größer sein sollte. Und weißt du, was er gesagt hat ? 'Sie sind mir wohl meinen Bauch neidig, Schorski, aber lange werden sie ihn sich nicht mehr anschauen müssen'. Soviel zu deiner Vermutung, dass er weitermachen will."
"Ja, kann schon sein, dass wir uns in ein paar Wochen nach einem neuen Job umschauen müssen," sagte Schantl und fuhr sich mit beiden Händen durch den blonden Schopf. Er versuchte, das Thema seiner beruflichen Zukunft durch Nichtbeachtung zu bearbeiten, aber es war klar, dass er bald Kontakt zu seiner alten Firma aufnehmen musste, um zu klären, ob man ihn zurücknehmen würde. "So ein Mist !" Er stieß mit dem Fuß gegen den Fauteuil vis-à-vis.
"Hör auf zu treten, sag ihm lieber, dass er seine Beziehungen für uns spielen lassen soll, falls er das Handtuch wirft."
"Das wird wohl nicht von ihm allein abhängen. Im schlimmsten Fall könnten wir nach den Wahlen eine Situation haben, in der die Partei in Opposition gehen muss. Du weißt ja, der Schratt macht sicher nicht den Vizekanzler."
Schorski hielt in seiner Wanderung inne und seufzte. "Mich macht das alles ziemlich nervös. Ich hatte ja nie einen guten Draht zu ihm, im Gegensatz zu dir, du Schleimer, aber jetzt behandelt er mich manchmal wie einen Rotzbuben. Neulich hat er gesagt: 'Schorski, sie bilden sich wohl viel auf ihre edv-technischen Anwenderkenntnisse ein und vergessen dabei, dass es sich um Werkzeuggebrauch im weiteren Sinne handelt. Maßgeblich ist aber immer noch der Gedanke, also das Was und nicht das Wie.' Er hat noch immer nicht begriffen, wie wichtig das Wie heutzutage ist. Was will man mit so einem Neandertaler ?"
"Weißt du, was mich wundert," wechselte Schantl das Thema, "wie gut er diesen ganzen Medienrummel weggesteckt hat, nachdem die Helga in den Flieger gestiegen ist. Das war beachtlich und zeigt, dass man offenbar mit den Jahren auch irgendwie stärker und nicht nur schwächer wird. By the way, ist die Ute wieder im Land ?"
Schorksi schüttelte den Kopf und ließ sich in den Fauteuil fallen.
"Gib mit eine Zigarette. Ich habe Lust, ein Loch in diese scheußliche Sitzpolsterung zu brennen. Ist dir klar, dass ich in der kürzest möglichen Zeit Jus und Psychologie studiert habe ? Und wo bin ich jetzt ? Angewiesen auf den guten Willen eines alten Deppen !"
Sie saßen noch eine knappe Stunde im "Blue Velvet" und leerten eine weitere Champagnerflasche, die auf Schantls Rechnung ging. Dann mischten sie sich unter das tanzende Volk und genossen die Gelenkigkeit ihrer jungen Körper. Man spielte Musik von Parov Stelar.

*****​

Die Wahlen waren geschlagen. Der Vergleich mit einer Schlacht ist ja irgendwie irreführend, weil bei Wahlen nicht hin gedroschen, aufgespießt, aus dem Sattel gehoben oder aus Mörsern geschossen wird. Wahlverlierer ist der, den man in der Kabine ignoriert, übergangen, nachgereiht und ausgeschlossen hat. So gesehen war der Verlust, den die Schratt-Partei hinzunehmen hatte, zwar sehr schmerzhaft (minus 12,8 Prozentpunkte), aber nicht tödlich. Man musste sich nur mit dem Feind arrangieren und eine Koalition bilden.

Der erfolgsverwöhnte alte Kanzler wollte es noch einmal allen zeigen, ging in Sondierungsgespräche, alterierte sich über unverschämte Forderungen und empörte sich über Besetzungsvorschläge und diverse Formulierungen in den Entwürfen zum Regierungsprogramm. Von Natur aus mit einem galligen Temperament ausgestattet, ärgerte er sich über jeden Widerspruch, ließ keine Einwände gelten und löste so manche Sitzung vor der Zeit auf, weil er in einer Vereinbarung "seine Handschrift" nicht erkennen konnte. Die Koalitionsgespräche hätten wohl noch weit bis in den Spätherbst gedauert, wenn ihn nicht ein höherer Amtsinhaber eines Nachts und ohne Vorwarnung zur Raison gebracht hätte. Schratt erlitt einen Schlaganfall von solchem Ausmaß, dass an eine Fortsetzung seiner politischen Tätigkeit nicht mehr zu denken war.

Wie so oft in solchen Situationen, schlossen sich die Reihen schnell. Der Vizekanzler war zur Stelle, wollte gern einspringen und die Koalitionsverhandlungen energisch vorantreiben. Am Ende musste die Partei zwar auf wichtige Ressorts (Finanzen, Inneres und Justiz) verzichten, konnte aber durch raffinierte Umstrukturierung die Aufgabenbereiche derart aufdröseln, dass ihr selbst dort noch eine gewisses Maß an Einflussnahme möglich war. Kein Schlüsselressort, aber auch nicht ganz unbedeutend, wurde das Medien- und Informationsministerium Herrn Dr. Rudolf Gingel übertragen. Eine besondere Begründung für diesen Besetzungsvorschlag gab es nicht, aber möglich wäre eine unbewusste gedankliche Verbindung zu einem Aufsehen erregenden Vorfall, an dessen Gegenstand sich kaum noch jemand erinnern konnte. Gingel bezog seine neuen Amtsräume gleich nach Weihnachten, zusammen mit Markus Schantl, während Lukas Schorski ins Landwirtschaftsministerium zurückkehren musste.

"Siehst du," sagte der Alfons zur Gerti Piwonka, "ich hab' dir ja gleich gesagt, dass es so kommen wird. Aber du glaubst mir ja nie."
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Matula,

ich habe jetzt zum vierten Mal versucht, den Text zu lesen, aber er lässt sich sehr schlecht lesen, da er nicht gut gegliedert ist. Vorschlag: Setz die Dialoge untereinander und nicht im Fließtext, das ist wesentlich besser zu lesen.

Und wenn ich es dann gelesen habe, schreibe ich auch eine richtige Kritik, das Thema interessiert mich nämlich. :)

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Matula

Mitglied
Vielen Dank, SilberneDelfine ! Ich werde am Abend eine bessere Gliederung versuchen. Ich wollte Platz sparen, den Text nicht aufblähen, aber Du hast völlig recht.

Schöne Grüße,
Matula
 
Hallo Matula,

danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, das Ganze etwas leserlicher zu machen.

Also... So ein kleines bisschen zu lang ist mir die Geschichte schon... :D ich habe auch nicht so den Durchblick, da ich nicht in Österreich lebe, aber ich glaube, du wolltest zuviel auf einmal in die Geschichte packen. Manche Abschnitte sind überlang, und du lieferst zu viele und zu unwichtige Erklärungen, z. B. :


Was zum Beispiel hatte ihn bewogen, die Einladung zu dieser Fernsehdiskussion überhaupt anzunehmen ? Hatte er sich nicht schon zu Beginn seiner Amtszeit geschworen, solche Auftritte unter allen Umständen zu vermeiden ? Da saßen am Sonntagabend Herr und Frau Österreicher, die p.t. Bürger und Bürgerinnen, in ihren Jogginganzügen und Küchenschürzen vor den Fernsehgeräten und hatten nichts Besseres zu tun, als den Anzug des Herrn A, die Frisur der Frau B und die Ausdrucksweise des Herrn C zu benörgeln. Wenn sie sich einmischen und ihre unmaßgeblichen Ansichten zum Besten geben wollten, stellten sie die Bierflasche ab und griffen zum Handy. Wahrscheinlich war die Nummer schon eingespeichert. Nie ging es in diesen Diskussionen um Ergebnisse oder auch nur um den Versuch, die Grundbegriffe zu klären. Immer ging es um das Sehen und Gesehen-werden und um die wechselseitige Versicherung der eigenen Orientierungslosigkeit. Ein Thema wie "Brauchen wir mehr oder weniger Staat ?", das seit Jahrzehnten wieder und wieder und selbstverständlich ohne Ergebnis gewälzt wurde, sei bestens geeignet, ein paar Grundsatzerklärungen abzugeben, ohne irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen, weil Anarchisten zu solchen Diskussionen prinzipiell nicht eingeladen wurden. Schorski hatte ihm dringend geraten, diesmal über seinen Schatten zu springen und sich ein bisschen in der Öffentlichkeit zu profilieren. Fragte sich nur, warum er diesmal auf Schorski gehört hatte ? Eine unangenehme Antwort wollte aufsteigen. Er riss einen "Galaxy" auf und biss hinein. War es möglich, dass er sich tatsächlich profilieren wollte, dass es ihn kränkte, immer als Schlusslicht der Regierungsmannschaft angeführt zu werden ? Als farbloser Bürokrat, als Mann, von dem man zunächst einiges erwartet hatte, von dem man am Ende aber enttäuscht war ? Einer, der sich nur noch die Ministerpension verdienen, im übrigen aber mit dem Wählervolk nichts zu tun haben wollte ? Wie auch immer, erreicht hatte er das Gegenteil beziehungsweise etwas völlig anderes. Jetzt galt er als "Verbalrabauke", wie heute in einer Zeitung zu lesen war, und als solcher würde er den Österreichern wohl noch eine Weile in Erinnerung bleiben. Jetzt waren alle empört und machten ihm Vorwürfe: "Rudi, was um Himmels willen ist in dich gefahren !" - "Oje, Herr Minister, das war aber ein böser Ausrutscher !" - "Du warst mir gestern zum ersten Mal in meinem Leben peinlich, Darling !" - War es das, was er eigentlich gewollt hatte ? Gingel versuchte sich den Abend noch einmal in Erinnerung zu rufen. Ein "Captain Bley" half ihm, seine Gedanken zu ordnen.
Das könnte man auf ein, zwei Sätze kürzen. Ebenso die ellenlange Diskussion über die Schokoriegel am Anfang.

Richtig interessant wird es erst bei der Fernsehdiskussion. Damit könnte die Geschichte sogar beginnen.

LG SilberneDelfine
 

Matula

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

besten Dank für Deine Mühe. Ich habe inzwischen bemerkt, dass auf der "Leselupe" bevorzugt kurze Texte, wie Gedichte, Short-Short Stories und Stenogrammartiges, eingestellt werden. Leider liegt mir das nicht.
Im Schokoriegel-Abschnitt wollte ich darstellen, wie ein neurotisch beschädigter junger Mann der Generation "Du bist was du isst" mit der sorglos-intuitiven Lebensweise eines Vertreters der älteren Generation konfrontiert wird. Dem entspricht die Auseinandersetzung zwischen Schantl und Piwonka, die auf die Figur des Kajetan von Schlaggenberg aus Heimito von Doderers "Die Dämonen" und damit auf eine noch ältere Vorstellung vom "guten Leben" anspielt.
Der andere Abschnitt, den Du als zu lang beanstandest, soll Gingels Ambivalenz in Bezug aus sein Amt zeigen. Ob er den TV-Skandal unbewusst inszeniert hat, um in sein früheres Leben zurückkehren zu können, bleibt zu diesem Zeitpunkt offen. Hier wollte ich tatsächlich auch Kritik an Fernsehdiskussionen verpacken, die nach meiner Einschätzung idR zu oberflächlich sind und dem ewiggleichen Schema von Pro-Contra-Kompromiss folgen.
Ich habe zur Zeit keine Vorstellung, wie ich den Text umbauen könnte, um ihn mundgerechter zu machen. Vielleicht komme ich zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurück.

Trotzdem nochmals vielen Dank
und beste Grüße,
Matula
 



 
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