Rücken und Gesicht

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Bornstein

Mitglied
Ich saß in einem Restaurant. Vorne rechts ein kleiner Tisch mit zwei Personen. Von ihm sah ich nur den Rücken. Von ihr nur das Gesicht. Aber unter der Tischplatte, zwei paar Beine.

Er war dunkelhäutig, muskulös; hatte den Nacken eines Stiers; Arme und Schultern, aus einen ausgeschnittenes T-Shirt auftauchend, eines Boxers. Bei jeder Bewegung ließ er, es war wahrscheinlich nicht absichtlich gemeint, die Muskeln spielen.

Sie war weiß und nicht besonders schön. Ihr Mund war klein und zierlich, zu klein und zu zierlich um begehrenswert zu sein. An der Seite des Gesichts fielen die Haare in kleinen Strähnen, die Wangen schmückend. Die Strähnen waren zu künstlich angelegt um überzeugend zu wirken. Der Spiegel musste da seinen Einfluss gehabt haben.

Wie zu erwarten, waren seine Beine stark, aber wider Erwarten waren auch ihre Beine, im Kontrast zu ihrem zierlichen Gesicht, erstaunlich muskulös. Von der Sonne braun gebrannt, breit und kräftig, erschienen sie aus sehr kurzen Shorts. Viel hätte ich gegeben um sie langgestreckt zu sehen, aber nein, sie blieb sitzen.

Ich verstand nur das eine oder andere Wort. Sie sprachen Portugiesisch, aber sie hatte einen leicht englisches Akzent. Ich suchte nach ihrem Mund und ihren Augen. Ich suchte nach Zügen die mein voreingenommenes Bild bekräftigen sollten. Ich suchte ein unangebrachter Mundwinkel, ein unpassendes Zwinkern der Äuge, ein zu harter Gesichtsausdruck, ein zu schmeichelhaftes Lächeln, eine zu weiche Negation und eine zu starke Affirmation. Ich konnte nichts finden. Keine eingefrorene Grimassen, kein steifes Grinsen, kein Spott, keine Verachtung und keine Überheblichkeit. Tief enttäuscht musste ich erleichtert aufatmen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Lieber Bornstein,

wenn ich mich nicht täusche, ist es mir hin und wieder auch schon so ergangen. Die zuerst wahrgenommenen äußeren Merkmale (gerade auch solche, die den indviduellen Geschmack verraten) nehmen einen sogleich gegen die fremde Person ein, und wenn das genauere Hinsehen dann kein weiteres Material liefert, kann man sich wie am Ende eines Bootsstegs fühlen, an dem kein Boot liegt; man muss umkehren. Ich blende dann gewöhnlich ab, d.h. beschäftige mich mit ganz anderem. Der letzte Satz in deinem Text drückt gut die Ambivalenz solcher Abläufe beim Beobachten aus.

Nun könnte man noch ein gegenläufiges Muster darlegen: der erste Eindruck sehr vielversprechend und dann zunehmendes Befremden. Letzteres wird in solchen Fällen meist vom Reden oder Handeln der Person hervorgerufen.

Frohe Ostern (ein bisschen spät vielleicht zum Wünschen, aber ihr seid drüben ja auch etwas später dran)
Arno Abendschön
 

Bornstein

Mitglied
Lieber Arno,

danke für die Kommentare. Im täglichen Leben, unter Hast und Eile, wertet man die Ereignisse und auch die Menschen nach unseren Vorurteilen. Es ist wahrscheinlich gar nicht anders möglich. Gut wenn ab und zu mal ein Licht aufgeht. Halt mal, da stimmt etwas nicht. Das passt nicht in dieser Schublade. Ich nehme es wieder raus, aber wohin stecke ich es jetzt?

Claudio
 
Halt mal, stimmt denn das? Muss man immer alles werten?
Lieber Claudio, warum so streng mit sich selbst sein? Oft handelt es sich nicht einmal um Wertung, sondern nur um eine halbautomatisch ablaufende Orientierung. In deinem Text hat dir das physische Äußere zunächst signalisiert: Ich finde sie nicht attraktiv. Das ist, meine ich, noch unterhalb der Schwelle einer Wertung. Es ist normal, dass das Bewusstsein das Äußere einer erstmals wahrgenommenen Person mit einem uns innewohnenden Ur- und Wunschbild abgleicht und das Resultat kurz registriert. Erst danach traten im Text Anzeichen von schlechtem Geschmack oder Affektiertheit oder etwas Ähnlichem hinzu (Strähnen). Ein untersuchender Blick auf der Basis von ästhetischen oder pychologischen Kriterien ist zwar subjektiv, jedoch nicht von vornherein ohne Berechtigung. Er dient ebenfalls einer ersten provisorischen Orientierung.

Der entscheidende Schritt zu vorurteilsvoller Perspektive ist dann getan, wenn aus wenigen Einzelbeobachtungen bereits ein Bild der fremden Person als Ganzes sich herausbildet, verfestigt und nun - wie im Text dargestellt - systematisch nach dazu passenden Details gesucht wird. Das Vorurteil ist also nicht vor dem Bild da, sondern es ist selbst nur dieser erste flüchtige negative Eindruck. Wenn es, das Bild, sich nicht verifizieren lässt und Selbstkritik einsetzt und das Bild korrigiert, ist eigentlich das Mögliche erreicht.

Vielleicht haben wir alle tief in uns das Bedürfnis nach absolut Eindeutigem, Widerspruchsfreiem. Dem können die uns begegnenden Menschen regelmäßig aber nicht genügen. Umso wichtiger, sich den Prozess der Ernüchterung, der Differenzierung bewusst zu machen.

Schönen Abend
Arno
 

Bornstein

Mitglied
Lieber Arno,

du hast völlig recht. Natürlich werten / beurteilen wir immer alles und ständig, und ich besonders und vor allem, aber … Natürlich ist es in der heutigen Welt, in der man ständig von Angebot und Nachfrage und ihre Reize und Stimuli überflutet wird, gar nicht anders möglich, denn, ohne Filter, wo blieben wir dann? Aber …

Du hast völlig recht, in der Überflutung brauchen wir Orientierung, aber … orientieren wir uns nicht manchmal zu viel? Verhindert dies nicht manchmal, dass wir eine bessere Richtung finden?

Zusammenfassend: meine Bemerkungen waren eher als Scherz zu verstehen, oder als Provokation der andere Seite meines Ichs, oder als Selbstkritik.

Claudio
 



 
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