Rundfunk im Kopf

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anemone

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Heute liebes Tagebuch noch eine wahre Geschichte:
28.2.1937 – 20 Uhr:
Leon Bouvreuil fragt sich zum ersten Mal, ob er nicht drauf und dran ist, völlig verrückt zu werden. Noch sitzt er ganz friedlich mit seiner Frau beim Abendessen-und wie jeden Tag hören sie dabei zusammen Radio. Sie wohnen im 15. Arrondissement in Paris. Soweit läuft alles ganz normal. Nichts Ungewöhnliches. Seit 10 Minuten hören sie fast mit religiöser Hingabe eine Sendung mit Tino Rossi. Plötzlich beginnt ein seltsames Gespräch zwischen Monsieur und Madame B.
Madame B. schaut auf einmal den Radioapparat an und ärgert sich: „muss das sein! Gerade jetzt!
Léon B. blickt erstaunt auf seine Frau: „Was ist denn los?“
„Na hörst du schlecht? Der Apparat läuft nicht mehr!“
„Also ich glaube, du wirst langsam taub.“
„Jetzt spinnst du aber ganz schön! Du must doch hören, dass man nichts mehr hört!“
„Tut mir leid, das Radio spielt ganz normal.“
„Was du nicht sagst! Dann musst du wohl das achte Weltwunder sein!“
Im Laufe weniger Minuten entwickelt sich die Diskussion zu einem handfesten Ehekrach! Wutentbrannt stürzt sich schließlich Madame B. auf das Radio und schaltet es ab: „Na, was sagst du nun? Hörst du vielleicht immer noch was?“
In diesem Augenblick beginnt eine unvorstellbare Geschichte. Monsieur B. starrt seine Frau ungläubig an, dann den Apparat: "Du – es ist...es ist wirklich komisch...es ist kein Witz, aber ich höre das Programm ganz deutlich!“
Daraufhin entschwindet die sonst eher ruhige Ehefrau grollend ins Schlafzimmer. Ihr Mann sitzt erstarrt vor seiner mittlerweile kalten Suppe. Er muss verrückt sein, ganz plötzlich verrückt geworden sein.
Eine Stunde später kommt seine Frau ins Wohnzimmer zurück. Ganz ruhig betrachtet sie ihren „versteinerten“ Mann – und bekommt es langsam selbst mit der Angst zu tun. Denn jetzt ist es offensichtlich: Er macht sich nicht lustig über sie! Es geschieht hier und jetzt tatsächlich etwas Unvorstellbares!
Monsieur B., 38 Jahre alt, körperlich und seelisch gesund, ist Opfer eines unerklärlichen Phänomens: Er hört das Radioprogramm in seinem Kopf, nicht mit seinen Ohren. Und um seine Frau davon zu überzeugen, wiederholt er Wort für Wort die Nachrichten, dann den Wetterbericht, die Börseninformationen, die Programmansage, und als Tino Rossi "Marinella“ singt, trällert Monsieur B. mit – im Duett mit dem Star sozusagen!
Um 2 Uhr morgens endet das Programm mit der Marseillaise, der Nationalhymne. Endlich ist auch Funkstille im Kopf des völlig verwirrten Monsieur B. Seine Frau traut sich kaum in seine Nähe. Ist sie denn auf einmal mit einem überirdischen Wesen verheiratet? Erschöpft schlafen die beiden dann doch ein. Aber schon um 6.30 Uhr springt Monsieur B. wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett. In seinem Kopf befieht eine resolute Stimme:
"Bei-ne strek-ken! Knie zu-sam-men! Hän-de flach auf den Boden...2-3 und -4! Und wieder aufrichten...Tief Ein-at-men! und noch einmal: Beine..."

Die nächsten Tage sind die reinste Tortour für Monsieur B. Ganz egal, wo er gerade ist – zu Hause, auf der Straße, im Büro: Er hört von 6.30 Uhr bis 2 Uhr morgens das gesamte Rundfunkprogramm in seinem Kopf. Ja, innendrin! Außer wenn er den Mund ganz weit aufmacht. Aber was hilft das schon, schließlich kann er nicht dauernd gähnen. Selbstverständlich konsultiert er bald einen Arzt, und ebenso selbstverständlich hat dieser keinerlei Erklärung parat. Und auch der Neuro-Psychiater ist rasch mit seinem Latein am Ende. Aber da er es nicht so ohne weiteres zugeben will, nimmt er pro forma die Sache ernst und stellt die erste logische Frage: "Welchen Sender hören Sie denn?“
Léon B. hat die größten Schwierigkeiten, ein normales Gespräch mit dem Nervenspezialisten zu führen, denn er muss ja gleichzeitig ein spannendes Hörspiel verfolgen. Und so murmelt er ziemlich abwesend: „Meistens bin ich am „Poste Parisien“ angeschlossen. Aber es kommt darauf an, wo ich gerade bin.“
„Lieber Monsieur B., das sollten Sie mir schon näher erklären.“
„Na ja, wenn ich zum Beispiel am Palais de Chaillot vorbeigehe, dann höre ich Kultursendungen. Aber nicht lange. Gleich wenn ich um die Ecke biege, in die Straße Paul Doumer, ist es vorbei. Gott sei Dank! Nichts gegen Kulturelles, aber wissen Sie, es strengt mich viel mehr an.“
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie kann nur noch hilflos den Kopf schütteln: Dieser Mann hier ist auf alle Fälle kein Simulant! Das scheint ihm absolut sicher.
Er ist auch nicht verrückt, aber seine Lage ist zum verrückt werden. Und sie wird immer ernster. Monsieur B. ist nicht mehr fähig zu arbeiten. Er isst kaum noch, und an Schlaf ist kaum zu denken. Denn sogar nachts wird er manchmal – durch Telegramme geweckt, die im Morsealphabet über Funk durchgegeben werden: Es ist die Hölle auf Erden!

Der x-te Spezialist, den er besucht, erklärt ihm in unverständlichem Fachjargon sinngemäß, dass die elektrischen Wellen, die von seinem Gehirn emittiert werden, stark genug sind, Rundfunkwellen, die wiederum vom Sender emittiert werden, zu empfangen. So ein Unsinn!
„Können Sie dann nicht wenigstens einen Schalter einbauen? Wenn ich den Mund weit aufmache, da hört es doch auf. Wäre es also nicht möglich, vielleicht die Pole auszutauschen? Ich verstehe ja nichts davon. Aber tun Sie endlich etwas, irgend etwas!“
Erst drei Monate später wurde das Rätsel gelöst – von einem Elektroingenieur: „Haben Sie falsche Zähne? Wenigstens zwei?“
„Ja.“
„Aus Metall?“
„Ja, beide sind aus Gold, einer oben und einer unten- direkt übereinander.“
„Alles klar! Da haben wir’s!“ Und der Elektroingenieur erklärt: „Wenn sich zwei Teile aus dem gleichen Metall oder aus verschiedenen Metallen sehr nah aneinander befinden und ein Teil davon ist oxidiert, dann kann das eine Art Batterie-Effekt hervorrufen. Das heißt, es kann zur Ausbildung eines schwachen elektromagnetischen Feldes kommen, verstehen Sie?“
Nein, León B versteht es nicht. Aber es ist ihm auch ganz egal. Er hatte zwei Goldzähne, und einer war unter der Krone plombiert. Bei geschlossenem Mund bildeten sie sozusagen einen schwachen Dipol, eine Mini-Antenne und die war stark genug, das Radio-Programm zu empfangen. Denn Monsieur B. wihnte und arbeitete ganz in der Nähe des Eiffelturms. Und hier befindet sich nun mal der stärkste französische Sender! Gewiss, es mussten viele Umstände zusammenkommen, ein derartiges Phänomen zustande zu bringen. Aber so unglaublich es auch klingen mag, Monsieur B. hat es erleben müssen – drei Monate lang -, bis sein Zahnarzt kopfschüttelnd die Goldzähne durch Porzellankronen ersetzte.
 



 
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