Salute Gaucho!

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ArneSjoeberg

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Links gähnt die Schwärze eines Abgrunds, rechts droht eine Felswand, sie zu erdrücken und der Weg zurück ist versperrt. Jeder Weg ist versperrt, jede Bewegung bedeutet den Tod. Gaucho verdreht die Augen, wiehert seine Angst in die Nacht, dass es von den Felswänden widerhallt, dann reißt er die Vorderläufe in die Luft. Hartwig schreit ...

Es dauert Sekunden, bis das Begreifen kommt. Zitternd richtet er sich auf, schiebt die viel zu warme Decke beiseite und quält sich aus dem Bett. Er schlurft ins Badezimmer, stößt sich unterwegs einen Zeh am Türrahmen, flucht und trocknet sich den Angstschweiß von der Innenseite seiner Oberschenkel. Immer sind es nur die Oberschenkel. Für einen Moment denkt er daran, sich wieder hinzulegen, aber er weiß, dass der Schlaf ihn fliehen wird. Ohne Licht zu machen, geht er in die Küche, gießt sich einen dreistöckigen Scotch ein, setzte sich auf den Balkon und atmet tief ein und aus.
Ein lauer Wind weht vom Schweriner See herüber. Er bringt den Geruch von Wasser und Tang mit und, ganz leise, die Motorengeräusche der wenigen Autos, die in dieser Sommernacht noch auf der Crivitzer Chaussee unterwegs sind. Wie eine zärtliche Hand streicht er über Hartwigs Haut, sickert in seine Seele und verdrängte sanft die Angst daraus.
Schwerin ist schön. Selbst in einem Plattenbau auf dem Dreesch. Unmittelbar hinter Hartwigs Balkon beginnt der Wald und wie auch jetzt, ist es niemals ganz still. Ein Kauz schreit, das Blattwerk der Bäume rauscht und manchmal trällert sogar zu Sonnenaufgang eine Nachtigall ihr Lied vor Hartwigs Schlafzimmerfenster. Wie Diamanten auf einem schwarzen Samttuch glitzern die Sterne am Himmel und irgendwo zwischen ihnen ist auch der Pferdekopfnebel. Hartwig möchte gerne glauben, dass es das Paradies für Pferde ist, eines, in dem die Seele eines tapferen Grauschimmels mit blitzenden Augen und einem großen Herzen seine letzte Ruhe gefunden hat.
Wieder rollt die Panik von damals über ihn hinweg. Sein Atem rast, der Schweiß bricht ihm erneut aus und wie auf einem Schwarzweißfoto sieht er wieder die Felsen des Mijas vor sich. Der Mond hatte im letzten Viertel gestanden und in seinem kalten Licht hatte er begriffen, dass Gaucho sterben musste, damit er, Hartwig, weiterleben konnte.
Er holt tief Luft und hebt das Glas zum Himmel. „Salute Gaucho!“
Ist es nur ein Luftschleier, der zwei der goldenen Diamanten am Himmel blinken lässt? Das Zittern von Hartwigs Händen verschwindet und sein Atem beruhigt sich. Er weiß, dass Gaucho ihn verstanden hat. Wie damals …

Weder der Herausforderung noch der Verführung hatte Hartwig widerstehen können – ein Internetprojekt hatte ihn gerufen. Eine Finca in Fuengirola zu Füßen des Mijas unter Andalusiens brennender Sonne, nur fünf Autominuten entfernt vom Mittelmeer hatten auf ihn gewartet und Alfred und seine Frau.
Sie besaßen zwei Pferde, eine sanfte weiße Araberstute und einen kleinen grauen, widerspenstigen Cartujano namens Gaucho, der immer den Schalk im Nacken hatte. Wenn er Lust darauf hatte, konnte ihn eine weiße Plastetüte auf dem Weg so sehr erschrecken, dass er auf die Hinterbeine stieg und seinen überraschten Reiter in hohem Bogen in die Luft katapultierte. Allerdings verriet er sich hinterher immer selbst, wenn er sich seinen Hals nach dem im Staub gelandeten Reiter verrenkte und wieherte, als hätte er einen richtig guten Witz gemacht.
Hartwig fand es weniger lustig, sich fast den Arm zu brechen beim Sturz und dafür auch noch ausgelacht zu werden. Damals fiel ihm nicht auf, dass Gaucho solche Anfälle nur bekam, wenn der Weg weich war, auf dem sie unterwegs waren. Trabten sie durch die gepflasterten Straßen Fuengirolas oder über die steinigen Gebirgspfade des Mijas, wurde Gaucho das trittsicherste Pferd der Welt und war durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
Damals verstand Hartwig das nicht und hielt sich nach seinem zweiten unrühmlichen Abgang lieber an die sanftäugige Stute. Ohnehin war er kein besonders guter Reiter. Er hatte es nie gelernt und hielt sich mehr schlecht als recht auf dem Rücken der Tiere.
Dann kam der Abend, an dem er sich mit Alfred überwarf. Das Projekt lief nicht gut, die Verkäufe brachen ein und nicht nur der Haussegen, sondern auch ihre Freundschaft hing an einem seidenen Faden. Mitten in dem heftigen Disput zwischen ihm und Alfred sprang Hartwig auf und rannte aus dem Haus. Er wollte nur noch weg, nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Seine Wut führte ihn zu den Ställen und ausgerechnet Gaucho, den er seit Wochen nicht mehr geritten hatte, warf er den Sattel und das Zaumzeug über und ritt mit ihm in die Abenddämmerung, hinein in die Berge.
Ihm fiel nicht auf, dass Gaucho viel ruhiger dahinschritt, als er es bisher mit ihm erlebt hatte. Meistens hatte Gaucho schon Sperenzchen gemacht, wenn Hartwig ihm die Decke übergelegt hatte. Nicht so diesmal. Im Gegenteil, ruhig hatte er sich satteln lassen und trabte sittsam unter Hartwig dahin. Nur manchmal drehte er halb seinen Kopf und sah Hartwig mit dem linken Auge an, so, als wollte er sich vergewissern, dass alles mit seinem Reiter in Ordnung war.
Nichts war in Ordnung, ganz im Gegenteil. Der Zorn wütete in Hartwig und seine Gedanken waren noch bei dem Disput mit Alfred. Es war nicht das Projekt, das Hartwig in die Knie zwang, sondern das Heimweh und das wollte er sich nicht eingestehen. Andalusien ist ein traumhaft schönes Land und er wäre gerne für alle Zeiten hier geblieben. Aber etwas in ihm rief ihn immer mehr zurück in die Heimat und das zerriss ihn innerlich. Doch Pferde sind keine Menschen, die so etwas fühlen und daraus Schlussfolgerungen ableiten könnten. Wie also hätte Gaucho darauf reagieren können?
Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Sterne leuchteten kristallklar am Nachthimmel, der Mond stand in seinem letzten Viertel und spendete genug Helligkeit, dass man bei seinem Licht noch hätte ein Buch lesen können.
Hartwig wollte nur weg von irgendwelchen Menschen und so lenkte er Gaucho in eine Gegend, in der er noch nie geritten war. Irgendwann erreichten sie einen schmalen Bergpfad. Nach einigen hundert Metern verengte er sich, links begann eine Schlucht und rechts reckte sich eine Felswand in die Höhe. Gaucho wurde unruhig, blieb nach wenigen Schritten stehen und drehte seinen Kopf, als wollte er seinen Reiter fragen, ob er sich sicher war. Hartwig wachte für einen Moment aus seiner Lethargie auf. „Was ist? Hast du Angst vor einem Bergpfad, du blöder Gaul?“
Gaucho schnaubte, Hartwig stieß ihm wütend die Fersen in die Flanken und widerwillig trabte Gaucho den gewundenen Weg hinauf. Als hätte ein Riese mit einer gewaltigen Axt eine Kerbe in den Fels geschlagen, wand sich der Pfad an der Flanke des Berges entlang. Links, nur einen halben Meter neben den beiden, ging es über einhundert Meter fast senkrecht in die Tiefe und rechts von ihnen rückte eine Felswand bei jedem Schritt immer näher. Manchmal streifte Hartwigs Stiefel bereits das Gestein, doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er Angst gehabt hätte.
Der Pfad machte eine Biegung, eine Felsnase versperrte den Blick nach vorn und Gaucho blieb stehen. Hartwig schaute über die Schulter zurück. In den letzten fünf Minuten war der Weg immer schmaler geworden und Gaucho jetzt zu wenden, hätte einem ungeübten Reiter wie ihm Probleme bereitet. Zwar wusste Hartwig nicht, was ihn hinter dem Knick erwartete, doch schließlich hatten Menschen den Pfad in den Fels gehauen und es schien ihm logisch, dass irgendwann wieder eine Straße kommen musste. Es konnte gar nicht anders sein und so zwang Hartwig Gaucho langsam und vorsichtig um die Biegung.
Hinter dem Knick wurde der Weg so schmal, dass selbst ein Mensch Schwierigkeiten gehabt hätte, hier sicher zu gehen, und Hartwig musste sich blind auf die Trittsicherheit seines Pferdes verlassen. Er legte beide Arme um den Hals Gauchos und hoffte, dass wenigstens der wusste, was er tat.
Sie schafften noch zwanzig Meter, dann endete der Pfad wie abgeschnitten vor einem Abgrund. Der Platz, auf dem sie standen, war so schmal, dass Hartwig nicht einmal hätte absteigen können, ohne Gefahr zu laufen, in die Tiefe zu stürzen. Vor ihnen und links ging es senkrecht in die Tiefe und rechts erhob sich mehr als dreißig Meter hoch eine mit dürrem Gesträuch bewachsene, schräge Felswand, die Hartwig selbst auf allen Vieren nur schwer hätte erklimmen können. Wieder schnaubte Gaucho, doch diesmal war ein Ton darin, den sogar Hartwig verstand. Ohne sich allzu sehr im Sattel zu bewegen, blickte er sich um, immer wieder, bis er schließlich begriff.
Ein Pferd kann mit einem geübten Reiter rückwärts gehen, doch nicht auf einem nur fünfzig Zentimeter breiten Felsgrat um eine scharfe Biegung herum. Und ein geübter Reiter war Hartwig schon gar nicht. Sicher gab es etwas in ihm, über das er nie nachgedacht hatte und dass ihn dazu brachte, dass Tier unter sich wie ihn selbst zu fühlen und sich ihm anzupassen, als sei er ein Teil von ihm. Hartwig wusste nicht, dass es eine Gabe ist, um die ihn viele Reiter beneiden würden. Er wusste gar nichts damals.
Vielleicht hätte er auf Gauchos Rücken steigen und von da den Versuch wagen können, die rechte Felswand hinaufzuklimmen. Doch er hatte nur diesen einen unsicheren Versuch, und wenn er misslang, würde er in die Tiefe stürzen und Gaucho mitreißen. Gelang der Versuch, würde er Gaucho zurücklassen müssen. Das Pferd konnte sich aus dieser Lage nicht selbst befreien, irgendwann würden seine Beine vor Erschöpfung einknicken und er würde sich zu Tode stürzen. Niemand konnte das Pferd herausholen, selbst nicht mit einem Hubschrauber. Gaucho würde nervös werden, anfangen zu tänzeln, wenn so ein schwarzes Ungeheuer über ihm auftauchte, und würde in die Tiefe stürzen, bevor sie ihm irgendwelche Seile oder Netze umgelegt hätten.
Es gab nur zwei Varianten: Von Gauchos Rücken und dann über die schräge Felswand oder sich hinter ihm herunterrutschen lassen und dann auf dem Pfad zurückzugehen. Doch beide Möglichkeiten standen nur Hartwig offen und waren auch für ihn lebensgefährlich. Minutenlang lag er regungslos auf Gauchos Hals, hatte die Arme um ihn geschlungen und wusste nicht, was er noch tun konnte.
Gaucho schnaubte wieder leise, drehte den Kopf und blickte mit dem linken Auge seinen Reiter an. Es war nur ein Sekundenbruchteil, doch etwas geschah in diesem Moment zwischen Mensch und Tier und noch heute kann sich Hartwig nicht erklären, warum er auf einmal gewusst hatte, was Gaucho vorhatte.
Er wieherte plötzlich wie die Schlachtrösser der römischen Reiterei, wenn sie die Linien des Feindes durchbrochen und alles niedergetrampelt hatten, was sich ihren Reitern in den Weg gestellt hatte. Es war ein Kampfschrei, der die Felswände erzittern ließ, und noch ehe das Echo zurückkehrte, schlug er nach hinten aus.
Es warf Hartwig nach vor und musste sich an mit aller Kraft an Gauchos Hals festklammern, um nicht in die Tiefe stürzen. Gaucho bäumte sich vorne auf, machte eine wilde Vierteldrehung nach rechts und beide schwebten für einen Moment nur auf Gauchos Hinterbeinen über dem bodenlosen Abgrund. Und genau in dem Moment, als die Schwerkraft sie hinabreißen wollte, sprang Gaucho mit einem Panthersatz in die schräge Felswand, krallte sich mit den Hufen in das Geröll der Steigung und gewann mit wilden Muskelkontraktionen Meter um Meter, sogar mit den Zähnen biss er nach den dürren Sträuchern und nutzte ihren Halt, um sich und den Menschen auf seinem Rücken hinaufzuziehen.
Noch heute kann Hartwig an den Innenseiten seiner Schenkel die Kontraktionen von Gauchos mächtigen Muskeln unter sich spüren und die ungeheure Kraft, mit der sich das Pferd den Berg hinauf kämpfte. Bei jeder Kopfbewegung Gauchos sah er dessen Augen, doch in ihnen brannte nicht die irre Wut eines um sein Leben kämpfenden Tieres, sondern etwas ganz anderes und Hartwig verstand, dass ihm nichts geschehen konnte. Weil dieses Pferd es nicht zulassen würde.
Es war nichts weiter als ein Gefühl. Fünfzehn Jahre, in denen er so manches Mal aus dem Schlaf geschreckt war, wenn der Mond im letzten Viertel gestanden hatte, mussten ins Land ziehen und er musste ein drittes Mal heiraten, um diesem Gefühl einen Namen geben zu können: Geborgenheit.
Die letzten Meter kämpfte Gaucho sich auf Knien den Felshang hinauf. Er blutete aus vielen Schürfwunden und seine Beine und der Bauch sahen übel aus. Oben fiel Hartwig entkräftet von seinem Rücken und schloss die Augen.
Doch nicht lange. Gaucho erholte sich schnell wieder, senkte seinen Kopf, schnaubte Hartwig seinen heißen Atem ins Gesicht und Hartwig schlug die Augen wieder auf. Direkt vor ihm bleckte Gaucho sein Gebiss und in seinen Augen blitzte bereits wieder der Schalk. Dann warf er seinen Kopf in den Nacken, schüttelte seine graue Mähne und wieherte in die Nacht. Noch heute wäre Hartwig bereit zu schwören, dass es ein Lachen gewesen war.

Noch einmal hebt Hartwig das Glas zum Himmel. „Salute Gaucho, wo immer du auch jetzt bist!“
Er trinkt aus und geht wieder hinein. Er weiß, dass er jetzt schlafen wird.


Nachbemerkung: Es ist eine wahre Geschichte. Sie ist geschehen in der Nacht des dreiundzwanzigsten Juni 1999, in den Felsen des Mijas in Andalusien.
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

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Hallo Arne
Wunderbare Geschichte über die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Ich hätte nicht vermutet, dass sie wahr sei, zumindest was den dreistöckigen Scotch gleich nach dem Erwachen anbelangt ;)
LG
Tula
 

Esserden78

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Die Geschichte ist schön, aber ich finde sie würde besser in eine andere Zeit, vllt so Anfang 19 Jahrhundert passen. Ich finde vom Internet zu lesen, passt für mich nicht so gut, auch wenn sie 1999 wirklich so passiert ist.
LG
 

molly

Mitglied
Hallo Arne

Du schreibst:
"einen Namen geben zu können: Geborgenheit."

ich füge noch "Vertrauen" dazu. Spannende Geschichte, schön erzählt!

Liebe Grüße
molly
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Arne,

eine lesenswerte und spannende Geschichte. Nur: Mit einem Perspektivwechsel (Ich-Erzähler) könnte man die intime Bindung zwischen Ross und Reiter noch besser herausarbeiten.

Viele Grüße,
Vitelli
 

ArneSjoeberg

Mitglied
Hallo Vitelli,

da hast du sicherlich recht. Allerdings habe ich mit der Ich-Perspektive gerade in gefühlsbetonten Geschichten ein emotionales Problem. Ich mag sie gerade da nicht. Weder bei mir noch bei anderen und es bedarf in meinen Augen schon einer Meisterschaft, die ich nicht besitze, da nicht in Kitsch abzugleiten. Außerdem verehre ich einen gewissen Raymond Chandler ...

Liebe Grüße
Arne
 



 
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