SpaceTrash
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S.B.A.E.
(Selbst-Betriebener Angst-Erzeuger)
(Selbst-Betriebener Angst-Erzeuger)
Tristan steht am Gleis 13 auf einem dreckigen, kleinen Bahnhof. Seine Hände zittern. Ein kalter Wind streicht ihm durchs Gesicht, während das Rattern eines herannahenden Zuges durch seine Glieder dröhnt. Seine Atmung ist flach, seine Sicht verschwimmt, und sein Zwerchfell fühlt sich schon an wie eine aufgeheizte CPU, die seit Wochen läuft. Doch das ist ein täglich wiederkehrender Zustand in seinem Leben. Denn er kennt das Spiel. Er kennt es leider zu gut, doch spielt er nicht gut genug.
Startpunkt: Bahnhof.
Status: instabil.
Modus: Überleben.
Job: Software Entwickler
Er ist ein S.B.A.E. – ein Selbst-Betriebener Angst-Erzeuger. Keine offizielle Diagnose. Nur seine persönliche Beschreibung für einen Körper, der ständig auf Alarm steht, auch wenn nichts Brennendes zu sehen ist.
Er zwingt sich in den Zug. Schluckt die innere Zersetzung, die ihm der Alltag zusetzt, Schritt für Schritt hinunter. Während der Fahrt starrt er immer auf dieselbe leere Stelle im Waggon und wirkt wie eine unansprechbare Statue, die seit Jahrzehnten dort steht. Doch genau das lässt ihn die Ruhe irgendwie stärker spüren als sonst.
Die Bahnansage ertönt: „Nächste Station: angsterfüllte Leere.“
Tristan steht vor den Türen. Sein Gesichtsausdruck, als sich die Zugtüren öffnen, ähnelt dem eines Verdammten, der ins Nichts geschickt wird, doch nun ist er angekommen:
Sein Arbeitsplatz.
9:00 Uhr.
Die Büroetage ist voller Menschen. Die Geräuschkulisse aus Smalltalk, dem Klappern und Tippen der Tastaturen sowie den Schritten einiger Kollegen erfüllt den Raum, doch all das lässt Tristan völlig kalt. Für ihn ist es nur noch weißes Hintergrundrauschen. Er setzt sich wie gewohnt, jedoch mit demonstrativer Halbherzigkeit, auf seinen allzu beschwerlichen, durchgesessenen Bürostuhl, mit der allseits „beliebten“ unbequemen Armlehne, die sein atemberaubender Arbeitsplatz zu bieten hat. Dazu kommen die überaus „effizienten“ gräulichen Trennwände, die dafür sorgen sollen, dass man beim Arbeiten möglichst wenig Sozialkontakt hat.
Seine Haltung: gebückt wie ein zerfallenes Modell aus Draht und Müdigkeit. Seine Finger klammern sich an die Maus wie die eines autonomen NPCs, programmiert nur für diesen einen Zweck.
Augen leer.
Kommende, enthusiastische Schritte nähern sich Tristan. Lustlos dreht er den Kopf in ihre Richtung.
„Moin Tristan, alles fit im Schritt?“, eröffnet Marcel die ungewollte Konversation und schlürft genüsslich an seinem Matcha-Latte.
Tristan nickt nur.
Als Marcel mit seinem unaufhörlichen Schlürfen endlich fertig ist, sagt er noch:
„Man, so ein Matcha am Morgen ist echt ein Geschenk des Himmels, findest du nicht?“
Tristan ignoriert gekonnt diese belanglose Frage, ein Produkt des täglichen sozial erzwungenen Smalltalks, den er genauso wenig ausstehen kann wie Marcels fröhliches Morgenverhalten. Doch seine Ignoranz war letztlich bedeutungslos, denn er hätte sowieso nicht antworten können: Marcel redet einfach direkt weiter.
„Ach ja, Chef meinte, du sollst dir den Kunden-Call für morgen reinziehen. Und der Bug von letzter Woche ist auch noch offen“, sagt er gut gelaunt – und für Tristan klingt das wie der endlose Dialog eines NPCs.
Dann ploppt ein Pop-up-Fenster vor Tristans Augen auf:
Quest: Kunden-Call ansehen & Bug fixen
Questgeber: Marcel – nerviger Arbeitskollege, Deadlock-Friese, mit einem Hauch Vogelnest-Ästhetik, immer unaufhörlich gut gelaunt und absolut nervtötend.
Dann schließt er kurz die Augen und blickt in sein Inneres. Ein Statusfenster erscheint vor seinem inneren Auge:
Systemstatus:
Emotionale Kapazität: 5 %
Fokus: flackert
Hoffnung: nicht gefunden
Er lächelt. Nicht aus Freude, sondern weil es fast schon komisch ist, wie kaputt alles wirkt, innen wie außen.
Tristan setzt nun sein Headset auf, und direkt danach ertönt eine ohrenbetäubende Melodie. Es ist der Kunden-Call.
Tristan nimmt ihn an.
Der Kunden-Call läuft.
Tristan hört eigentlich gar nicht richtig zu.
Nickt, wenn sein Name fällt.
Tippt ein paar generische Floskeln in den Chat.
Und lässt diesen Kunden-Call wie einen endlosen, zeitvertreibenden Podcast vor sich hinlaufen.
Tristan hört weitere Stimmen, Stimmen die nicht aus dem Headset kommen.
Es sind Marcel und sein Chef, die miteinander tratschen.
Nur ein paar Wortfetzen von Marcel sind zu verstehen:
„Ich weiß auch nicht, warum er so ist, wie er ist. Dachte erst, es liegt daran, dass er kein Morgenmensch ist. Ich mein, ich war auch keiner, aber dieses himmlische Getränk von oben namens Matcha ist echt das, was meiner Arbeitsroutine mehr Pep gibt. Ich hab auch versucht, mich besser mit ihm zu verstehen, aber er wirkt einfach komplett raus aus dem Leben. Meine ehrliche Meinung? Das kann nicht besser werden. Er ist schon so lange hier, und nichts hat sich bei ihm geändert.“
Tristan treffen diese Worte hart. Doch sein Arbeitstag ist noch nicht vorbei.
Jetzt zu dem Bug.
Ein lächerlicher Fehler im Impressum.
Ein Link, der sich nicht anklicken lässt.
Und doch hatte er sich letzte Woche intensiv damit beschäftigt, so intensiv wie es nur ging, und trotzdem keine Lösung gefunden.
Tristan starrt in die wirren Zeilen des Codes. Ändert ein paar Zeichen und Zahlen, und schwupp:
Bug gefixt.
Keine Belohnung. Kein Soundeffekt. Nur Stille.
Und wieder muss er lächeln. Nicht aus Freude, sondern weil er im Moment selbst nicht begreift, wie er die letzte Woche nicht lösen konnte.
Tristan schaut kurz zum Fenster. Die Sonne ist längst verschwunden. Die Büroetage liegt in Dunkelheit, nur sein Bildschirm spendet steriles Licht.
Er steht von seinem Bürostuhl auf, um in die leere Dunkelheit der Innenstadt zu blicken,
Doch alles, was er sieht, ist die Spiegelung seines seelenlosen Gesichts.
Wie das eines Spielcharakters, der vor langer Zeit vergessen wurde.
In der Stille ist ein Ticken zu hören.
Eine Uhr vor dem Büro des Chefs.
Darum herum ein Schild, auf dem steht:
„Überstunden werden nicht bezahlt, also macht pünktlich Schluss, wollen ja nicht, dass ihr zu spät kommt!“
Es ist 21:43.
Eine neue Nachricht blinkt auf seinem PC. Vom Chef:
Tristan starrt auf den Text, als würde es einen Endgegner ankündigen.
„Hey Tristan, ich würde gerne morgen mit dir über deine aktuelle Arbeitssituation sprechen.“
Die E-Mail ließ ihn erstarren und versetzte seinen Körper in Schockstarre, denn Tristan wusste, worum es ging.
Seine geringe Arbeitsleistung und fehlende Motivation war schon immer Gesprächsthema in den Mittagspausen seines Chefs.
Diese E-Mail traf ihn hart. Und dennoch konnte er nichts dagegen tun, nichts gegen das, was sie in ihm auslöste.
Nun steht er wieder auf Gleis 13.
Wie ferngesteuert hat ihn der Tag an denselben Ort zurückgeworfen, der ihn einst hierhergebracht hatte.
Wieder derselbe Wind.
Wieder dieselbe Kälte.
Er setzt sich auf eine dreckige, leere Bank, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, in der Hoffnung, etwas Ruhe oder Klarheit zu finden.
Doch plötzlich setzt sich jemand neben ihn.
Es ist Marcel.
Mit seinen schäbigen Secondhand-Klamotten und einem kochend heißen Matcha-Latte in der Hand.
„Noch so spät unterwegs? Haste wohl Überstunden gemacht, du armer.
Aber so ist nun mal das Arbeitsleben. Ist halt normal.“
Tristan antwortet nicht.
Doch überraschenderweise beginnt Marcel einen Monolog über das Leben und philosophiert:
„Weißt du, Tristan … ich habe in letzter Zeit viel über das Leben nachgedacht. Über den Sinn von allem. Und ich glaube, ich bin da auf etwas gekommen. Das Leben besitzt keinen eigentlichen Sinn. Es ist wie ein leeres Gefäß. Und es liegt an dir, womit du es füllst. Viele Menschen warten auf eine Antwort von außen. Vom Schicksal, von der Gesellschaft, von irgendeiner höheren Instanz. Aber die Wahrheit ist: Der Sinn entsteht erst durch Bewegung. Durch Entschlusskraft. Durch Selbstverantwortung. Man muss die Zügel in die Hand nehmen, verstehst du? Nicht stillstehen, sondern losreiten. Auch, wenn man das Ziel noch nicht kennt. Und vielleicht, ich sage nur vielleicht, wärst du dann auch nicht mehr so abgekoppelt, so missgelaunt.“
Er schlürft demonstrativ an seinem Matcha.
„Hat bei mir jedenfalls Wunder gewirkt.“
Tristan lässt die Worte auf sich einprasseln und wägt sie ab.
Dann jedoch verzieht er das Gesicht zu einer frustrierten Grimasse, dreht langsam den Kopf zu Marcel und sagt:
„Könntest du nicht mal für eine verdammte Minute dein Maul halten? Wer hat denn bitte nach deiner ausgelöffelten Lebensphilosophie aus einem Zwei-Euro-Selbsthilfebuch für Dummies gefragt? Ich ganz bestimmt nicht. Also bitte ich dich freundlich, dich von dieser Bank zu verpissen und mich nie wieder ungefragt anzusprechen. Denn mir ist diese dreckige, versiffte, von Obdachlosen belegte und mit Ratten verseuchte Bahnhofsbank lieber, als noch ein weiteres Wort aus deinem Gülle-Maul zu hören.“
Marcel ist völlig schockiert von Tristans Worten.
Doch Tristan war noch nicht fertig:
„Oh, ich glaube, deine Bahn auf Gleis 14 kommt. Und danke, dass du mir so gut zugehört hast, echt nett von dir.“
Marcel steht empört und angefressen auf, beleidigt Tristan im Vorbeigehen:
„Viel Spaß dabei, deinen Job zu verlieren, Arschloch.“
Marcel steigt in seine Bahn. Tristan bleibt sitzen, schaut zurück auf sein Gleis, und endlich ist da Ruhe. Er kann seinen Gedanken freien Lauf lassen, so wie er es eigentlich wollte. Doch da ist nichts.
Absolute Leere.
Keine Gedanken, die freizulassen wären.
Nur ein letzter Gedanke, der sich wie ein Update in seinem Kopf installiert:
Patch 3.6 verfügbar:
Neue Funktion: Selbstauslöschung installieren?
Tristan blickt mit Akzeptanz nach oben und begibt sich vor die Bahngleise. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, sagt er: „Ja.“ Die Zughupe dröhnt durch den Bahnhof, sein Zug fährt ein.
Er schließt die Augen.
Ein Schrei. Laut. Schmerzhaft.
Aber nicht seiner.
Tristan öffnet die Augen. Langsam. Fast neugierig.
Im gegenüberliegenden Zug: Marcel. Verzerrtes Gesicht, panisch fuchtelnd, Matcha über die Hose geschüttet. Er steht halb auf, schreit nach Hilfe, rudert wild mit den Armen, und hinterlässt einen dampfenden, grünlichen Fleck auf seiner Secondhand-Hose.
Für einen Moment passiert nichts.
Dann lächelt Tristan. Nicht gequält, nicht verbittert, sondern ehrlich. Zum ersten Mal.
Er blickt nach oben und flüstert:
„Danke, Gott, für dieses himmlische Geschenk.“
Ein kurzes Summen. Dann erscheint eine Fehlermeldung auf seinem inneren Systemfenster:
Installation fehlgeschlagen.
Bitte versuchen Sie es morgen erneut.
Tristan liest. Zuckt mit den Schultern.
„Klar. Morgen dann.“