Sachen

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Ji Rina

Mitglied
Lieber Frank:
(na, das ist doch schon mal was…):)

Ein paar winzige Anmerkungen kommen noch
(ich bin gespannt!)

Abendliche Grüße von der Côte d’Azur
Und wo? Nizza, Cannes? Sankt tropee ;)?


Welch Überraschung Hagen, dass Du mal was von mir liest….
Es hat mich sehr gefreut und ich bedanke mich!
(Übrigens, Deine Signature: ein Volltreffer)
 

FrankK

Mitglied
Saint-Raphaël; 32km westlich von Cannes (Küstenlinie) :)
Sonnig, 20°, vom Meer her leicht dunstig.

Grüßend
Frank
 
M

Metino

Gast
HI JI :D
Zwar gefällt mir das Thema nicht unbedingt, es ist aber super geschrieben und ich hab s in einem gelesen.
Es enthält Gefühl und Stimmung, wie von Molly angedeutet. Was hier wieder von unserem xxxxxxxx abgesondert wird, sollte er in seinen Moor Ruinen lassen. Definitiv ist die Story besser, als die von einbeinigen Motoradfahrern, die mit dem Brennstoff ´Erbsensuppe´ Berge hochpfurzen :D
 

Ji Rina

Mitglied
Onivido: Oh das ist nett! Da freu ich mich doch!

Metino: Interessant was Du angesprochen hast! Handwerk oder Thema? Auf was achten wir hier auf der LL?
 
M

Metino

Gast
Hi J I:D
Natürlich geht es hier um Textarbeit. Mal ganz ehrlich! Würdest Du jede Geschichte hier lesen? Eigentlich erweckt der Titel ´Sachen´ kein besonderes Interesse bei mir, wenn er nicht von jemandem geschrieben ist, der resp. die oftmals mit guten Storys und ihrer Schreibweise gepunktet hat.
Greez :)
Me
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Ciconia
Wie versprochen (oder angedroht ;) ) hier eine etwas detailliertere Beschäftigung mit Deinem Text:

Einordung
Du hast diesen Text als „Erzählung“ einsortiert, das finde ich in Ordnung. Er ist (inhaltsthematisch) umfangreicher als eine Kurzgeschichte, Du „erzählst“ eine vollständige Epoche aus dem Lebensraum der Mutter (hier: die Epoche „Zeit des Sammelns“), mit Einstieg, Höhepunkt und Abschluss.
Im Forentext heißt es:
Was hier an so genannten „Erzählungen“ auftaucht, sind meist Kurzgeschichten, die dem Autor selbst wohl ein wenig zu lang geraten erscheinen, um unter dieser Rubrik eingestellt zu werden. Hier werde ich aber nach wie vor recht großzügig verfahren.
Bleibt also zu hoffen, dass unser geschätzter Redakteur Dir gewogen bleibt ;).


Erzählstil:
Non-Auktoriale (nicht allwissende) Ich-Perspektive, wirkt (in dieser Form) wie eine Selbstbeschreibung und dadurch eindringlicher, emotional betonter. Ob diese eine reale oder fiktive Erzählung darstellt, ist für die Qualität belanglos.
Wichtig für die überzeugende Darstellung ist die konstante Einhaltung der Erzählperspektive, dies ist Dir (leider) misslungen. An einer einzigen Stelle.


Details:
Meine Mutter war kein Messie, das muss ich gleich zu Beginn klarstellen.
Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass diese „festgemauerte Erkenntnis“ gar nicht so festgemauert ist. Es wurde nie psychologisch geprüft, ob es sich nicht doch um das sogenannte „Messie-Syndrom“ handelt.
Dieser Einstieg ist auch das winzige Problem bezüglich der Erzählperspektive, wenn sich die Erzählerin nicht selbst als Psychologin erweist, ist dieser Einstieg zu auktorial. Gleichzeitig emotional distanzierend und sich schützend vor die Mutter stellend.
Für mich als Leser wird eine zusätzliche Interpretation unterdrückt. Es wird klar gesagt (klar definiert / konkretisiert): kein Messie. Eine mögliche Fehlinterpretation der Erzählerin wird dadurch ausgeklammert.
Was hieltest Du von einer Modifizierung des Einstiegs, emotional näher am Geschehen, angepasst an die folgende konstante Non-Auktoriale (nicht allwissende) Ich-Perspektive:
„Ich hielt meine Mutter nie für eine Messie, das muss ich gleich zu Beginn klarstellen.“

Sie war keiner dieser Menschen, in deren Wohnungen man Bananenschalen unter der Matratze oder alte Zeitungen im Gefrierschrank findet.
Dieser Satz bedient (meines Erachtens) nur eine falsche Vorstellung. Für mein Empfinden könnte er Ersatzlos verschwinden, zumal Du auch später viel eindringlicher erzählst, wie es um die Mutter bestellt ist.

So vergingen die Jahre. Vor unserem Hauseingang häuften sich Holzplatten in allen Größen an. Blumentöpfe [blue](leere)[/blue] standen dutzendweise herum. Mehrere alte Fahrräder, Kinderautos aus Plastik, kaputte Bilderrahmen, die irgendwann repariert werden sollten, füllten den Garten. Wenn ich mit dem Wagen bis vors Haus wollte, weil ich vielleicht einen größeren Einkauf im Supermarkt gemacht hatte, konnte ich nur noch vorwärts oder rückwärts fahren. Ein Wenden war nicht mehr möglich, wenn ich nicht über sämtliche Sachen fahren wollte.
An diesem (kompletten) Abschnitt habe ich das Gefühl, da warst Du nicht gut drauf, irgendwie aus dem Fluss. Er wirkt vom Klang nicht so harmonisch wie der Rest des Textes, er wirkt wie „hinzu gebastelt“.
Auffällig störend wirkt auf mich der Einschub in Klammern, anstatt das „leere“ nachträglich zu definieren, könnte es eine vorangestellte Eigenschaft sein:
„Leere Blumentöpfe standen …“
Das Problem mit dem Auto – ist in dieser Form eigentlich keines. Viele Hauszufahrten kann man nur Vorwärts oder Rückwärts nutzen, mit den ganzen „Sachen“ käme ein zu „umfahrender Parcours“ möglicherweise der darzustellenden Situation näher.


Ganz leicht Füllwortlastig:
Kleine Statistik gefällig?
Das Wörtchen „oder“ kommt 26 mal vor.
Das Wörtchen „so“ kommt 19 mal vor.
Das Wörtchen „dann“ kommt 18 mal vor.
Das Wörtchen „mal“ kommt 16 mal vor.
Das Wörtchen „wenn“ kommt 15 mal vor.

Von gesamt 3225 Worten sind 322 sogenannte Füllwörter (9.98%). Sie sind Bestandteil der gelebten gesprochenen Sprache. Für diesen Erzählstil vielleicht noch angemessen, an manchen Stellen aber vielleicht auch überlegenswert.


Messie-Syndrom
Es bedarf nicht des „Endstadiums“, in denen der fortgeschrittene Messie in seinen eigenen Exkrementen liegt, dies ist Halbwissen.
Das „Messie-Syndrom“ beginnt bereits deutlich eher, wenn der betroffene Mensch nicht mehr differenzieren kann, zwischen dem, was noch nützlich ist und dem, was er nicht mehr gebrauchen kann.


Fazit:
In einer Rückblende, einer Retrospektive, wird uns die Geschichte des mehr oder weniger sinnvoll gestalteten Lebensabends einer Mutter näher gebracht, einer Person, die sich mit dem „kleinen Wirtschaftskreislauf“ auf Flohmärkten und der dort vorherrschenden eigenen Welt auseinandersetzt. (Floh)Markthändler sind eine ganz eigene Klientel. Dieser Aspekt wird in den resümierenden Überlegungen der Tochter ganz kurz angerissen.
Deutlich wurde nur, dass die Tochter nicht glücklich mit dem Verhalten der Mutter war, dass die Tochter diese „Obsession“ der Mutter nicht nur nicht teilte, sondern auch nicht billigte. Die Mutter hatte Grenzen überschritten, wurde allerdings von der Tochter dafür nicht gemaßregelt oder sogar bloßgestellt. Dies manifestiert sich mit dem ersten Satz (auch in der modifizierten Variante).

Für meinen Geschmack gut getroffen:
Das kritische Verhältnis der Tochter zur Mutter.
Das Grenzverhalten der Mutter (eine gewisse Verhaltenslogik lässt sich noch erkennen).
Die zum Ende angedeutet wehmütige Betrachtung der Tochter.

Mit dem Titel „Sachen“ definierst Du schon recht geschickt gleich zu Anfang, dass es sich halt nicht um Müll handelt.


Anmerkung:
Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie diese Geschichte wirken würde, wenn Du dem Leser zunächst zugestehst, seine eigene Meinung zu bilden, und erst ganz am Schluss die Tochter mit „Nur um es klarzustellen – ich habe meine Mutter nie für eine Messie gehalten!“ eine Wertung aussprechen zu lassen.
Die Geschichte könnte dann mit
Meine Mutter besaß ein großes, ordentliches Wohnzimmer, wo alles seinen Platz hatte.
starten und würde den Leser (möglicherweise) langsam in die Situation einführen, wie sich die ganze Situation auch langsam entwickelt.
Diese Erzählweise käme auch dem einer „Erzählung“ am nächsten.


Einen schönen Abend noch und herzliche, aufmunternde Grüße
Frank
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Frank,

eine großartige Fleißarbeit - nur leider an die falsche Adresse.

Aber ich denke, JiRina wird es Dir nicht übel nehmen. ;)

Schönen Abend noch!
Gruß Ciconia
 

FrankK

Mitglied
Oh mein Gott - um Himmels willen - wie konnte ich nur - tausendfach Vergebung erbittend ...

Hallo, Ciconia
Danke für`s zurechtrücken. ;)

Hallo, Ji Rina
Bitte nicht böse sein. :cool:


Vielleicht war der Abend zu schön - sternenklarer Himmel, gemütlich warmer Wintergarten, in der Ferne das Meeresrauschen, ein (oder schon zwei?) Glas Rotwein, der Hund (nicht meine Frau!) zu meinen Füßen.

Ich habe nicht die leiseste Erklärung, wie es geschehen konnte, dass ich Euch beide verwechselte ...


Einen schönen Abend noch und herzliche Grüße
Frank
 

Ji Rina

Mitglied
Ich hielt meine Mutter nie für eine Messie, das muss ich gleich zu Beginn klarstellen. Sie besaß ein großes, ordentliches Wohnzimmer, wo alles seinen Platz hatte. Schöne Holzregale und Vitrinen, in denen sie geschmackvolle Dekostücke aufbewahrte. Eine gemütliche Sitzecke neben dem Kamin. Bilder an den Wänden, von denen einige sogar einen Namen hatten. Auch in der Küche hatte alles seinen Platz: der Toaster, die Mikrowelle, die Brotschneidemaschine, der elektrische Dosenöffner, all das stand jahrelang ordentlich an derselben Stelle. Aber wenn meine Mutter eine besondere Schwäche hatte, dann war es die des Sammelns. Ihre Vorliebe galt keinen besonderen Dingen, sondern allem Möglichen. Ich nenne sie einfach Sachen. Ja, das war es, was sie interessierte: Sachen, egal welche.

In den zehn Jahren, in denen ich mit ihr in einem Haus lebte, gewöhnte ich mich daran. Ich erinnere mich noch, als wir das Haus, in das wir zusammen einzogen, das erste Mal sahen. Die Wände waren gerade frisch gestrichen worden, die Böden glänzten. 150 Quadratmeter Fläche warteten darauf, von uns bewohnt zu werden. Wir begannen, das Haus schön einzurichten, und während des ersten Jahres war alles noch ganz normal. Man konnte noch auf der Couch vor dem Fernseher sitzen, sich entspannt zurücklehnen und Wetten Dass ansehen. Es war noch möglich, hinten raus über die Terrasse zu dem Anbau zu gehen, in dem ich meinen Wohnraum hatte. Und man konnte auch den Wagen vor dem Haus problemlos parken oder wenden, wenn einem danach war. Mit der Zeit begannen sich die Sachen im Haus jedoch anzuhäufen. Ich arbeitete den ganzen Tag in einem dreißig Kilometer entfernten Büro und hatte keine wirkliche Ahnung von dem, was meine Mutter den ganzen Tag lang so trieb. Manchmal arbeitete sie im Garten, wo sie Blumen umtopfte oder die Erde harkte. Oder sie stand in der Küche, wo sie einen Eintopf kochte, den sie dann portionsweise einfror. Andere Male fuhr sie in ihrem Wagen ins Dorf, um auf den Markt zu gehen, um Gemüse und Obst für die Woche zu kaufen. Jedes Mal, wenn sie ins Dorf wollte, musste sie an einer Müllstelle vorbeifahren; einer Stelle am Straßenrand, an der Bewohner der Außenbezirke ihren Müll deponierten, der dann samstags von der Dorfgemeinde mit einem Laster abgeholt wurde. Ich kannte die Stelle gut. Die Bewohner stellten dort nicht nur ihren Müll ab, also den Küchenmüll, sondern alles, was sie nicht mehr gebrauchen konnten. Wenn andere Menschen etwas nicht mehr gebrauchen konnten, hieß es aber noch lange nicht, dass es nicht für meine Mutter brauchbar war. Aus dem Grund machte sie fast immer vor dieser Müllstelle halt. Manchmal hielt sie dort, weil sie ihren Müll abstellen wollte, meistens nichts weiter als eine kleine Plastiktüte voller Kartoffelschalen und leerer Dosen. Und sehr oft fuhr sie mit einem halb vollgeladenen Wagen wieder weiter. Zum Beispiel an jenem Tag, an dem sie acht sehr große Setzkästen auf der Müllstelle fand. Es waren originale Holzschubladen aus einer Druckerei, die – dessen war meine Mutter sich ganz sicher – bestimmt ihren Wert hatten. Ein anderes Mal fand sie fünf große Spiegel, sehr hohe, die sicherlich auch einiges kosteten. Einen besonders guten Fang machte sie an dem Tag, als sie mit drei Schaufensterpuppen im Auto wegfuhr.
Wenn ich sie dann fragte, wozu sie die vielen Spiegel, Setzkästen und Mannequins brauchte, warf sie mir einen Blick zu, als ob ich vom Mond käme:
»Wozu sind Spiegel nützlich? Wozu Schaufensterpuppen oder Fensterscheiben?«
Und da ich merkte, dass sie auf diese Fragen jedes Mal sehr empfindlich reagierte, vermied ich es, darüber zu reden.
Ich beobachtete, was alles an neuen Sachen in unserem Haus auftauchte, und sagte nichts mehr. Unser Esstisch in der Küche war immer vollgepackt: ein Hammer, eine Klebetube, Schrauben, Taschenlampen, Gummibänder, Zettel. Und es gab auch Schalen, die mit kleineren Sachen gefüllt waren: Briefmarken, Stecknadeln, Döschen, Schräubchen. Wenn man am Küchentisch frühstücken oder essen wollte, musste man erst mal diese ganzen Sachen zur Seite schieben, damit man einen Teller hinstellen konnte. Ein Jahr nach unserem Einzug konnte man diese gefüllten Schalen überall im Haus finden: auf dem Kühlschrank, auf den Ablagen des Badezimmers, auf dem Wohnzimmertisch. Es waren Schalen, in die sie die ganz kleinen, winzigen Sachen reinpackte, um nicht den Überblick zu verlieren: die winzige Porzellannase, die einer Puppe mal abgefallen war, eine Briefmarke, ein Streichholz, das sicherlich nützlich sein könnte, falls die Streichholzschachtel mal leer wäre etc. …

Ich muss zugeben, dass es Momente gegeben hat, in denen ich irgendetwas Bestimmtes in kürzester Zeit auch gefunden habe. Und zwar genau dann, wenn ich es gerade mal brauchte: eine Tube Schnellkleber, ein Hustenbonbon oder einen Teppichklopfer (wer besitzt heutzutage noch ein Teppichklopfer?). Ich jedenfalls war mir sicher, dass wir keinen besaßen, als ich einen brauchte. Und siehe da, es war nicht nur so, dass wir einen im Haus hatten, sondern meine Mutter wusste auch sofort, wo: in der Küche hinter dem Kühlschrank.

Nach zwei Jahren war das Haus mit Sachen zugebaut. Dinge quollen aus den Regalen, standen übereinander in jeder Ecke. Und auf dem Weg über die Terrasse zum Anbau standen Kartons und Säcke voller Sachen, in die ich nie reinblickte oder nicht reinblicken konnte, weil sie oben mit einem Bändchen sorgfältig zugeschnürt (und verknotet) waren. Wenn ich am Wochenende im Haus sauber machte, um meiner Mutter ein bisschen behilflich zu sein, tat ich es nur mit dem Staubsauger: Ich saugte einfach über die Sachen hinweg oder drum herum. Das Praktische daran war, dass man sehr schnell fertig wurde. Manchmal saugte ich um so viele kleine Sachen herum, dass diese aus Versehen mit eingesaugt wurden. Meine Mutter ahnte dies und hasste es, wenn ich zum Staubsauger griff. Gerade das Verschwinden sehr kleiner Dinge war ihr ein Albtraum.
Dieses Thema war sehr heikel, und deshalb vermieden wir es, darüber zu sprechen: Was ist für wen nützlich? Das ist ein bisschen so, als diskutiere man über Religion oder Politik. Ich ließ es sein, auch weil ich immer im Stress war und keine Zeit hatte. Von zu Hause fuhr ich ins Büro und vom Büro abends müde zurück nach Hause, wo ich mich nur noch aufs Sofa vor den Fernseher fallen ließ.
Der Weg über die Terrasse zum Anbau – meiner kleinen Wohnung – wurde immer schmaler. Links und rechts häuften sich immer mehr Sachen an, und manchmal schob ich die Sachen einfach nur mit dem Schuh dreißig Zentimeter weiter nach hinten an die Wand, um diesen schmalen Weg, der mir noch geblieben war, breiter zu machen. Um mein Terrain, also wenigstens den Weg in meine Wohnung, zu verteidigen. Aber es gab Tage, an denen meine Mutter anscheinend vergaß, dass ich dort hinter der Terrasse in einer kleinen Wohnung lebte. Denn manchmal war der Weg völlig zugebaut, und dann blieb mir nichts anderes übrig, als über die Sachen hinwegzusteigen. Wobei mir aber durchaus bewusst war, dass ich dies nicht einfach so hinnehmen durfte, es sei denn, ich wollte irgendwann über das Fenster in meine Wohnung gelangen. Aber nichts war mir unangenehmer, als dieses Thema anzuschneiden. Und deshalb vermied ich es.

Zwei-, dreimal im Jahr, wenn es mich überkam, packte ich das Thema dann doch an und schlug meiner Mutter vor, wenigstens die unbrauchbaren Sachen – also die, die schon seit Jahren in Säcken und Kartons lagen –, wegzuschmeißen, oder zu verschenken. Ich erklärte ihr, dass sich mittlerweile so viel angehäuft hatte, dass wir wichtige Sachen auch gar nicht mehr finden konnten, weil alles verpackt und zugestellt war. Ich nannte ihr als Beispiel den Tag, an dem ich den kleinen Staubsauger suchte. Nicht der große Staubsauger, sondern ein kleiner, der sehr nützlich war, wenn man zum Beispiel mal schnell das Auto staubsaugen wollte. Gut. Dieser kleine Staubsauger befand sich im unteren Regal eines Schranks, vor dem jedoch acht sehr schwere, vollgepackte Kartons standen, die ich keinen Zentimeter bewegen konnte. Also musste ich auf den handlichen Staubsauger verzichten; nicht nur an jenem Tag, sondern auch in den darauffolgenden Wochen und Monaten. Ich sagte: »Dann kauf ich eben ’n neuen. Denn an den komme ich ja nicht mehr ran.«
Meine Mutter saß dann da wie eine Sphinx, eiskalter Blick, unnahbar, mit einem Strichmund, und starrte mir in die Augen. Und mir war klar, dass das als Antwort genügte. Dieses Thema war tabu, und man hatte nicht darüber zu reden.

Eines Tages – ich kam gerade vom Büro nach Hause –, erwartete meine Mutter mich in der Küche. »Ich hab eine ganz tolle Idee!«, sagte sie.
»Und das wäre?«
»Ich werde auf den Flohmarkt gehen, um einige Sachen zu verkaufen!«
Ich stand gerade vor dem Herd und blickte in einen großen Topf Gemüsesuppe, die sie an dem Nachmittag gekocht hatte, und eigentlich hätte mich in dem Augenblick nichts mehr interessieren sollen als das. Doch als ich diese Worte hörte, drehte ich mich auf dem Absatz um: »Um Sachen zu verkaufen?«
Ihre Augen blitzten, während sie mich erwartungsvoll ansah. »Wie findest du das?«
»Keine schlechte Idee«, sagte ich vorsichtig. »Flohmarkt ist was Tolles.«
»Ich könnte zum Beispiel die Mannequins verkaufen«, sagte sie. »Und die Puppen mit den Puppenwagen. Das sind doch alles geeignete Dinge, um sie auf einem Flohmarkt zu verkaufen. Oder? Was meinst du?«
»Ja«, antwortete ich, noch immer zurückhaltend, weil ich wusste, dass jede Art des Drängelns eine kontraproduktive Wirkung hervorrufen könnte. »Für die Schaufensterpuppen würdest du wohl sofort Interessenten finden.«
Ich füllte mir ein Teller mit Gemüsesuppe und versuchte, mir meine Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Als ich mich zu ihr an den Tisch setzte, blickte sie nachdenklich zur Decke. Und später, als sie durchs Haus ging, um zu prüfen, was sie sonst noch alles auf dem Flohmarkt verkaufen könnte, verschwand ich in meinem Zimmer, um allein zu sein und um dem lieben Gott für diese außergewöhnliche Eingebung, die er ihr geschenkt hatte, zu danken. Ich stellte mir vor, wie die Sachen langsam aus unserem Haus verschwanden, wie meine Mutter Kisten und Kartons und Säcke ins Auto packte und leere Flächen entstanden. Im Geiste sah ich unsere Terrasse mit nichts anderem als einem Tisch und vier Stühlen und vielleicht noch ein paar hübschen Blumentöpfen drum herum. Halt so wie in jedem anderen, normalen Haus.
Meine Mutter war von ihrer Idee so besessen, dass sie noch in derselben Woche zum Rathaus fuhr und sich nach einem Flohmarktplatz erkundigte. Man gab ihr ein Kärtchen mit der Nummer 322, und sie zahlte den Platz sechs Monate im Voraus. Ich sagte ihr, dass ich sie das erste Mal begleiten würde. Den ganzen Samstag verbrachte sie damit, das Auto mit Sachen zu füllen, während ich mich um die Dinge kümmerte, die wir auf dem Flohmarkt benötigen würden: einen Tisch, eine Tischdecke, zwei Hocker, eine Thermoskanne mit Kaffee.

Sonntag um sieben Uhr früh standen wir dann auf unserem Platz. Ich hatte noch nicht einmal unseren Tisch aufgebaut, als sich die ersten Interessenten bereits nach den alten Kaffeemühlen erkundigten, die meine Mutter gerade aus den Kisten packte. Ein Ehepaar aus Holland nahm später die Mannequinpuppen mit. Und noch bevor es zwei Uhr nachmittags wurde, hatten wir bereits die Hälfte aller Sachen verkauft. Auf der Rückfahrt nach Hause öffnete meine Mutter eine kleine Metallschatulle und zählte erwartungsvoll das Geld.
»Fast dreihundert Euro!«, rief sie.
»Na, damit können wir doch etwas anfangen«, sagte ich vorsichtig.
Am darauffolgenden Sonntag fuhr sie allein zum Flohmarkt. Diesmal brachte sie es auf zweihundertachtzig Euro. Und am dritten Sonntag kam sie mit dreihundervierzig Euro zurück.
»Jetzt könnten wir uns das kleine Gartenhäuschen leisten, das wir im Einkaufszentrum gesehen haben«, sagte ich. »Weißt du noch? Dieses Häuschen, in dem wir das Gartenwerkzeug hineinstellen könnten.«
»Jaha!«, antwortete sie enthusiastisch. »Wir könnten jetzt auch die Markise für die Terrasse kaufen! Ich hab heute nicht nur viel verkauft, sondern auch ganz tolle Sachen gefunden!«
»Gefunden?«
»Ja. Jetzt wirst du staunen!«
Sie rannte aus der Küche und hastete zum Auto. Ich beobachtete sie durch das Küchenfenster und sah, wie sie mit einem großen Karton unter dem Arm zurückkam. »Guck dir das nur an!«, sagte sie und kramte lauter Dinge aus dem Karton, die sie auf den Küchentisch stellte.
»Eine ganz tolle Pfeffermühle für nur einen Euro! Dabei habe ich neulich eine ganz Ähnliche für zehn Euro verkauft! Hier, schau! Eine Öllampe für drei Euro! Ist die nicht hübsch? Unsere alte Öllampe hat mir ein Engländer letzte Woche für zwölf Euro abgekauft! Er sagte noch, dass sie ideal für sein Segelboot sei.«
»Man könnte also sagen, dass du dieselben Sachen kaufst, die du gerade verkauft hast«, sagte ich.
Sie sah mich aus verengten Augen an. »So könnte man es sagen. Aber … Fällt dir dabei denn nichts auf?«
Ich erwiderte ihren Blick. Eigentlich war ich nicht darauf bedacht, mich auf ein solches Gespräch einzulassen, da es ganz bestimmt in keine gute Richtung verlaufen würde.
»Ich verkaufe die Dinge mit Gewinn!«, sagte sie. »Das ist das Geschäft des Flohmarkts. Man kauft für wenig Geld und verkauft es dann teurer. Und das bedeutet Gewinn. So funktioniert die Welt.«
»Mh«, sagte ich. Ihr Geduldsfaden lag an der Grenze. Das spürte ich.

Und so lief meine achtzigjährige Mutter jeden Sonntag bei Dämmerung aus dem Haus. Schwang sich auf den Fahrersitz ihres VW-Busses und fuhr zum Flohmarkt. Selbst bei vierzig Grad Hitze oder im Winter, bei prasselndem Regen oder Eiseskälte stand sie da, mit Handschuhen, eingemummt in dicke Wollpullover, und verkaufte die Dinge, die sie eine Woche zuvor an irgendeinem Stand billig gekauft hatte. Auf der Rückfahrt nach Hause brachte sie immer mehr Sachen mit. Einmal kam sie mit einem vollen Auto gebrauchter Teppiche, die ein Marokkaner ihr zu einem Spottpreis vermacht hatte, da er dringend das Geld benötigte, um nach Marokko zu fahren.
»Du mir geben hundert Euro! Und du verkaufen für zweihundertfünfzig!«, hatte er ihr erklärt.

So vergingen die Jahre. Vor unserem Hauseingang häuften sich Holzplatten in allen Größen an. Leere Blumentöpfe standen dutzendweise herum. Mehrere alte Fahrräder, Kinderautos aus Plastik, kaputte Bilderrahmen, die irgendwann repariert werden sollten, füllten den Garten. Wenn ich mit dem Wagen bis vors Haus wollte, weil ich vielleicht einen größeren Einkauf im Supermarkt gemacht hatte, konnte ich nur noch vorwärts oder rückwärts fahren. Ein Wenden war nicht mehr möglich, wenn ich nicht über sämtliche Sachen fahren wollte.
Im Haus, in den Regalen und Schränken, gab es keine freie Stelle mehr, und es gab auch keine Stelle mehr, wo man ein neues Regal oder einen neuen Schrank hätte hinstellen können. Im kleinen Gästezimmer am Ende des Flurs gab es ein Regal, das sogar zusammengebrochen war. Es hatte seinen Geist unter der Last der Sachen aufgegeben und lag dann monatelang zugeschüttet von Sachen auf dem Boden, weil es gar nicht möglich war, dorthin zu gelangen, ohne über andere Sachen in Kartons oder Säcken hinwegzusteigen, mit der Gefahr, diese zu beschädigen, falls ihr Inhalt fragil war.

Um es kurzzufassen: Das Haus war voll. Es hatte uns jeden Zentimeter Raum zur Verfügung gestellt, aber nun ging nichts mehr. Es war kein weiterer Leerraum vorhanden, weil das Haus nun mal nur diese Fläche besaß. Nicht mehr und nicht weniger. Mir wurde bewusst, dass wir bald ein größeres Haus benötigen würden. Aber ich schwieg und dachte nur, dass meine Mutter selbst darauf kommen müsste. Sie war meine Mutter, und ich respektierte sie. Eine alte, gebrechliche Frau, die den Krieg miterlebt hatte, die an Rheuma litt, an niedrigem Blutdruck und an Schlaflosigkeit. Ich wusste, dass es nur eine Mutter im Leben gibt und dass man diese respektieren muss. Ich meine, sie war ja auch ein interessanter und edler Mensch. Es gab nichts, was sie nicht konnte: kochen, backen, basteln, Holz hacken. Einmal hatte sie sogar einen Kamin gebaut. Na gut, dann musste man halt einiges in Kauf nehmen. Dann musste man eben die Sachen auf dem Weg zum Anbau wegschieben. Dann musste man halt rückwärts oder vorwärts zum Haus fahren, um den Einkauf auszuladen.
Selbst wenn wir mal Gäste hatten und das Haus gerade wirklich ein einziges Chaos war, fand meine Mutter eine geeignete Lösung: Lass uns die Pecholts doch einfach in ein Restaurant einladen! Und so gingen wir dann mit unseren Gästen in ein Restaurant und erklärten ihnen, dass wir zu Hause einen Rohrbruch hatten – oder der Gasofen kaputt sei oder weiß der Geier was. Ins Restaurant zu gehen, hatte wiederum den Vorteil, etwas essen zu können, das wir zu Hause nie kochten: etwa Trampó oder Tumbet oder Kaninchen in Weinsoße. Außerdem ersparten wir uns so den Abwasch sowie das mühsame Wegräumen der Pfannen und Kochtöpfe, in voll beladene und ohnehin zugestopfte Regale, in die nichts mehr reinpasste.

Als meine Mutter in einem Frühsommer mit 82 Jahren plötzlich starb, hatte ich keine Zeit, um über diese Dinge nachzudenken. Erst einige Wochen danach kam mir die Aufgabe in den Sinn, die mir jetzt bevorstand: Ich musste das Haus leeren. Drei Tage lang lief ich von Zimmer zu Zimmer, ohne zu wissen, wo ich anfangen sollte. Aus diesem Grund packte ich es irgendwann einfach kopflos an und lief in den erstbesten Raum, um Kartons zu öffnen.
Die Dinge, die ich fand, bereiteten mir schlaflose Nächte. Es fand sich alles, was man sich nur vorstellen konnte, und vieles in dreifacher, zehnfacher, hundertfacher Version. So fand ich zum Beispiel einen größeren Schuhkarton mit achtundzwanzig Scheren. Eine große Holztruhe mit Weihnachtspapier und Schleifen, die meine Mutter über dreißig Jahre lang gesammelt haben musste. Eine weitere, noch viel größere Truhe enthielt so viel Weihnachtsdeko, dass man eine Kleinstadt damit hätte schmücken können. Es gab einen Karton gefüllt mit Kerzen in allen Größen und Farben. Ein Riesenkarton enthielt Reißverschlüsse, ein anderer Radiergummis oder Mal- und Bleistifte. Nicht zu vergessen: der Schlüsselkarton. Wenn jemand in unserem Dorf mal einen Schlüssel benötigt hätte, dann hätte er diesen bei uns gefunden: Schlüssel in allen Größen und Variationen, von großen alten bis zu denen, die so winzig waren, dass man sie kaum sehen konnte. Ich fand massenweise gestapelte Kleider und Stoffe und Gardinen. Eine Bekannte trug achtzehn große Müllsäcke voller Stoffe in ihren Wagen. Außerdem fand ich Wasserpumpen und vier verschiedene elektrische Bohrer. Oder Außenlampen, mit denen man ein Fußballfeld hätte hell erleuchten können. Im Wohnzimmer stand eine sehr lange Kommode, in die ich in den letzten Jahren nie reingeschaut hatte. Diesmal blieb mir nichts anderes übrig. Und mit was war sie gefüllt? Tischdecken! Weiße, hellblaue, rosa, gelbe Tischdecken. Bei fünfundsechzig gab ich das Zählen auf.
Und doch hatte alles irgendwie seine Ordnung: Fand ich eine Puppe, der ein Arm fehlte, so tauchte irgendwann mal ein Kästchen auf, welches genau diesen Arm enthielt. Oder ein anderes Kästchen mit dem Deckel eines Weckers, dem Beinchen eines Püppchens oder das kleine WC, welches in das Bad einer Puppenstube gehörte.

Das Sortieren und Entleeren des Hauses dauerte vier Monate. Stoffe, Kleidung, Vorhänge sowie einige Möbelstücke gingen an die marokkanische Gemeinschaft unseres Dorfes. Puppen, Kaffee- und Pfeffermühlen zurück an den Flohmarkt. Ich schenkte sie ein paar Flohmarkthändlern, die sich mit meiner Mutter, als diese noch lebte, gut verstanden hatten. Es war schon seltsam, wie sich das Rad drehte. Wie die Dinge, die meine Mutter irgendwann mal verkauft und später gekauft hatte, nun auf dem Flohmarkt wieder verkauft wurden.

Irgendwann war das Haus dann leer.

Man konnte im Wohnzimmer sitzen und Kaffee trinken und sich frei bewegen. So saß ich später oftmals da. Nachmittags warf die Sonne ihre letzten Strahlen durch die Fenster. Das Wohnzimmer wurde in ein warmes, goldenes Licht getaucht. Draußen hörte man die Vögel zwitschern. Und ich saß auf dem Sofa, erinnerte mich an alte Zeiten und blickte nun auf leere, kahle Wände.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Frank!
Lieben Dank für diese Analyse!
Hab die erste Zeile geändert.
Hab Bananenschalen und Zeitungen rausgenommen.
Hab “leere Blumentöpfe” statt: Blumentöpfe (leere) geschrieben (war urspünglich humorvoll gemeint (sowie, durchs Fenster in den Wohnbereich…oder mit Bekannten auswärts essen gehen, etc..) und deshalb mit Absicht so geschrieben.
Hab "vorwärts und rückwärts fahren" (anstatt “Umfahrender Parcours) gelassen, da es auch viele Hauseinfahrten gibt, auf denen man wenden kann.

Ganz leicht Füllwortlastig:
Kleine Statistik gefällig?
Das Wörtchen „oder“ kommt 26 mal vor.
Das Wörtchen „so“ kommt 19 mal vor.
Das Wörtchen „dann“ kommt 18 mal vor.
Das Wörtchen „mal“ kommt 16 mal vor.
Das Wörtchen „wenn“ kommt 15 mal vor.


Man müsste wohl mal ausrechnen, ob dies bei einer 10 Seiten Erzählung noch akzeptabel ist….;)

Ich weiss nicht, ob das von Dir aufgezählte (in diesem Text) störend wirkt. Jedenfalls hat niemand es bemängelt. Störend wirkt auf mich in Texten, das sich immer wiederholende “dann”….Aber es kommt auch darauf an, wie und wann man das Wort verwendet. Im besonderen stört es mich, wenn städing ein Satz damit anfängt: Dann gingen wir in die Stadt. Dann kam Herbert….

Mach Dir keine Gedanken wegen der Verwechslung…Ist mir auf anderen Foren auch passiert(nur, das ich meine Rezi auch noch unter den falschen Text gesetzt hatte… :D) Passierte mir wenn ich mehrere Texte und Rezis an einem Abend gelesen/geschrieben habe.
Ich bedanke mich für Deine Mühe und die guten Ratschläge und wünsche Dir noch einen schönen Urlaub!;)
Grüss mir die Provence (das war mein Lieblingseck!)
Mit lieben Gruss,
Jirina
 



 
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