Ruhe in Knallfarben

Ingwer

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Während eben noch die Landschaft vorbeigezogen ist und ich mich zwischen den Seiten meines Buchen und meinen zufallenden Augen zerrieben habe, scheint dieser Mann eingestiegen zu sein, ohne dass ich es gesehen habe.
Er ist jedenfalls jetzt hier, in meinem zweitklassigen Abteil, und sitzt mir schräg gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Ich könnte ihm in die Augen schauen, wenn er sie nur einen Moment von seinem Buch heben würde.
Er lässt mich mit diesem Gedanken und meinem Konjunktiv allein.
Irgendwie wirkt es merkwürdig, wie dieser kleine dünne Mann dort sitzt und mit seinen dünnen Beinchen in den viel zu weiten Cordhosen sehr verloren wirkt. Fast schon kindlich verloren, wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen und von der Mutter vergessen worden ist.
Ich bemühe mich, nicht zu starren. Keine nackten Blicke auf angezogene Leute- und konzentriere mich wieder auf die dreckigen Fensterscheiben und die vorbeiziehenden Bäume dahinter. Doch der Mann spiegelt sich auch in dieser Scheibe und ich komme mir albern vor. Intolerant.
Doch warum, um Gottes Willen, trägt dieser Mann jetzt auch noch leuchtendrote Kopfhörer? Wenn ein alter Mensch Walkman hört, kommt mir dies schon seltsam vor, je mehr, desto moderner sein Gerät ist. Igrendwie bringe ich das in meinem manchmal erschreckend wenig weltoffenen Gedankenmaschinchen nicht ganz zusammen und stelle mir die Klischees des alten Menschen in Ohrensesseln vor Plattenspielern oder klapprigen Fernsehenrn vor.
Dieser Mann schräg gegenüber hört keine Musik. Seine Kopfhörer sind kabellos und sehen bei genauerem Hinsehen auch eigentlich eher aus wie Ohrenschützer. Riesige rote Ohrenschützer.
Dee Zug ist nicht besonders laut. Gut, eine Regionalbahn, die sicher ein wenig ratternder vorwärtskommt als ein moderner Intercity- aber das Geräusch ist angenehm, keinesfalls störend.
Ich wundere mich nicht mehr, sondern schaue höchst interessiert aus meinem Fenster. Wiesen, Felder und Kühe. Vereinzelte Straßen und vorbeifahrende Autos. Langsamer als der Zug.

Die Wiese- und ich mittendrauf. Drehwurm, herum. Grün, überall, hell dunkel. Schatten.
Gedanken werden bruchstückhaft. Gefühle unaushaltbar. Gewaltig.
Das ist so in Träumen, aber ich kann nicht heraus.
Verfolgung- muss mich nicht umschauen, um ihn zu sehen-
er-groß- Schatten- wie lichtaufsaugend- und in Fortbewegung.
Die Angst kommt in Wellen und wirbelt mich herum, schlägt mich und lässt mich laufen. Einfach laufen. Ziele sind unwichtig, wenn man Ursprungsorte verlassen will. Dann ist das woher wichtiger, und dass es nie mehr zum Wohin werden soll.
Laufe. Bleischwere Beine und wie in den Rasen genagelte Fußsohlen machen mich langsam.
Er kommt näher.
Näher.
Und ich spüre seinen Atem.
Sehe seine Augen.
Fühle, wie er mich streift und vorbeiläuft.


Die Bäume haben sich nicht geändert und mein Schlaf war sicher nicht länger als einige Minuten, vielleicht auch nur Sekunden. Der Alte sitzt unbewegt auf seinem Platz und lauscht hingebungsvoll in seine riesigen Ohrenschützer hinein.
Er dreht mir den Kopf zu und lächelt.
"Ich höre Schweigen", sagt er und schließt mit einer unheimlich friedlich wirkenden Mimik die Augen für einen Moment.
Ich fühle mich sicher, irgendwie, auf einmal, obwohl ich doch immer noch auf der Flucht bin. Jeder flieht doch, sein ganzes Leben lang. Die Gründe sind vielleicht individuell unterschiedlich, doch die Tatsache bleibt real und für alle gleich.
Dieser alte Mann hier mit seinen roten Ohrenschützern sitzt in seiner Oase der Ruhe und wirkt angekommen. Am Anfang war sicher nicht das Wort, sondern das Schweigen. Die ersten Monate im Mutterleib sind schließlich auch nur von gedämpfter Akkustik geprägt.
Es wundert mich nicht, dass der Alte noch während der Zugfahrt verstirbt.
Den genauen Moment habe ich sicher verpasst. Genau: Nicht starren. Aber gefühlt habe ich es, die ganze Zeit, und zwar ein schönes Gefühl.
Ich verlasse den Zug am gleichen Bahnhof, an dem der Alte hinausgetragen wird, mit einem letzten Blick auf ihn, lächelnd., während um mich herum das Chaos regiert. Schaffner, Gaffer, Sanitäter und Pfarrer.
Es nieselt.
Ich lecke mir den Regen von den Lippen und gehe ohne Umschauen.
Die roten Ohrenschützer in meiner Tasche leuchten.
An diesem grauen Tag.
Ein Stückchen Ruhe in Knallfarben.
 



 
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