Sag es dem Spiegel

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Dieser Graben war auf einmal da, zwischen Mittag und Abend entstanden. Ich bin nicht über ihn gesprungen, damals nicht und später auch nicht …
Geh doch endlich zum Friseur, sagt meine Mutter. Es sind schon fünf Wochen, du siehst aus wie …! Sie will mich schonen, sie verschluckt gern, was sie wirklich von mir denkt.
Ja, wie sehe ich denn aus? Ich gehe ins Bad. Ich brauche heute Nachmittag nicht zu helfen, denn er hat den Lieferwagen zur Werkstatt gefahren, gleich nach dem Essen. Er besorgt noch etwas in der Stadt und wird heute nicht meckern, weil ich wieder mal stundenlang lese. Im Spiegel sehe ich aus wie einer mit Afrolook nach drei Tagen Sturm und Regen. Meine Haare wachsen so schnell – jede aufgeplatzte alte Matratze sieht besser aus. Und mein Gesicht, ist es hässlich? Ich fixiere mich feindselig mit geschürzter Lippe und finde mich abstoßend. Mitesser muss ich auch noch ausdrücken - nach dem Friseur. Ich denke daran, wie er mir immer den Nacken scharf ausrasiert. Das ist sehr angenehm.
Ich trabe also los. Den steilen Berg ins Dorf hinunter laufe ich und kann mich unten an der Ecke der Bahnhofstraße gerade noch stoppen. Das Auto dicht vor mir bremst, hupt und beschleunigt schon wieder. Auch ich werde später einen großen Wagen fahren und ein neues großes Haus in der Stadt haben, draußen am Waldrand. Ich will mal Studienrat werden, für Deutsch und Geschichte, und in den vielen langen Ferien mache ich große Reisen. Kanada und Zypern, Lappland und Portugal, das reicht fürs erste Jahr. Ich werde vier oder fünf Kinder haben und eine attraktive Frau. Das ist genau die Reihenfolge, in der ich immer meine Wunschvorstellungen im Kopf abspule.
Im Friseurladen ist vorne bei den Männern nichts los. Ich komme gleich dran. Wie immer sagt der Friseur: Es ist also wieder mal so weit … Rundschnitt? Ja, alle drei Wochen muss man schon kommen. Du weißt doch: Bei einem jungen Mann sehen die Leute nur auf zwei Sachen: auf die Schuhe und auf die Frisur. - Auf sonst nichts? Ich frage nicht laut, ich denke es nur.
Der Friseur ist Mitte dreißig, sein Salon schäbig. Bei ihm ist es am billigsten hier im Dorf. Hinter der halbhohen Milchglaswand neben mir sehe ich aus dem Augenwinkel die Silhouette zweier Schatten. Die junge Frau des Friseurs bedient dort eine Kundin. Sie reden laut miteinander, pausenlos. Doch unter den Geräuschen von Fön dort und Schere hier kann ich davon so gut wie nichts verstehen. Außerdem will sich der Friseur mit mir unterhalten.
Du verreist nicht in den Ferien? Ach ja, du musst im Betrieb helfen … Du bist der Einzige bei euch, nicht? Wir fahren auch nicht groß weg, nur zu den Schwiegereltern … Ich habe seine Frau ein paar Mal gesehen. Sie ist jünger als er, sehr schlank, kurzhaarig. Sie kommt mir fast wie ein Schuljunge vor. Hübsch ist sie auch noch. Von meiner Mutter weiß ich, sie sind schon Jahre verheiratet und Kinder sind nicht gekommen. Da wird es bei ihnen wohl mal keinen Nachfolger geben, hat sie außerdem gesagt.
Da ist einer unter euch, unter euch Jungen … Der Friseur unterbricht sich, um mir die vielen abgeschnittenen Locken mit seiner Handkante vom Umhang zu fegen. Dabei berührt er durch den dünnen Stoff meine knochigen Schultern. Ich finde den Friseur klein und schmächtig. Er fährt fort: Er hat immer eine Lederhose an, er als Einziger hier im Dorf – weißt du, wen ich meine? Ja, natürlich weiß ich es und sage einfach nur: Fabian heißt er.
Er fragt dann weiter: Was ist das für einer? Der Friseur sieht mir beim Fragen nicht ins Gesicht. Er arbeitet jetzt hinter mir und schaut angestrengt auf meinen Hinterkopf. Wenn ich geradeaus in den Spiegel blicke, kann ich nur mir selbst in die Augen sehen. Fabian, sage ich, ach, der … Sein Vater ist schon tot, der war nur Hilfsarbeiter. Sie wohnen in der Sozialsiedlung … Ich komme mir verlogen vor. Die Wahrheit ist: Ich möchte sagen, dass mich Fabian fasziniert. Er ist so aufregend schön, wie der kleine Friseur hinter mir mickrig ist. Fabian weicht mir immer aus.
Wir schweigen jetzt beide eine Zeitlang. Den Nacken mit dem Messer ausrasieren? – Ja, bitte. Aber es erregt mich heute kaum. Vielleicht bin ich zu unaufmerksam. Man muss diesen Reiz sehr konzentriert auf sich wirken lassen. Ist bei mir jetzt nicht auch eine Spur Ekel im Spiel? Und warum hat er sich gerade bei mir erkundigt?
Ich habe gezahlt und den Salon verlassen. Seine junge knabenhafte Frau ist heute nicht hinter der Milchglasscheibe hervorgekommen. Jetzt trotte ich die Bahnhofstraße zurück und steige dann den Berg langsam hinauf. In mir entsteht ein kleiner abscheulicher Roman. Also der kinderlose Friseur und seine hübsche, sehr schlanke junge Frau und dieser Fabian - und ich. Der Friseur, ist er so? Meine Gedanken haben das Thema bisher nur in großem Abstand umkreist.

Zu Hause stehe ich wieder im Bad vor dem Spiegel. Ich sehe jetzt mit kurz geschnittenem Haar viel besser aus. Schade, dass das Ausrasieren heute nicht so lustvoll wie sonst war. Da bin ich um ein Vergnügen gekommen. Vielleicht wird es nächstes Mal wieder gut.
Ich vermeide es, mir in die Augen zu sehen, mein Blick wandert abwärts über Konsole und Wasserhähne zum Beckenrand. Ich schiebe meinen Unterleib dicht an den Beckenrand heran. Unser Waschbecken ist mir noch nie so groß wie heute vorgekommen. Ich sehe lange hinein und sehe es auf einmal wie einen Graben vor mir, breit und tief. Dann verstopfe ich den Abfluss, lasse kaltes Wasser einfließen. Über einen solchen Abgrund von Graben müsste ich springen. Ich werde es nicht tun. Ich werde nie springen, ich werde immer auf dieser Seite bleiben. Keine Frau und keine Kinder haben, kein Haus und keine Familienkutsche … Nur das verspreche ich mir: Wie der Friseur will ich später mal nicht dastehen.
Ich lasse das Wasser abfließen und gehe in die Küche, um meiner Mutter den Haarschnitt zu zeigen. Nein, Mama, was soll denn sein? Nichts ist passiert, nichts …
 

Michele.S

Mitglied
Eine nette kleine Geschichte, ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben des Protagonisten. Vieles wird offen gelassen. Gerne gelesen!
 
G

Gelöschtes Mitglied 24409

Gast
Lieber Arno,

Du hast schon in anderen kurzen Prostexten Deine Schreibfähigkeit bewiesen - hier auch! Das fehlerfreie Deutsch kommt hinzu.
Schön, so etwas zu lesen!


Kristian
 
Vielen Dank an Kristian Berger für das ermutigende Echo sowie die erfreuliche Bewertung.

Meinen Dank auch an Lord Nelson für die maximale Bewertung.

Schöne Abendgrüße
Arno
 
G

Gelöschtes Mitglied 24694

Gast
Hallo Arno Abendschön,

eine interessante kleine und kurzweilig erzählte Geschichte, mit guten Ausgang für den Protagonisten.

Wie gut, dass es den Spiegel und sein Bild gibt.


Ein lieber Gruß
AVALON
 
Dank auch an AVALON für die Einschätzung und Bewertung. War interessant für mich, dass du den Ausgang für positiv hältst. Der Protagonist hat das damals möglicherweise nicht ganz so empfunden. Im Rückblick auf Jahrzehnte würde ich dir allerdings zustimmen. (Klar, ich habe hier in stark literarisierter Form mein eigenes inneres Coming-out dargestellt.)

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Was ich inhaltlich grandios finde, ist diese Ehrlichkeit des Protagonisten zu sich selbst - und das in einem Alter, in dem man von der Mutter noch zum Friseur geschickt wird ... Sprachlich ... ist ja alles gesagt: douze points.

Liebe Grüße
Petra
 
Was ich inhaltlich grandios finde, ist diese Ehrlichkeit des Protagonisten zu sich selbst - und das in einem Alter, in dem man von der Mutter noch zum Friseur geschickt wird ...
Das wird wohl so gewesen sein, liebe Petra: Mit sechzehn frühreif im Kopf und im realen Leben vollkommen unselbständig. Woraus sich dann bald darauf starke Spannungen entluden (Brüche und Abbrüche).

Unter dem Vorwand der Textarbeit stelle ich hier noch die frühere Fassung des Textes in Ich-Form vor. Man kann daran den Prozess der Literarisierung erkennen.

Danke für deinen Anstoß und das Lob
Arno Abendschön


Die Entdeckung der Homosexualität beim Friseur

Die meisten Friseure, deren Stammkunde ich war, waren verheiratet und hatten Kinder. Unter den vielen Homosexuellen, die ich kennenlernte, waren nur wenige Friseure. Eine Tätigkeit, die im Stehen ausgeübt und nicht besonders gut bezahlt wird, ist nicht sehr attraktiv. Die Frage, ob viele Friseure schwul sind, interessiert mich kaum Ich will auf etwas anderes hinaus.

Yukio Mishima beschreibt in seinem autobiographischen Roman „Geständnis einer Maske“, wie der sich entwickelnde Homosexuelle schon als Kind, als Jugendlicher eindeutige und heftige Zuneigungen verspürt – und dies dabei für vollkommen normal hält. Die Welt der Durchschnittsmenschen wird auch ihm offen stehen, glaubt er noch eine Zeitlang. Gerade so erging es mir mit dreizehn, vierzehn Jahren. Ich verliebte mich wiederholt in andere Jungen und ging zugleich mit großer Naivität davon aus, auch ich würde eine Frau heiraten, Kinder haben, ein Haus bauen, eine Familienkutsche von Opel fahren usw. usf.

Und dann kam ein Friseur ins Spiel. Nein, es war keine „Verführung“. Alles spielte sich nur im Kopf ab. Von diesem Friseur ließ ich mir schon seit Jahren die Haare schneiden. Er war noch jung, um die dreißig, Inhaber des Salons, in dem auch seine Frau arbeitete, eine auf knabenhafte Weise hübsche Person. Die Ehe war kinderlos. Dieser Friseur fragte mich eines Tages nach einem Mitschüler aus, der es mir schon länger angetan hatte. Er wollte seinen Namen wissen, wo er wohne und was es sonst mit ihm auf sich habe. Er war ihm u.a. dadurch aufgefallen, dass er als Einziger weit und breit eine schwarze Lederhose trug. Ich wusste gleich, wen er meinte; nennen wir ihn Fabian. Ich gab die erwünschten Auskünfte. Wir sprachen also einige Zeit über Fabian, und der Friseur sah mir beim Reden nicht in die Augen, sondern auf meinen Hinterkopf. Wenn ich vor mich in den Spiegel blickte, konnte ich nur mir selbst in die Augen sehen.

In der Folgezeit gingen mir seine Fragen oft im Kopf herum. Sie konnten vollkommen harmloser Natur gewesen sein, doch für mich waren sie es damals nicht. Im Spiegel des Erwachsenen erkannte ich das eigene Begehren und begann erstmals eine Grundverschiedenheit in der Veranlagung ins Auge zu fassen. Ich versetzte mich mit meinen Wünschen in diesen erwachsenen Mann mit Kamm und Schere hinter mir und betrachtete mich so aus einer allgemeineren, objektiveren Perspektive. Hinter seinem Interesse für Fabian, hinter seiner eigenen Kinderlosigkeit und der knabenhaft hübschen Frau begann ich einen Roman zu vermuten. Dieser Friseur wurde so für mich der erste in einer langen Reihe von Männern mit bisexueller Biographie. Hätte ein x-beliebiger Mitschüler interessiert nach Fabian gefragt – ich würde nichts daran gefunden haben. Der Anblick des erwachsenen, verheirateten Mannes, der das Gleiche tat, schockierte und ernüchterte mich zugleich und zerstörte meine Theorie von der allumfassenden Normalität aller Menschen, mich eingeschlossen.

Damit hatte ich eine für mich neue Entdeckung gemacht, die Entdeckung der Homosexualität. Von da an begann ich mich selbst zu erforschen. Das Ergebnis nach längerer Zeit war: Nein, ich würde keine Frau heiraten, keine Kinder haben, kein Haus und keinen Opel … Und eine Existenz, wie ich sie – vielleicht zu Unrecht – dem Friseur zuschrieb, fand ich auch nicht verlockend.
 

petrasmiles

Mitglied
Mir gefallen beide Versionen gut.
Ich lese aber auch gerne Biographien - oder Tagebücher. Ich mag diese Begegnungen eines Menschen mit sich selbst - wenn er denn etwas zu sagen hat.
Die literarische Version passt natürlich besser in einen Erzählungsband, weil sie in sich geschlossener ist. Bei der Ich-Version ist bei mir zumindest die Erwartung nach mehr über die Person.
Ich glaube übrigens, dass Dich Deine Ahnung über den Friseur nicht trügt. Da sind diese Dinge, die feinfühlige Andere manchmal eher wissen, als der Betroffene, oder durchschauen trotz Maskerade.
Ich habe einmal eine Sendung über Bettina Böttinger gesehen und sie hat erzählt, dass sie schon in der Schule eher Mädchen toll fand, und wenn die anderen von den tollen männlichen Schauspielern schwärmten, kamen ihr eher die weiblichen in den Sinn. Ich hoffe wirklich, dass die Zeiten so tolerant werden - oder vielleicht schon sind - dass so ein gleichgeschlechtliches Verliebtsein unter Kindern oder Jugendlichen nicht (mehr) zum Skandal der Schule gemacht wird wie bei ihr damals.

Liebe Grüße - und gute Nacht!
Petra
 
Hallo Arno,

da zum Thema des Textes hier eigentlich schon alles gesagt wurde, möchte ich noch etwas zum literarischen Schaffensprozess sagen: Du hast den Text hier sehr gut weiter entwickelt, wenn man die erste und zweite Fassung vergleicht. In der ersten wird der Leser direkt am Anfang mit Informationen überschüttet. In der zweiten lässt du ihn langsam selbst darauf kommen. Chapeau!

LG SilberneDelfine
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

die vorgestellte Fassung gefällt mir viel besser als die frühere!

Im aktuellen Text wird vieles nur angedeutet und trotzdem weiß der Leser sofort, was gemeint ist. Das muss man als Autor erst mal schaffen!

Sehr gerne gelesen!

Gruß DS
 
Danke nun auch an die Silberne Delfine und Doc Schneider jeweils für Anerkennung und Bewertung - und mit der Bitte um Nachsicht dafür, dass dies in einem Aufwasch geschieht. Die Wertschätzung weiß ich gleichwohl zu würdigen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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