Runde Stunde

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Willibald

Mitglied
Runde Stunde

Schwere Stunde

Kennen Sie vielleicht die „Schwere Stunde“ von Thomas Mann? Ja? Die novellistische Studie? Wow. Dann sind Sie wahrscheinlich Deutschlehrer an einem Gymnasium. Und Sie sind am Verzweifeln. Doch, geben Sie es ruhig zu. Und die anderen, die keine Deutschlehrer sind, die treffen dann auf diese Deutschlehrer, die in der Buchhandlung, sie stehen an dem Regal, wo die Ratgeber zum Glücklichsein stehen. Jeden Tag weniger ärgern. Das kleine Buch vom wahren Glück. Die sieben Gesetze des Glücks. Der Glücksfaktor. Ab heute besser drauf. Wege zum Glück. Umarme dein Glück. Glück ist kein Zufall

Ja, doch, die Deutschlehrer dort, sie könnten Bücher schreiben. Titelvorschlag:„Wie sie sich ihr Leben gründlich versauen“. Ja, versauen, seufzen die Lehrer. Und das nicht nur wegen der Korrekturen.

Sagt der Deutschpädagoge in einer 11. Klasse: „Sie sollten gestern, bevor wir heute ins Detail gehen, die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise lesen. Die drei Reclam-Seiten, das war Hausaufgabe. Also, da gibt es drei Brüder und diesen Ring des Vaters im Sterben. Na? Was fällt Ihnen dazu ein? Was haben Sie da gerade leise gesagt, Sven? Sagen Sie es laut, keine Sorge, vielleicht liegen sie richtig.
„Na, die Brüder sind vielleicht schwul?“ „Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?“. „Na, drei erwachsene Männer und sie kloppen sich um ´nen Ring.“

Oder:

„Was ist das für eine Stilfigur in Zeile 43?“ Schweigen.
„Karl, Sie sind ein intelligenter Schüler, früher hätte man gesagt, ein aufgeweckter Schüler, und wir haben schon so oft über diese Figuren gesprochen. Sie haben wirklich keine Ahnung, was das ist? Aufgeweckter Schüler: „Eine rhetorische Frage?“

Kurz und schlecht: Unser Unterricht haut keinen vom Stuhl. Aber es gibt erbauliche, es gibt tröstliche Ausnahmen, seltene Momente, seltene Stunden. Johannes Willibald Wenzel ist hierfür Zeuge und Bürge. Seine Erlebnisse, diese Geschichte jetzt, sie stützt sich auf seine tschechisch-böhmische Großmutter und seinen germanistischen Vater. Sie seien bedankt. Und wer diese Geschichte bis zum Ende aushält, möge ihnen auch danken.
?
Die Russen

Johannes war 1951 ein kleiner Junge. Der Koreakrieg machte den Leuten Angst in der kleinen Stadt am Main. Nachts träumte Johannes, dass auf das Dach eine Bombe fiel und dass alle Stockwerke bis in den Keller herunterbrachen. Sie wohnten im Erdgeschoss. Der Vater griff am Abend zu Leopold Webers „Unsere Heldensagen“ aus dem Jahre 1934, in der Schulbibliothek ausgemustert. Dietrich von Bern. Siegfried, Hagen von Tronje, Herzog Ernst. Auf dem Umschlag ein Ritter mit einem riesigen Schild, ein Helm, offenes Visier, Blick in die Ferne, rechts vom Schild ein gesenktes, langes Schwert. Blank gezogen.

Riesenstark, adlig an Antlitz und Gliedern, wuchs Dietrich heran. Lichtbraun wellte sich um die Schläfen das Haar. Versonnenen Geistes litt er lang, wenn die Spielkameraden spottend den Schweigenden reizten, geriet er aber in Grimm, dann stoben sie schreiend vor Schrecken davon, denn jählings verkehrte er sich, daß er einem Dämon gleich anzusehen war: funkensprühend sträubte sich steilauf sein Haar, und aus der entbrannten Brust schlug ihm in heißer Lohe das Feuer zum Munde hervor.
Johannes hörte angespannt zu.

Oder der Vater sprach mit geschulter Stimme:

Phol und Wodan ritten ins Holz.
Da ward dem Fohlen Balders der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Wodan, wie (nur) er es verstand:

bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sôse gelimida sin!


„Johannes, das heißt: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien.“

Die tschechisch-böhmische Großmutter aus Prag hatte anderen Trost. „Weißt Du, wenn die Russen kommen, das wird nicht so schlimm. Wir haben Hühner. Wir haben hochprozentigen Alkohol im Flascherl. Mach´ ma´ starken Eierlikör, den kriegen sie und dann lassen sie uns in Ruhe.“ Und einen Spruch hatte sie auch. Sie nahm die Hand des Kleinen. Mit dem Zeigefinger rührte sie auf dem Handteller, dann ergriff sie jeden einzelnen Finger des Jungen.

Michala myši?ka kaši?ku
(Michala mischitschka kaschischitsku)
Es rührte ein Mäuschen ein Breichen
na zeleném rendlí?ku,
in einem grünen Töpfchen
tomu dala,
dem gab es etwas
tomu taky,
dem auch
tomu málo,
dem wenig
und für diesen Kleinen
Blieb gar nichts übrig
Und der Kleine rannte, rannte
In die Speisekammer.
a tam se napapal.
Und dort aß er sich voll


Am Schluss dann lief der Finger der Großmutter in die Achselhöhle und kitzelte dort wild. — Das Kind, es kicherte und lachte und hatte keine Angst mehr.

Referendar

Johannes war 1973 erwachsen und Referendar im Zweigschuleinsatz in Fürstenfeldbruck. Viscardi-Gymnasium, ein Anfänger mit Deutsch und Latein. Seine Betreuungslehrerin in Deutsch – Frau Fischhaber – saß ihm gegenüber.

„Also Ihre Korrekturen sind sehr sorgfältig. Aber ich sag ihnen was. Zu lang. Schaun´s, ma macht sich kaputt mit solchen Romanen. Ich schreib einfach: Sprachlich oft recht geschickt, die Rechtschreibung könnte besser sein, die Gedankenführung ist meist solide, eine Gliederung ist nicht recht zu erkennen. Des sagt alles. Des glangt.

Und dann ihr Unterricht. Machen´S doch was Normales. Was im Lesebuch steht. Eine Kurzgeschichte von Borchert. Die mit der Küchenuhr. Oder die mit den Ratten. Die Merseburger Zaubersprüche. Dann leben´s länger. Moana´s, ich geh mit fünfundsechzig in Pension und stirb? Na, i stirb net, die Pension, die verputz i. Des dürfen´s ma glaubn. Ich schau mir´s an bei einem Unterrichtsbesuch. Eine runde, normale Stunde. Gell`?“

In der zehnten Klasse gab es eine neue Schülerin, Hanne Hrdy, ein tschechischer Name offensichtlich. Vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, so die Auskunft im neu eingelegten Schülerbogen. Der Jungreferendar fasste einen didaktischen Plan, für die nächste oder die übernächste Stunde. Am fraglichen Tag …. Frau Fischhaber hatte ihren Unterrichtsbesuch abgesagt („Wissen´s, in der ersten Stunde haben wir eine Besprechung im Personalrat“), aber sie wollte sich alles erzählen lassen…......am fraglichen Tag: Mit dumpfer Stimme werden Phol und Wodan präsentiert. Ben zi bena, bluot zi bluoda…. Was heißt das vielleicht in heutigem Deutsch?

Dann ein Wurmsegen, in der Version der Ougenweide-Musiker:

Gang út, nesso, mid nigun nessiklinon,
út fana themo marg? an that ben, fan themo bene an that flesg,
ut fan themo flesgke an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein, heraus aus dem Mark in den Knochen, aus den Knochen in das Fleisch, heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus der Haut auf diesen Pfeil.


Erstickungsanfall

Johannes spannte einen imaginären Bogen und schoss den Pfeil, auf dem die neun Würmer saßen, durch das offene Schulfenster. In der Klasse gedämpftes Amusement. Manche summten bei der Wiederholung des Liedes doch tatsächlich mit. Aber dann:

„Passt auf, ich tu´es ungern, ich habe es mir lange überlegt, aber ich riskier es. Ein Experiment. Es gibt im Althochdeutschen auch einen berühmten Schadenszauber. Es kann sein, dass bei unserem nächsten Spruch einer der Zuhörer geschädigt wird. Der Atem bleibt weg. Vielleicht bekommt er einen Erstickungsanfall." Hoho, glauben wir nicht.

Der Junglehrer ließ die Roll-Läden herunter, im Klassenzimmer wurde es dunkel. Er zündete eine Kerze an.

Ihr wiederholt jetzt, was ich euch vorspreche.

Michala myši?ka kaši?ku - Die Klasse sprach feierlich nach.

na zeleném rendlí?ku,
tomu dala,
tomu taky,
tomu málo,
tomu víc ..


Beim ersten tomu dala ertönte ein Prusten und Keuchen. Da es dunkel war, wusste man nicht, wer hier wahrscheinlich vom Zauber berührt und getroffen wurde. Entsetztes Schweigen in der Klasse, darin immer wieder Keuchen und Prusten. Atemnot? Ein Erstickungsanfall? Hanne Hrdy wollte sicher aufhören mit dem Lachen, aber Sie können sich vorstellen, wie das ist, wenn man weiß, was die Mitschüler gerade zu erleben glauben. Kurz: Das Lachen war nicht mehr zu stoppen. Hanne schlug mit der Hand auf den Tisch, sie warf sich zurück. Sie schnappte nach Luft. Und, Herrschaftsseiten, der Stuhl kippte.

Johannes Willi Wenzel betätigte den Lichtschalter. Die Stunde war nahezu gelaufen. Man war erschöpft. Im Nachklang übersetzten Hanne und Johannes kichernd den tschechischen Text und das Vergnügen kam vehement zurück. Und – noja, jetzt werde ich halt am besten klassisch.

Jene vernahmens; und wie die Woge des reißenden Stromes
überflutet das Land und unaufhaltsam dahinrast –
erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern,
dann aber bricht er zusammen und weithin schießen die Fluten —
also ergaben die Helden sich schließlich der krampfhaften Lachlust,
ballten die mächtigen Fäuste, es brach ihr Gelächter hera-us.
Ringsum erdröhnte der Saal und weithin scholl es nach draußen.


Da klopfte es an der Tür. Die Rollos verdunkelten noch den Raum. Zwei Schüler in der letzten Reihe lagen auf dem Boden. Die Tür wurde halb geöffnet, der Lehrer der nächsten Stunde in der Nachbarklasse schaute herein, Studiendirektor Droht, schwarzer Anzug, schwarze Aktentasche, schwarzes Brillengestell, seine Fächer: Latein und katholische Religion. Hatte wohl den Lärm gehört. Wollte wohl signalisieren, dass er da war und einschreiten könnte, wenn die Meute über die Stränge schlägt. Sah die seltsame Klassenszene, öffnete die Tür ganz:

"Was ist denn hier geschehen? Was ist los, Herr Wenzel?"
„Nun ja“, sagte der Referendar, „ein religiöses Experiment. Wir haben mit den Merseburger Zaubersprüchen gearbeitet.“

Max Brod

Am nächsten Tag, kein Schmarrn jetzt, stand Wenzel vor dem Schulgebäude, ein Herr mit Mantel und Schal kam auf ihn zu. „Sie sind hier Lehrer?“ „Ja. Deutsch und Latein ..“ „Oh, mein Vater arbeitete beim Prager Tagblatt, war gut bekannt mit Max Brod und Otto Brod, seinem Bruder. Der Name sagt Ihnen sicher nichts?“ „Doch, Max Brod hat die Bücher von Franz Kafka herausgegeben. Obwohl Kafka ihn darum gebeten hatte, alle Aufzeichnungen zu verbrennen.“

„No, da kann ich Ihnen was erzählen. Max kam zu Otto Brod und meinem Vater, als Franz gestorben war. Was soll ich nur machen, was soll ich nur machen? Der letzte Wille vom Franz war, dass ich alles verbrennen soll. Nix soll veröffentlicht werden. Ich hab´s ihm schwören müssen. ....No, Max, weißt was. Die vom Franz gibst du heraus. Verbrennen tust die deinigen.. Meinen´s Ihr Direktor hätte Interesse, wenn ich an der Schule einen Vortrag halte?“ „Das ist eine gute Geschichte“, sagte Johannes.

Ougenweide: Merseburger Zaubersprüche
https://www.youtube.com/watch?v=emQDgoKOxog
https://www.youtube.com/watch?v=-r4kPvaYUgY

Leopold Weber: Unsere Heldensagen
https://img.oldthing.net/2515/29160333/0/n/Weber-Leopold-Unsere-Heldensagen.jpg

Das tschechische Fingerspiel
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE

Tschechisch-Deutscher Skaz (Jaromir Konecny)
https://www.youtube.com/watch?v=_m4lDIJLebk
 

Willibald

Mitglied
Bläid gloffn.

Kennen Sie vielleicht die „Schwere Stunde“ von Thomas Mann? Ja? Die novellistische Studie? Wow. Dann sind Sie wahrscheinlich Deutschlehrer an einem Gymnasium. Und Sie sind am Verzweifeln. Doch, geben Sie es ruhig zu. Und die anderen, die keine Deutschlehrer sind, die treffen dann auf diese verzweifelten Deutschlehrer, die in der Buchhandlung. An dem Regal stehen sie, wo die Ratgeber zum Glücklichsein stehen: Jeden Tag weniger ärgern. Das kleine Buch vom wahren Glück. Die sieben Gesetze des Glücks. Der Glücksfaktor. Ab heute besser drauf. Wege zum Glück. Umarme dein Glück. Glück ist kein Zufall. Aber jetzt mal ganz ehrlich. Kommen Sie zu diesem Regal, um Deutschlehrer anzuschauen?

Also gut, wenn Sie auch aus Verzweiflung da sind und das zugeben, dann bleiben wir bei den Deutschlehrern. Diese Unglücklichen, arme Würmer wie Sie auch, sie könnten ganze Bücher über das Unglück schreiben. Titelvorschlag: Wie Sie sich ihr Leben gründlich versauen. Und schon kommt die seufzende Bestätigung. Ja, versauen, summen ringsum leise die Lehrer. Und das nicht nur wegen der Korrekturen.

Weil?
Sagt man zum Beispiel zu seiner 11. Klasse: „Sie sollten gestern, bevor wir heute ins Detail gehen, die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise schon mal im Voraus lesen. Die drei Reclam-Seiten, das war Hausaufgabe. Also, da gibt es drei Brüder und diesen Ring des sterbenden Vaters. Überlegungen dazu? Erste Ansätze? Na? Was ist Ihnen dazu eingefallen? Ist Ihnen etwas aufgefallen?"
Lastende Stille und fröhlich-entspannte Resignation.
"Was fällt Ihnen dazu jetzt ein? Was haben Sie da gerade leise gesagt, Sven? Sagen Sie es laut, keine Sorge, vielleicht liegen sie richtig."
„Ok, die sind vielleicht schwul, die Brüder?“
„Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?“
„Na, drei erwachsene Männer und sie schlägern sich um ´nen Ring.“

Oder ihr schaut hier herein. Ich darf jetzt doch das "Sie" aufgeben? Wo doch die Mühseligen und Beladenen unter sich sind? Freunde! Schaut auf dieses Klassenzimmer. Hinten links lauscht einer dem Unterricht, ein Student für Lehramt. Er hospitiert seit einer Woche in der Gymnasialklasse. Da die Schüler ihn nicht ernst nehmen und kaum mehr beachten, hat er die Möglichkeit einer realitätsnahen szenischen Mitschrift:

Lehrer: „Was ist das für eine Stilfigur in Zeile 43?“
Schweigen. Zunehmend intensiv.
"Eine Anapher, eine Epipher? Ein Parallelismus?", der Lehrer lächelt noch.
"Eine Metapher, ein Chiasmus, ein Paradoxon, eine rhetorische Frage, eine Tautologie, eine Metonymie.....?"
Schüler Peter vorne: "Almächd! Woss isn däss?!“
Lehrer (Peter ignorierend, wendet sich an Peters Nebenmann):
„Karl, Sie sind ein intelligenter, guter Schüler, früher hätte man gesagt, ein aufgeweckter Schüler, während die anderen gern pennen."
Beifälliges, betont langsames Nicken der Restklasse: "Karl ist ein Streber, der pennt net."
"Und wir haben doch schon so oft über diese Figuren gesprochen. Und wie man sie erkennen kann. Die Liste mit den rhetorischen Figuren. Das ausgeteilte Blatt."
Stimmen aus der Klasse: "Die Blätter."
"Ja, ja, ist ja gut.
Also, Karl. Sie haben doch sicher eine Ahnung, was das für eine rhetorische Figur ist?"
"Wo nimmstn die Energie bloß her, Karli?"
O je, Sebastian, drei Reihen dahinter, der dialektalen Färbung nach kommt er aus Österreich.
"Etz ärcher dich ned, Karli."
Wieder der Allmächd. Und macht nochmal das Maul auf:
"Dousd mer fei echt leid, Karli."
"Bitte, Karl. Stimmen Sie mir zu, dass uns diese Witze völlig egal sein können? Ja?
Also was war das jetzt für eine Stilfigur"?
Karl öffnet endlich den Mund, antwortet mit Frageintonation: „Eine rhetorische Frage?“
Beobachter ( still für sich):
Was für ein fetter Punch. Egal, ob das jetzt gezielt war oder nicht. Aber war es wahrscheinlich. Weil: Die Klasse reagiert.
Schüler Peter vorne: "He, he."
Er dreht sich um, grinst nach hinten, auch zum hospitierenden Unterrichtszeugen, dann wieder nach vorne in Richtung Lehrer, ohne ihn direkt anzuschauen sagt er:
"Bläid gloffn?"
Lehrer, den Dialekt imitierend und zum Beobachter blickend:
"Bläid gloffn, jo. Abber däss is scho a archer Verein.“
Kurz und gar nicht gut: Dieser Deutsch-Unterricht haut keinen vom Stuhl. Aber es gibt erbauliche, es gibt tröstliche Ausnahmen, seltene Momente, seltene Stunden. Johannes Willibald Wenzel ist hierfür Zeuge und Bürge. Seine Erlebnisse, diese Geschichte jetzt, sie birgt für aufmerksame Leser und müde Pädagogen Potential robuster Rekreation und reifer Resilienz, sie kann punktuell beglücken und Niedergeschlagenheit lindern, sie kann Lebensmut restituieren. Sie stützt sich auf Wenzels tschechisch-böhmische Großmutter und seinen germanistischen Vater. Sie seien beide bedankt. Und wer diese lange Geschichte bis zum Schluss aushält, bis hin zu Max Brod und Franz Kafka und dem heiligen Nepomuk, dem möge Vater Wenzel und Großmutter Wenzel am Ende auch zulächeln.
?
Mach´ ma´ starken Eierlikör

Johannes war 1951 ein kleiner Junge. Der Koreakrieg machte den Leuten Angst in der kleinen Stadt am Main. Nachts träumte Johannes, dass auf das Dach eine Bombe fiel und dass alle Stockwerke bis in den Keller herunterbrachen. Sie wohnten im Erdgeschoss. Was hast Du Schlimmes geträumt, Johannes?

Oh, je, da machen wir was. Der germanistische Vater griff in den Bücherschrank - da war Gegenzauber - zu Leopold Webers „Unsere Heldensagen“ aus dem Jahre 1934, in der Schulbibliothek ausgemustert. Dietrich von Bern. Siegfried, Hagen von Tronje, Herzog Ernst. Auf dem Umschlag ein Ritter mit einem riesigen Schild, ein Helm, offenes Visier, Blick in die Ferne, rechts vom Schild ein gesenktes, langes Schwert. Blank gezogen. Schaut euch vielleicht doch den Link an: https://img.oldthing.net/2515/29160333/0/n/Weber-Leopold-Unsere-Heldensagen.jpg. Das verlängert die Lektüre, aber auch das Vergnügen.

Riesenstark, adlig an Antlitz und Gliedern, wuchs Dietrich heran. Lichtbraun wellte sich um die Schläfen das Haar. Versonnenen Geistes litt er lang, wenn die Spielkameraden spottend den Schweigenden reizten, geriet er aber in Grimm, dann stoben sie schreiend vor Schrecken davon, denn jählings verkehrte er sich, daß er einem Dämon gleich anzusehen war: funkensprühend sträubte sich steilauf sein Haar, und aus der entbrannten Brust schlug ihm in heißer Lohe das Feuer zum Munde hervor.

Johannes hörte angespannt zu. Die Stimme des Vaters. Dietrich. Das bannte. Das brannte. Das spannte die Muskeln. Kämpfen und Hauen.

Und der Vater las laut mit geschulter Stimme Merseburger Zaubersprüche:

Phol und Wodan ritten ins Holz.
Da ward dem Fohlen Balders der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Wodan, wie (nur) er es verstand:
bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sôse gelimida sin!


„Johannes, das heißt: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien.“
Johannes atmete tief aus. Knochen gebrochen, davon hatte er schon gehört.
Ein Motorradfahrer auf der Mainbrücke. Knochen leimen, die gebrochen waren, mit Vater als Zauberer.
Er wunderte sich ein bisschen.
"Naja", sagte der Vater, "eigentlich nur verrenkt. Aber der Spruch ist sehr stark."
Johannes wurde ruhig.

Die tschechisch-böhmische Großmutter aus Prag hatte anderen Trost.
„Weißt Du, wenn die Russen kommen, das wird nicht so schlimm. Wir haben unsere Hühner im Garten. Wir haben Eier. Wir haben hochprozentigen Alkohol im Flascherl. Mach´ ma´ starken Eierlikör, den kriegen sie und dann lassen sie uns in Ruh.“
Und einen magischen Spruch hatte sie auch. Sie nahm die Hand des Kleinen.

Michala myši?ka kaši?ku (Michala mischitschka kaschischitsku)
Es rührte ein Mäuschen ein Breichen

Großmutters Finger kreisten auf dem Handteller von Johannes, ringsum die Finger warteten.
na zeleném rendlí?ku,
in einem grünen Töpfchen

Sie zupfte jeden einzelnen Finger des Jungen.
tomu dala,
dem gab es etwas
tomu taky,
dem auch
tomu málo,
dem wenig
und für diesen Kleinen
Blieb gar nichts übrig
Und der Kleine rannte, rannte.

In die Speisekammer.

Jetzt lief der Finger der Großmutter in die Achselhöhle und kitzelte dort wie wild.
a tam se napapal.
Und dort aß er sich voll.


Das Kind, es kicherte und lachte und hatte überhaupt keine Angst mehr.
Vielleicht schaut ihr es euch an, das Kind im Link:
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE
Großmütter. Sie machen uns glücklich, wenn wir klein sind.
Und später fehlen sie uns.
Aber wir machen unsere Enkel glücklich.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein

Johannes war 1973 erwachsen und Referendar im Zweigschuleinsatz in Fürstenfeldbruck. Viscardi-Gymnasium, ein Anfänger mit Deutsch und Latein. Seine Betreuungslehrerin in Deutsch – Frau Fischhaber – saß ihm gegenüber.
„Also Ihre Korrekturen sind sehr sorgfältig. Aber ich sag ihnen was. Ihre Schlussbemerkungen bei Schulaufgaben. Zu lang. Viel zu lang. Schaun´s, ma macht sich kaputt mit solchen Wenzel-Romanen. Ich schreib einfach: Sprachlich oft recht geschickt, die Rechtschreibung könnte besser sein, die Gedankenführung ist meist solide, eine Gliederung ist nicht recht zu erkennen. Des sagt alles. Des glangt.

Und dann ihr Unterricht. Machen´S doch was Normales. Was im Lesebuch steht. Eine Kurzgeschichte von Borchert. Die mit der Küchenuhr. Oder die mit den Ratten. Die Merseburger Zaubersprüche. Dann leben´s länger. Moana´s, ich geh mit fünfundsechzig in Pension und stirb? Na, i stirb net, die Pension, die verputz i. Des dürfen´s ma glaubn. Ich schau mir´s an bei einem Unterrichtsbesuch. Eine runde, normale Stunde. Gell`?“
Dann - in der Pause im Lehrerzimmer - sagte sie ihren Besuch ab: "Wissen´s, jetzat, die Deutschschulaufgaben, des is a Kreuz, korrigieren muss i ah in meine Freistunden. Dann muss i´s Protokoll no schreib´n vom Personalrat. Machen´s was Schönes, was Normales.
I lass mir dann erzählen, wie´s war."

In der zehnten Klasse gab es eine neue Schülerin, Hanne Hrdy. Ein tschechischer Name? Ja. Vor sechs Jahren aus Prag nach Deutschland gekommen, so die Auskunft im neu eingelegten Schülerbogen. Der Jungreferendar fasste einen didaktischen Plan für eine richtig runde Stunde mit den "Merseburger Zaubersprüchen" im Lesebuch und ganz anderem, brachte eine dicke Kerze mit, eine Schallplatte der Gruppe Ougenweide und organisierte einen Plattenspieler aus dem staubigen Medienraum und dann kam die runde Stunde und die Äktschen erinnerte an Arnold Schwarzeneggers magischen Einstieg in "Conan, der Barbar".

Mit dumpfer Stimme Phol und Wodan präsentieren:
Ben zi bena, bluot zi bluoda….
Vater Wenzel hörte aus dem Jenseits vergnügt zu.

Was heißt das vielleicht in heutigem Deutsch? Fünfzehn Minuten etwa.

Dann ein Pferdesegen, gegen Würmer ("contra vermes"), in der Version der Ougenweide-Musiker, Schallplattenspieler an:

Gang út, nesso, mid nigun nessiklinon,
út fana themo marg? an that ben, fan themo bene an that flesg,
ut fan themo flesgke an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein,
heraus aus dem Mark in den Knochen, aus den Knochen in das Fleisch,
heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus der Haut auf diesen Pfeil.


Johannes spannte einen imaginären Bogen und schoss den Pfeil, auf dem die neun Würmer saßen, durch das offene Schulfenster hinaus in den Hof. In der Klasse gedämpftes Amusement. Manche summten bei der Wiederholung des Liedes doch tatsächlich mit: https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q

Nochmal 15 Minuten vergingen von den 45 Minuten der Schulstunde.
Doch, ist magisch und ein Ohrwurm, sollte man aufgemacht haben, den Link.

Erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern

Aber dann:
„Passt auf, ich tu´es ungern, ich habe es mir lange überlegt, aber ich riskier es. Ein Experiment. Es gibt im Althochdeutschen einen berühmten Schadenzauber, sowas wie Woodoo, mit vielen bösartig zischenden Lauten, zum Erledigen von Feinden, zum Abwehren von Unholden. Es kann sein, dass bei diesem Spruch jemand hier geschädigt wird. Der Atem bleibt ihm weg. Vielleicht bekommt er einen Erstickungsanfall."
Hoho, glauben wir nicht.
Schmarrn.
Sie vielleicht?
Der Junglehrer schloss mit ernstem Gesicht das Fenster, ließ die Roll-Läden herunter, im Klassenzimmer wurde es dunkel. Er zündete vorne am Pult die dicke Kerze an, hielt sie hoch, so dass nur sein sprechendes Haupt von der Flamme erhellt wurde und schaute verhangen in die Finsternis ringsum - Ihr wiederholt jetzt jede Zeile, die ich euch vorspreche - und begann auswendig den Großmutter-kitzelt-Johannes-Spiel-Text:

Michala myši?ka kaši?ku
Die Klasse sprach dies feierlich nach, die folgenden Zeilen auch.
na zeleném rendlí?ku,
tomu dala,
tomu taky,
tomu málo,
tomu víc ..


Beim dritten "tomu" ertönte ein Prusten und Keuchen. Da es im Zimmer dunkel war, wurde man unsicher. Was war da los? Nach dem vierten "tomu" angespanntes Schweigen in der Klasse: da war ununterbrochenes Keuchen und Prusten. Die Hanne? Atemnot? Der Erstickungsanfall?

Was schlug da Funken, was versetzte uns in Schwingungen, was entstand da für ein Kraftfeld, wurde stark und stärker und pulsierte im Raum? Nach Pferdesegen und Wurmvertreibung, germanischem Zauber, diesmal keine Heilung, vielmehr germanische Verwünschung und Schädigung. Natürlich glaubt keiner daran, dass so etwas jetzt ernsthaft vom Lehrer kommt und funktioniert. Auch Hanne Hrdy nicht. Aber sie hört in den "üblen Zischlauten" plötzlich den tschechischen Fingerspieltext. Nun ist ihr klar: die Klasse wird hereingelegt, jetzt aber hat sie den Durchblick. Ob sie will oder nicht, die Harmlosigkeit des Mäusleintextes im Kontrast zum Woodoo, da muss man prustend lachen. Dass das in der Dunkelheit wie japsende Atemnot wirkt, verstärkt die Komik. Man muss sich nur vorstellen, wie das Prusten auf die anderen wirkt, und man kann gar nicht mehr aufhören.

Spaß über Spaß. Tschechische Wörter als germanische Zischlaute, Händekitzeln als schwarze Magie, rhythmisches Rühren auf der Handfläche als Schadenszauber. Erschrockener Kollaps aller Skepsis, Multiplex- Ekstase bei den zwei Eingeweihten, Johannes konnte sie gerade noch tarnen, Hanne nicht. Lasst es mich ein wenig flapsig sagen: Die eskalierende, um sich greifende Komik kickt einen fast ins Koma, kannst du nix gegen machen, fast nix.

Hanne versuchte es, sie rettete sich durch Bewegung, sie patschte nämlich mit Armen und Händen voraus flach auf den Tisch, dann warf sie sich nach hinten und schnappte nach Luft. Und wirklich jetzt, bei dieser Bewegung rückwärts, Herrschaftsseiten, kippte auch noch der Stuhl. Johannes Willi Wenzel reagierte endlich, er hob schmallippig und beruhigend die Hand, drehte sich um, betätigte den Lichtschalter und es wurde hell: Aber die Szene blieb rätselhaft dunkel. Hannes Stuhl lag auf dem Boden, sie hob ihn auf und setzte sich wieder. Dabei kicherte und gluckste sie unaufhörlich. Irgendwie ein Lachanfall? Der nicht zu stoppen ist?

Was soll man noch viel erzählen? Naja, eigentlich doch noch einiges: Als Hanne und Johannes sich schließlich gefangen hatten, klärten sie kichernd auf. Und als man ringsum kapierte, dass das ein tschechischer Kinderkitzelreim war und nur Hanne ihn verstanden hatte und alle anderen einen germanischen Zauberspruch und Angst um sie hatten, da brach noch einmal, diesmal kollektiv, unbändiges Glucksen und Gelächter aus. Es war wie im aristotelischen Drama, in der Komödie, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Akteure. Nein, nicht ganz: Hier wussten die zwei Akteure mehr als die Zuschauer und beobachteten beim Publikum die Hamartia (Verkennung) und die endlich erfolgende Anagnorisis, das Umschlagen von Unwissen zu Wissen. Und dann blickt das Publikum voller Wonne darauf zurück, wie es sich verrannt hatte. Und der slow-burner germanisch-tschechischer Schadenszauber zündet die dritte und vierte Stufe. Ihr werdet mir die Dramen-Theorie verzeihen. Und hoffentlich auch nachsehen, dass es jetzt ganz kurz – versprochen - mit sieben klassisch-homerischen Hexametern weitergeht. Es ist das die angemessene Sprache, eine homerische Ode an die Freude und das Lachen:

Jetzt nun verstand man; und wie die Woge des reißenden Stromes
überflutet das Land und unaufhaltsam dahinrast –
erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern,
dann aber bricht er zusammen und weithin schießen die Fluten —
also ergaben die Schüler sich schließlich der krampfhaften Lachlust,
ballten die schmächtigen Fäuste, es brach ihr Gelächter hera-us.
Ringsum erdröhnte der Saal und weithin scholl es nach draußen.


Und siehe. Draußen klopft es an der Tür. Die Tür wird halb geöffnet, der Lehrer der nächsten Stunde in der Nachbarklasse schaut herein, Studiendirektor Droht, schwarzer Anzug, schwarze Aktentasche, schwarzes Brillengestell, seine Fächer: Latein und katholische Religion. Die Rollos verdunkeln noch den Raum. Das Licht ist an. Die Kerze brennt vorne auf dem Pult. Zwei Schüler in der letzten Reihe liegen quer über den Tischen. Alles irgendwie disparat und derangiert, wirr. Junger Kollege das, ihm ist der Unterricht entglitten. Aber recht ruhig ist er, unangemessen ruhig. Seltsam.
"Was ist denn hier los? Was ist hier geschehen, Herr Wenzel?"
„Nun ja“, sagte der Referendar, „ein religiöses Experiment. Wir haben mit den Merseburger Zaubersprüchen gearbeitet.“

Franz Kafka und Max Brod und Rainer Maria Rilke und Nepomuk

Am nächsten Tag, kein Schmarrn jetzt, stand Wenzel vor dem Schulgebäude an der Bushaltestelle, ein älterer Herr - langer schwarzer Mantel, etwas angegriffener Pelzkragen, weißes Halstuch von Seide - kam auf ihn zu.
„Sie sind hier Lehrer?“
„Ja. Deutsch und Latein ..“
„Oh, mein Vater arbeitete beim Prager Tagblatt, war gut bekannt mit Max Brod und Otto Brod, dem Bruder. Die Namen sagen Ihnen sicher nichts?“
„Doch, Max Brod hat die Bücher von Franz Kafka herausgegeben. Obwohl Kafka ihn darum gebeten hatte, alle Aufzeichnungen zu verbrennen.“
„No, da kann ich Ihnen was erzählen. Max kam zu Otto Brod und meinem Vater, als Franz gestorben war. Was soll ich nur machen, was soll ich nur machen? Der letzte Wille vom Franzel war, dass ich alles verbrennen soll. Nix soll veröffentlicht werden. Ich hab´s ihm schwören müssen. Was soll ich nur machen?.... No, Max, weißt was. Die vom Franz gibst du heraus. Verbrennen tust die deinigen.. Meinen´s Ihr Direktor hätte Interesse, wenn ich an der Schule einen Vortrag halte?“
„Das ist eine wirklich gute Geschichte“, meinte Johannes, "ich sage im Sekretariat Bescheid." Dann lächelte Johannes: "Übrigens, meine Großmutter stammt aus Prag, mein Vater hat in Prag Germanistik studiert und ich verstehe ein bisschen Tschechisch."
"Dann können Sie ja sicher Bemmisch!"
"Schon."
Der Mann rollte mit den Augen und begann ein frühes Gedicht von Rilke zu zitieren:

"Große Hajlige unt klajne
fajert jägliche Gemajne.
Aber disä Nepomuken!
Fon des Torganx Luken guken
Unt fon allen Bruken schpuken
lautrlautr Nepomuken."

Ach! Sein Vater und seine Großmutter lächelten gewiss aus dem Jenseits herab, als Johannes das bemmische Gedicht hochdeutsch rezitierte:

"Große Heilige und kleine
feiert jegliche Gemeine.
Aber diese Nepomuken!
Von des Torgangs Luken gucken
und auf allen Brucken spuken
lauter, lauter Nepomuken!"

Hach! Frau Fischhaber oben im Lehrerzimmer, die würde sich wundern.


Appetizer für Aficionados:

Ougenweide: Merseburger Zaubersprüche, am Schluss der Pferdesegen gegen die Würmer mit dem Pfeil
https://www.youtube.com/watch?v=emQDgoKOxog
https://www.youtube.com/watch?v=-r4kPvaYUgY
https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q

Leopold Weber: Unsere Heldensagen
https://img.oldthing.net/2515/29160333/0/n/Weber-Leopold-Unsere-Heldensagen.jpg

Das tschechische Fingerspiel
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE

Tschechisch-Deutsch wie bei Großmutter (Jaromir Konecny)
http://www.jaromir-konecny.de/Kabarett/mobile/
 

Willibald

Mitglied
Bläid gloffn.

Kennen Sie vielleicht die „Schwere Stunde“ von Thomas Mann? Ja? Die novellistische Studie? Wow. Dann sind Sie wahrscheinlich Deutschlehrer an einem Gymnasium. Und Sie sind am Verzweifeln. Doch, geben Sie es ruhig zu. Und die anderen, die keine Deutschlehrer sind, die treffen dann auf diese verzweifelten Deutschlehrer, die in der Buchhandlung. An dem Regal stehen sie, wo die Ratgeber zum Glücklichsein stehen: Jeden Tag weniger ärgern. Das kleine Buch vom wahren Glück. Die sieben Gesetze des Glücks. Der Glücksfaktor. Ab heute besser drauf. Wege zum Glück. Umarme dein Glück. Glück ist kein Zufall. Aber jetzt mal ganz ehrlich. Kommen Sie zu diesem Regal, um Deutschlehrer anzuschauen?

Also gut, wenn Sie auch aus Verzweiflung da sind und das zugeben, dann bleiben wir bei den Deutschlehrern. Diese Unglücklichen, arme Würmer wie Sie auch, sie könnten ganze Bücher über das Unglück schreiben. Titelvorschlag: Wie Sie sich ihr Leben gründlich versauen. Und schon kommt die seufzende Bestätigung. Ja, versauen, summen ringsum leise die Lehrer. Und das nicht nur wegen der Korrekturen.

Weil?
Sagt man zum Beispiel zu seiner 11. Klasse: „Sie sollten gestern, bevor wir heute ins Detail gehen, die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise schon mal im Voraus lesen. Die drei Reclam-Seiten, das war Hausaufgabe. Also, da gibt es drei Brüder und diesen Ring des sterbenden Vaters. Überlegungen dazu? Erste Ansätze? Na? Was ist Ihnen dazu eingefallen? Ist Ihnen etwas aufgefallen?"
Lastende Stille und fröhlich-entspannte Resignation.
"Was fällt Ihnen dazu jetzt ein? Was haben Sie da gerade leise gesagt, Sven? Sagen Sie es laut, keine Sorge, vielleicht liegen sie richtig."
„Ok, die sind vielleicht schwul, die Brüder?“
„Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?“
„Na, drei erwachsene Männer und sie schlägern sich um ´nen Ring.“

Oder ihr schaut hier herein. Ich darf jetzt doch das "Sie" aufgeben? Wo doch die Mühseligen und Beladenen unter sich sind? Freunde! Schaut auf dieses Klassenzimmer. Hinten links lauscht einer dem Unterricht, ein Student für Lehramt. Er hospitiert seit einer Woche in der Gymnasialklasse. Da die Schüler ihn nicht ernst nehmen und kaum mehr beachten, hat er die Möglichkeit einer realitätsnahen szenischen Mitschrift:

Lehrer: „Was ist das für eine Stilfigur in Zeile 43?“
Schweigen. Zunehmend intensiv.
"Eine Anapher, eine Epipher? Ein Parallelismus?", der Lehrer lächelt noch.
"Eine Metapher, ein Chiasmus, ein Paradoxon, eine rhetorische Frage, eine Tautologie, eine Metonymie.....?"
Schüler Peter vorne: "Almächd! Woss isn däss?!“
Lehrer (Peter ignorierend, wendet sich an Peters Nebenmann):
„Karl, Sie sind ein intelligenter, guter Schüler, früher hätte man gesagt, ein aufgeweckter Schüler, während die anderen gern pennen."
Beifälliges, betont langsames Nicken der Restklasse: "Karl ist ein Streber, der pennt net."
"Und wir haben doch schon so oft über diese Figuren gesprochen. Und wie man sie erkennen kann. Die Liste mit den rhetorischen Figuren. Das ausgeteilte Blatt."
Stimmen aus der Klasse: "Die Blätter."
"Ja, ja, ist ja gut.
Also, Karl. Sie haben doch sicher eine Ahnung, was das für eine rhetorische Figur ist?"
"Wo nimmstn die Energie bloß her, Karli?"
O je, Sebastian, drei Reihen dahinter, der dialektalen Färbung nach kommt er aus Österreich.
"Etz ärcher dich ned, Karli."
Wieder der Allmächd. Und macht nochmal das Maul auf:
"Dousd mer fei echt leid, Karli."
"Bitte, Karl. Stimmen Sie mir zu, dass uns diese Witze völlig egal sein können? Ja?
Also was war das jetzt für eine Stilfigur"?
Karl öffnet endlich den Mund, antwortet mit Frageintonation: „Eine rhetorische Frage?“
Beobachter ( still für sich):
Was für ein fetter Punch. Egal, ob das jetzt gezielt war oder nicht. Aber war es wahrscheinlich. Weil: Die Klasse reagiert.
Schüler Peter vorne: "He, he."
Er dreht sich um, grinst nach hinten, auch zum hospitierenden Unterrichtszeugen, dann wieder nach vorne in Richtung Lehrer, ohne ihn direkt anzuschauen sagt er:
"Bläid gloffn?"
Lehrer, den Dialekt imitierend und zum Beobachter blickend:
"Bläid gloffn, jo. Abber däss is scho a archer Verein.“
Kurz und gar nicht gut: Dieser Deutsch-Unterricht haut keinen vom Stuhl. Aber es gibt erbauliche, es gibt tröstliche Ausnahmen, seltene Momente, seltene Stunden. Johannes Willibald Wenzel ist hierfür Zeuge und Bürge. Seine Erlebnisse, diese Geschichte jetzt, sie birgt für aufmerksame Leser und müde Pädagogen Potential robuster Rekreation und reifer Resilienz, sie kann punktuell beglücken und Niedergeschlagenheit lindern, sie kann Lebensmut restituieren. Sie stützt sich auf Wenzels tschechisch-böhmische Großmutter und seinen germanistischen Vater. Sie seien beide bedankt. Und wer diese lange Geschichte bis zum Schluss aushält, bis hin zu Max Brod und Franz Kafka und dem heiligen Nepomuk, dem möge Vater Wenzel und Großmutter Wenzel am Ende auch zulächeln.
?
Mach´ ma´ starken Eierlikör

Johannes war 1951 ein kleiner Junge. Der Koreakrieg machte den Leuten Angst in der kleinen Stadt am Main. Nachts träumte Johannes, dass auf das Dach eine Bombe fiel und dass alle Stockwerke bis in den Keller herunterbrachen. Sie wohnten im Erdgeschoss. Was hast Du Schlimmes geträumt, Johannes?

Oh, je, da machen wir was. Der germanistische Vater griff in den Bücherschrank - da war Gegenzauber - zu Leopold Webers „Unsere Heldensagen“ aus dem Jahre 1934, in der Schulbibliothek ausgemustert. Dietrich von Bern. Siegfried, Hagen von Tronje, Herzog Ernst. Auf dem Umschlag ein Ritter mit einem riesigen Schild, ein Helm, offenes Visier, Blick in die Ferne, rechts vom Schild ein gesenktes, langes Schwert. Blank gezogen. Schaut euch vielleicht doch den Link an: https://img.oldthing.net/2515/29160333/0/n/Weber-Leopold-Unsere-Heldensagen.jpg. Das verlängert die Lektüre, aber auch das Vergnügen.

Riesenstark, adlig an Antlitz und Gliedern, wuchs Dietrich heran. Lichtbraun wellte sich um die Schläfen das Haar. Versonnenen Geistes litt er lang, wenn die Spielkameraden spottend den Schweigenden reizten, geriet er aber in Grimm, dann stoben sie schreiend vor Schrecken davon, denn jählings verkehrte er sich, daß er einem Dämon gleich anzusehen war: funkensprühend sträubte sich steilauf sein Haar, und aus der entbrannten Brust schlug ihm in heißer Lohe das Feuer zum Munde hervor.

Johannes hörte angespannt zu. Die Stimme des Vaters. Dietrich. Das bannte. Das brannte. Das spannte die Muskeln. Kämpfen und Hauen.

Und der Vater las laut mit geschulter Stimme Merseburger Zaubersprüche:

Phol und Wodan ritten ins Holz.
Da ward dem Fohlen Balders der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Wodan, wie (nur) er es verstand:
bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sôse gelimida sin!


„Johannes, das heißt: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien.“
Johannes atmete tief aus. Knochen gebrochen, davon hatte er schon gehört.
Ein Motorradfahrer auf der Mainbrücke. Knochen leimen, die gebrochen waren, mit Vater als Zauberer.
Er wunderte sich ein bisschen.
"Naja", sagte der Vater, "eigentlich nur verrenkt. Aber der Spruch ist sehr stark."
Johannes wurde ruhig.

Die tschechisch-böhmische Großmutter aus Prag hatte anderen Trost.
„Weißt Du, wenn die Russen kommen, das wird nicht so schlimm. Wir haben unsere Hühner im Garten. Wir haben Eier. Wir haben hochprozentigen Alkohol im Flascherl. Mach´ ma´ starken Eierlikör, den kriegen sie und dann lassen sie uns in Ruh.“
Und einen magischen Spruch hatte sie auch. Sie nahm die Hand des Kleinen.

Michala myši?ka kaši?ku (Michala mischitschka kaschischitsku)
Es rührte ein Mäuschen ein Breichen

Großmutters Finger kreisten auf dem Handteller von Johannes, ringsum die Finger warteten.
na zeleném rendlí?ku,
in einem grünen Töpfchen

Sie zupfte jeden einzelnen Finger des Jungen.
tomu dala,
dem gab es etwas[/size]
tomu taky,
dem auch
tomu málo,
dem wenig
und für diesen Kleinen
Blieb gar nichts übrig
Und der Kleine rannte, rannte.
In die Speisekammer.

Jetzt lief der Finger der Großmutter in die Achselhöhle und kitzelte dort wie wild.
a tam se napapal.
Und dort aß er sich voll.


Das Kind, es kicherte und lachte und hatte überhaupt keine Angst mehr.
Vielleicht schaut ihr es euch an, das Kind im Link:
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE
Großmütter. Sie machen uns glücklich, wenn wir klein sind.
Und später fehlen sie uns.
Aber wir machen unsere Enkel glücklich.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein

Johannes war 1973 erwachsen und Referendar im Zweigschuleinsatz in Fürstenfeldbruck. Viscardi-Gymnasium, ein Anfänger mit Deutsch und Latein. Seine Betreuungslehrerin in Deutsch – Frau Fischhaber – saß ihm gegenüber.
„Also Ihre Korrekturen sind sehr sorgfältig. Aber ich sag ihnen was. Ihre Schlussbemerkungen bei Schulaufgaben. Zu lang. Viel zu lang. Schaun´s, ma macht sich kaputt mit solchen Wenzel-Romanen. Ich schreib einfach: Sprachlich oft recht geschickt, die Rechtschreibung könnte besser sein, die Gedankenführung ist meist solide, eine Gliederung ist nicht recht zu erkennen. Des sagt alles. Des glangt.

Und dann ihr Unterricht. Machen´S doch was Normales. Was im Lesebuch steht. Eine Kurzgeschichte von Borchert. Die mit der Küchenuhr. Oder die mit den Ratten. Die Merseburger Zaubersprüche. Dann leben´s länger. Moana´s, ich geh mit fünfundsechzig in Pension und stirb? Na, i stirb net, die Pension, die verputz i. Des dürfen´s ma glaubn. Ich schau mir´s an bei einem Unterrichtsbesuch. Eine runde, normale Stunde. Gell`?“
Dann - in der Pause im Lehrerzimmer - sagte sie ihren Besuch ab: "Wissen´s, jetzat, die Deutschschulaufgaben, des is a Kreuz, korrigieren muss i ah in meine Freistunden. Dann muss i´s Protokoll no schreib´n vom Personalrat. Machen´s was Schönes, was Normales.
I lass mir dann erzählen, wie´s war."

In der zehnten Klasse gab es eine neue Schülerin, Hanne Hrdy. Ein tschechischer Name? Ja. Vor sechs Jahren aus Prag nach Deutschland gekommen, so die Auskunft im neu eingelegten Schülerbogen. Der Jungreferendar fasste einen didaktischen Plan für eine richtig runde Stunde mit den "Merseburger Zaubersprüchen" im Lesebuch und ganz anderem, brachte eine dicke Kerze mit, eine Schallplatte der Gruppe Ougenweide und organisierte einen Plattenspieler aus dem staubigen Medienraum und dann kam die runde Stunde und die Äktschen erinnerte an Arnold Schwarzeneggers magischen Einstieg in "Conan, der Barbar".

Mit dumpfer Stimme Phol und Wodan präsentieren:
Ben zi bena, bluot zi bluoda….
Vater Wenzel hörte aus dem Jenseits vergnügt zu.

Was heißt das vielleicht in heutigem Deutsch? Fünfzehn Minuten etwa.

Dann ein Pferdesegen, gegen Würmer ("contra vermes"), in der Version der Ougenweide-Musiker, Schallplattenspieler an:

Gang út, nesso, mid nigun nessiklinon,
út fana themo marg? an that ben, fan themo bene an that flesg,
ut fan themo flesgke an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala.

Geh raus, Wurm, mit neun Würmelein,
heraus aus dem Mark in den Knochen, aus den Knochen in das Fleisch,
heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus der Haut auf diesen Pfeil.


Johannes spannte einen imaginären Bogen und schoss den Pfeil, auf dem die neun Würmer saßen, durch das offene Schulfenster hinaus in den Hof. In der Klasse gedämpftes Amusement. Manche summten bei der Wiederholung des Liedes doch tatsächlich mit: https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q

Nochmal 15 Minuten vergingen von den 45 Minuten der Schulstunde.
Doch, ist magisch und ein Ohrwurm, sollte man aufgemacht haben, den Link.

Erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern

Aber dann:
„Passt auf, ich tu´es ungern, ich habe es mir lange überlegt, aber ich riskier es. Ein Experiment. Es gibt im Althochdeutschen einen berühmten Schadenzauber, sowas wie Woodoo, mit vielen bösartig zischenden Lauten, zum Erledigen von Feinden, zum Abwehren von Unholden. Es kann sein, dass bei diesem Spruch jemand hier geschädigt wird. Der Atem bleibt ihm weg. Vielleicht bekommt er einen Erstickungsanfall."
Hoho, glauben wir nicht.
Schmarrn.
Sie vielleicht?
Der Junglehrer schloss mit ernstem Gesicht das Fenster, ließ die Roll-Läden herunter, im Klassenzimmer wurde es dunkel. Er zündete vorne am Pult die dicke Kerze an, hielt sie hoch, so dass nur sein sprechendes Haupt von der Flamme erhellt wurde und schaute verhangen in die Finsternis ringsum - Ihr wiederholt jetzt jede Zeile, die ich euch vorspreche - und begann auswendig den Großmutter-kitzelt-Johannes-Spiel-Text:

Michala myši?ka kaši?ku
Die Klasse sprach dies feierlich nach, die folgenden Zeilen auch.
na zeleném rendlí?ku,
tomu dala,
tomu taky,
tomu málo,
tomu víc ..


Beim dritten "tomu" ertönte ein Prusten und Keuchen. Da es im Zimmer dunkel war, wurde man unsicher. Was war da los? Nach dem vierten "tomu" angespanntes Schweigen in der Klasse: da war ununterbrochenes Keuchen und Prusten. Die Hanne? Atemnot? Der Erstickungsanfall?

Was schlug da Funken, was versetzte uns in Schwingungen, was entstand da für ein Kraftfeld, wurde stark und stärker und pulsierte im Raum? Nach Pferdesegen und Wurmvertreibung, germanischem Zauber, diesmal keine Heilung, vielmehr germanische Verwünschung und Schädigung. Natürlich glaubt keiner daran, dass so etwas jetzt ernsthaft vom Lehrer kommt und funktioniert. Auch Hanne Hrdy nicht. Aber sie hört in den "üblen Zischlauten" plötzlich den tschechischen Fingerspieltext. Nun ist ihr klar: die Klasse wird hereingelegt, jetzt aber hat sie den Durchblick. Ob sie will oder nicht, die Harmlosigkeit des Mäusleintextes im Kontrast zum Woodoo, da muss man prustend lachen. Dass das in der Dunkelheit wie japsende Atemnot wirkt, verstärkt die Komik. Man muss sich nur vorstellen, wie das Prusten auf die anderen wirkt, und man kann gar nicht mehr aufhören.

Spaß über Spaß. Tschechische Wörter als germanische Zischlaute, Händekitzeln als schwarze Magie, rhythmisches Rühren auf der Handfläche als Schadenszauber. Erschrockener Kollaps aller Skepsis, Multiplex- Ekstase bei den zwei Eingeweihten, Johannes konnte sie gerade noch tarnen, Hanne nicht. Lasst es mich ein wenig flapsig sagen: Die eskalierende, um sich greifende Komik kickt einen fast ins Koma, kannst du nix gegen machen, fast nix.

Hanne versuchte es, sie rettete sich durch Bewegung, sie patschte nämlich mit Armen und Händen voraus flach auf den Tisch, dann warf sie sich nach hinten und schnappte nach Luft. Und wirklich jetzt, bei dieser Bewegung rückwärts, Herrschaftsseiten, kippte auch noch der Stuhl. Johannes Willi Wenzel reagierte endlich, er hob schmallippig und beruhigend die Hand, drehte sich um, betätigte den Lichtschalter und es wurde hell: Aber die Szene blieb rätselhaft dunkel. Hannes Stuhl lag auf dem Boden, sie hob ihn auf und setzte sich wieder. Dabei kicherte und gluckste sie unaufhörlich. Irgendwie ein Lachanfall? Der nicht zu stoppen ist?

Was soll man noch viel erzählen? Naja, eigentlich doch noch einiges: Als Hanne und Johannes sich schließlich gefangen hatten, klärten sie kichernd auf. Und als man ringsum kapierte, dass das ein tschechischer Kinderkitzelreim war und nur Hanne ihn verstanden hatte und alle anderen einen germanischen Zauberspruch und Angst um sie hatten, da brach noch einmal, diesmal kollektiv, unbändiges Glucksen und Gelächter aus. Es war wie im aristotelischen Drama, in der Komödie, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Akteure. Nein, nicht ganz: Hier wussten die zwei Akteure mehr als die Zuschauer und beobachteten beim Publikum die Hamartia (Verkennung) und die endlich erfolgende Anagnorisis, das Umschlagen von Unwissen zu Wissen. Und dann blickt das Publikum voller Wonne darauf zurück, wie es sich verrannt hatte. Und der slow-burner germanisch-tschechischer Schadenszauber zündet die dritte und vierte Stufe. Ihr werdet mir die Dramen-Theorie verzeihen. Und hoffentlich auch nachsehen, dass es jetzt ganz kurz – versprochen - mit sieben klassisch-homerischen Hexametern weitergeht. Es ist das die angemessene Sprache, eine homerische Ode an die Freude und das Lachen:

Jetzt nun verstand man; und wie die Woge des reißenden Stromes
überflutet das Land und unaufhaltsam dahinrast –
erst widerstehet der Damm und wehret den wütenden Wassern,
dann aber bricht er zusammen und weithin schießen die Fluten —
also ergaben die Schüler sich schließlich der krampfhaften Lachlust,
ballten die schmächtigen Fäuste, es brach ihr Gelächter hera-us.
Ringsum erdröhnte der Saal und weithin scholl es nach draußen.


Und siehe. Draußen klopft es an der Tür. Die Tür wird halb geöffnet, der Lehrer der nächsten Stunde in der Nachbarklasse schaut herein, Studiendirektor Droht, schwarzer Anzug, schwarze Aktentasche, schwarzes Brillengestell, seine Fächer: Latein und katholische Religion. Die Rollos verdunkeln noch den Raum. Das Licht ist an. Die Kerze brennt vorne auf dem Pult. Zwei Schüler in der letzten Reihe liegen quer über den Tischen. Alles irgendwie disparat und derangiert, wirr. Junger Kollege das, ihm ist der Unterricht entglitten. Aber recht ruhig ist er, unangemessen ruhig. Seltsam.
"Was ist denn hier los? Was ist hier geschehen, Herr Wenzel?"
„Nun ja“, sagte der Referendar, „ein religiöses Experiment. Wir haben mit den Merseburger Zaubersprüchen gearbeitet.“

Franz Kafka und Max Brod und Rainer Maria Rilke und Nepomuk

Am nächsten Tag, kein Schmarrn jetzt, stand Wenzel vor dem Schulgebäude an der Bushaltestelle, ein älterer Herr - langer schwarzer Mantel, etwas angegriffener Pelzkragen, weißes Halstuch von Seide - kam auf ihn zu.
„Sie sind hier Lehrer?“
„Ja. Deutsch und Latein ..“
„Oh, mein Vater arbeitete beim Prager Tagblatt, war gut bekannt mit Max Brod und Otto Brod, dem Bruder. Die Namen sagen Ihnen sicher nichts?“
„Doch, Max Brod hat die Bücher von Franz Kafka herausgegeben. Obwohl Kafka ihn darum gebeten hatte, alle Aufzeichnungen zu verbrennen.“
„No, da kann ich Ihnen was erzählen. Max kam zu Otto Brod und meinem Vater, als Franz gestorben war. Was soll ich nur machen, was soll ich nur machen? Der letzte Wille vom Franzel war, dass ich alles verbrennen soll. Nix soll veröffentlicht werden. Ich hab´s ihm schwören müssen. Was soll ich nur machen?.... No, Max, weißt was. Die vom Franz gibst du heraus. Verbrennen tust die deinigen.. Meinen´s Ihr Direktor hätte Interesse, wenn ich an der Schule einen Vortrag halte?“
„Das ist eine wirklich gute Geschichte“, meinte Johannes, "ich sage im Sekretariat Bescheid." Dann lächelte Johannes: "Übrigens, meine Großmutter stammt aus Prag, mein Vater hat in Prag Germanistik studiert und ich verstehe ein bisschen Tschechisch."
"Dann können Sie ja sicher Bemmisch!"
"Schon."
Der Mann rollte mit den Augen und begann ein frühes Gedicht von Rilke zu zitieren:

"Große Hajlige unt klajne
fajert jägliche Gemajne.
Aber disä Nepomuken!
Fon des Torganx Luken guken
Unt fon allen Bruken schpuken
lautrlautr Nepomuken."

Ach! Sein Vater und seine Großmutter lächelten gewiss aus dem Jenseits herab, als Johannes das bemmische Gedicht hochdeutsch rezitierte:

"Große Heilige und kleine
feiert jegliche Gemeine.
Aber diese Nepomuken!
Von des Torgangs Luken gucken
und auf allen Brucken spuken
lauter, lauter Nepomuken!"

Hach! Frau Fischhaber oben im Lehrerzimmer, die würde sich wundern.


Appetizer für Aficionados:

Ougenweide: Merseburger Zaubersprüche, am Schluss der Pferdesegen gegen die Würmer mit dem Pfeil
https://www.youtube.com/watch?v=emQDgoKOxog
https://www.youtube.com/watch?v=-r4kPvaYUgY
https://www.youtube.com/watch?v=nhwwXNvS09Q

Leopold Weber: Unsere Heldensagen
https://img.oldthing.net/2515/29160333/0/n/Weber-Leopold-Unsere-Heldensagen.jpg

Das tschechische Fingerspiel
https://www.youtube.com/watch?v=PP07kWI4rEE

Tschechisch-Deutsch wie bei Großmutter (Jaromir Konecny)
http://www.jaromir-konecny.de/Kabarett/mobile/
 



 
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