SilberneDelfine
Mitglied
Gegenwart, Silvester, später Nachmittag
„Wenn Sie damals etwas beobachtet haben, auch wenn Sie denken, dass es nicht wichtig ist, rufen Sie uns an! Jeder Hinweis könnte nützlich sein. Unten ist unsere Telefonnummer eingeblendet. Diese und weitere Informationen finden Sie natürlich auch auf unserer Website."
Der Moderator der Extra-Sendung „Cold Cases - Wer weiß etwas?" lächelte in die Kamera. Saskia griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
Damals, 30.12.1994
„Wo ist Beate?" Saskias Mutter stürmte in ihr Zimmer. „Ist sie gestern Abend mit dir heimgekommen?"
Saskia setzte sich verschlafen im Bett auf und schüttelte den Kopf. „Was ist denn los?"
„Sie war nicht in ihrem Zimmer. Die ganze Nacht nicht! Ich rufe die Polizei."
Saskia verkniff es sich, „Schon wieder?" zu fragen. Ihre Zwillingsschwester Beate hatte die Angewohnheit, ab und zu mal über Nacht zu verschwinden. Natürlich wussten alle, dass sie bei ihrem 10 Jahre älteren Freund war, den ihre Eltern nicht tolerieren wollten. Besser gesagt, sie hatten ihr den Umgang mit ihm verboten. Aber Beate und Saskia waren vor zwei Monaten 18 Jahre alt geworden. Und Beate ließ sich nichts mehr verbieten. Gestern Abend hatten sie zusammen ihr Elternhaus verlassen, an der nächsten Kreuzung hatten sich ihre Wege getrennt. Saskia machte sich auf den Weg zu einer Freundin. Beate war nach einem kurzen Abschiedsgruß in die entgegengesetzte Richtung verschwunden, ohne zu sagen, was sie vorhatte, obwohl Saskia es sich denken konnte. Wahrscheinlich tauchte sie im Laufe des Tages auf. Ihre Mutter schrie jedes Mal, sie würde die Polizei rufen und tat es nie. Ihr Vater beschwichtigte sie regelmäßig, bis sie den Gedanken an die Polizei aufgab und schluchzend zusammensackte.
So war es auch diesmal. Nur mit dem Unterschied, dass Beate nicht im Laufe des Tages auftauchte. Auch nicht spätabends und nicht in der Nacht. Am Morgen des nächsten Tages gab Saskias Vater eine Vermisstenanzeige auf.
Beate wurde nie gefunden. Natürlich verdächtigte man zuerst den älteren Freund, doch er hatte ein Alibi: Nachweislich war er an diesem Abend am Flughafen in Frankfurt gewesen und in ein Flugzeug nach London gestiegen. Angeblich habe er nichts davon gewusst, dass Beate ihn an dem Abend besuchen wollte. Und aus London kam er erst zwei Wochen später zurück.
Nach einem Jahr fand sich die Familie mit Beates Verschwinden ab. Saskia heiratete drei Jahre später. Wolfgang war ein lieber Kerl, der seine Frau anbetete und mit dem man über alles reden konnte. In den ersten Jahren diskutierten sie darüber, was Beate zugestoßen sein könnte, danach wurden solche Gespräche seltener, und schließlich sprachen sie gar nicht mehr darüber.
Gegenwart, Silvester, abends
„Schatz, bist du fertig?" Wolfgang stand neben ihr.
Saskia zuckte zusammen. „Ich hab dich gar nicht kommen hören. Ich bin gleich soweit, muss mich nur noch etwas schminken." Sie lief ins Badezimmer. Gestern vor 30 Jahren war ihre Zwillingsschwester verschwunden. Sie sollte aufhören, daran zu denken. Was brachte es denn?
Eine Stunde später saßen sie im Auto. Leichter Schneefall behinderte die Sicht.
„Hoffentlich wird das nicht schlimmer", bemerkte Wolfgang, „ich habe keine Lust, dort zu übernachten."
„Wäre doch mal etwas anderes". Saskia kuschelte sich in ihren Pelzmantel. „Wenn dein Freund die Übernachtung bezahlt ..."
„Er ist nicht mein Freund“, seufzte Wolfgang. „Er ist mein Vorgesetzter, und ich konnte die Einladung zu seinem 50. Geburtstag unmöglich ausschlagen. Und alle anderen aus der Firma auch nicht. Glaub mir, die haben alle keine Lust.“
„Aber sie werden alle kommen?“
„Klar. Warum muss der Typ ausgerechnet an Silvester Geburtstag haben? Ich wäre viel lieber heute mit dir zu Hause. Statt dessen müssen wir in ein überfülltes Restaurant, wo außer uns wahrscheinlich noch hundert Leute sind.“
„Ich dachte, das wäre eine geschlossene Gesellschaft?“
„Ja, wir haben einen Raum für uns, aber das heißt ja nicht, dass im übrigen Restaurant nichts los ist. Da ist auch Silvesterparty, und es darf getanzt werden …“ Wolfgang zog ein Gesicht, und Saskia musste lachen. „Keiner zwingt dich zum Tanzen“, versprach sie. Auf einmal war sie gut gelaunt. Dieses Silvester würde ihr zumindest keine Arbeit machen. Sie musste weder kochen noch aufräumen.
„Wird schon nicht so schlimm werden“, sagte sie laut.
Wolfgang warf ihr einen Blick zu. „Weißt du, dass du wunderschön aussiehst?“, fragte er unvermittelt, und Saskia lächelte. „Die anderen werden mich um meine hübsche Frau beneiden.“
Drei Stunden später hatten sie, wie Wolfgang es ausdrückte, „das Schlimmste hinter sich“, womit er nicht das vorzügliche Essen, sondern die Gratulationen und vor allem die Ansprache seines Vorgesetzten meinte. Jetzt kam man zum angenehmeren Teil des Abends. Eine Musikkapelle begann damit, im Saal ihre Instrumente aufzubauen. Saskia schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich muss mal meinen Lippenstift nachziehen.“
Im Waschraum blickte sie in den Spiegel. Eigentlich ist es ein schöner Abend, dachte sie. Warum war sie auf einmal so traurig?
Die Tür ging auf, und ein Schatten fiel in den Raum. Saskia drehte den Kopf und glaubte zunächst, in einen gegenüberliegenden Spiegel zu sehen. Die Frau, die eintrat, hatte dunkle schulterlange Haare, genau wie sie und die gleiche schlanke Statur. Auffällig waren die blauen Augen in dem blassen Gesicht, von der gleichen Farbe wie Saskias. Sie sah aus wie Saskias Spiegelbild, was nicht verwunderlich war, denn Beate und sie waren eineiige Zwillinge. Aber am merkwürdigsten war, dass die Frau sie ansah und lächelte.
„Beate?" Das war nicht möglich.
Die Frau nickte.
Saskia wollte vieles fragen, doch sie brachte kein Wort heraus. Sie starrte die Frau nur an.
Das Klappern hoher Absätze und zwei weibliche Stimmen waren zu hören. Und im gleichen Moment, als die Tür zum Waschraum wieder aufging und zwei fremde Frauen ihn betraten, löste Beates Gestalt sich auf.
Die beiden Frauen verschwanden in den Kabinen, und Saskia schaute verwirrt in den Spiegel. Später fragte sie sich, warum sie sich nicht erschreckt hatte, doch in dem Moment kam ihr alles vollkommen logisch vor.
Auf dem Spiegel erschienen Worte, wie mit rotem Lippenstift geschrieben:
„Gruß aus einem anderen Land
Den Lebenden wohl unbekannt
Den Liebenden ein Hoffnungsschimmer
Hoffnung, Liebe bleibt - für immer."
Sie las den Text zweimal durch, dann kramte sie in der Handtasche nach ihrem Handy, weil sie ihn abfotografieren wollte.
Als sie es herausgezogen hatte und wieder in den Spiegel blickte, war der Text verschwunden.
„Wo warst du so lange?", fragte Wolfgang. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Geht es dir nicht gut?"
„Doch, Liebling." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Mir geht es sogar sehr gut."
Denn Hoffnung und Liebe bleibt für immer, dachte sie.
„Wenn Sie damals etwas beobachtet haben, auch wenn Sie denken, dass es nicht wichtig ist, rufen Sie uns an! Jeder Hinweis könnte nützlich sein. Unten ist unsere Telefonnummer eingeblendet. Diese und weitere Informationen finden Sie natürlich auch auf unserer Website."
Der Moderator der Extra-Sendung „Cold Cases - Wer weiß etwas?" lächelte in die Kamera. Saskia griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
Damals, 30.12.1994
„Wo ist Beate?" Saskias Mutter stürmte in ihr Zimmer. „Ist sie gestern Abend mit dir heimgekommen?"
Saskia setzte sich verschlafen im Bett auf und schüttelte den Kopf. „Was ist denn los?"
„Sie war nicht in ihrem Zimmer. Die ganze Nacht nicht! Ich rufe die Polizei."
Saskia verkniff es sich, „Schon wieder?" zu fragen. Ihre Zwillingsschwester Beate hatte die Angewohnheit, ab und zu mal über Nacht zu verschwinden. Natürlich wussten alle, dass sie bei ihrem 10 Jahre älteren Freund war, den ihre Eltern nicht tolerieren wollten. Besser gesagt, sie hatten ihr den Umgang mit ihm verboten. Aber Beate und Saskia waren vor zwei Monaten 18 Jahre alt geworden. Und Beate ließ sich nichts mehr verbieten. Gestern Abend hatten sie zusammen ihr Elternhaus verlassen, an der nächsten Kreuzung hatten sich ihre Wege getrennt. Saskia machte sich auf den Weg zu einer Freundin. Beate war nach einem kurzen Abschiedsgruß in die entgegengesetzte Richtung verschwunden, ohne zu sagen, was sie vorhatte, obwohl Saskia es sich denken konnte. Wahrscheinlich tauchte sie im Laufe des Tages auf. Ihre Mutter schrie jedes Mal, sie würde die Polizei rufen und tat es nie. Ihr Vater beschwichtigte sie regelmäßig, bis sie den Gedanken an die Polizei aufgab und schluchzend zusammensackte.
So war es auch diesmal. Nur mit dem Unterschied, dass Beate nicht im Laufe des Tages auftauchte. Auch nicht spätabends und nicht in der Nacht. Am Morgen des nächsten Tages gab Saskias Vater eine Vermisstenanzeige auf.
Beate wurde nie gefunden. Natürlich verdächtigte man zuerst den älteren Freund, doch er hatte ein Alibi: Nachweislich war er an diesem Abend am Flughafen in Frankfurt gewesen und in ein Flugzeug nach London gestiegen. Angeblich habe er nichts davon gewusst, dass Beate ihn an dem Abend besuchen wollte. Und aus London kam er erst zwei Wochen später zurück.
Nach einem Jahr fand sich die Familie mit Beates Verschwinden ab. Saskia heiratete drei Jahre später. Wolfgang war ein lieber Kerl, der seine Frau anbetete und mit dem man über alles reden konnte. In den ersten Jahren diskutierten sie darüber, was Beate zugestoßen sein könnte, danach wurden solche Gespräche seltener, und schließlich sprachen sie gar nicht mehr darüber.
Gegenwart, Silvester, abends
„Schatz, bist du fertig?" Wolfgang stand neben ihr.
Saskia zuckte zusammen. „Ich hab dich gar nicht kommen hören. Ich bin gleich soweit, muss mich nur noch etwas schminken." Sie lief ins Badezimmer. Gestern vor 30 Jahren war ihre Zwillingsschwester verschwunden. Sie sollte aufhören, daran zu denken. Was brachte es denn?
Eine Stunde später saßen sie im Auto. Leichter Schneefall behinderte die Sicht.
„Hoffentlich wird das nicht schlimmer", bemerkte Wolfgang, „ich habe keine Lust, dort zu übernachten."
„Wäre doch mal etwas anderes". Saskia kuschelte sich in ihren Pelzmantel. „Wenn dein Freund die Übernachtung bezahlt ..."
„Er ist nicht mein Freund“, seufzte Wolfgang. „Er ist mein Vorgesetzter, und ich konnte die Einladung zu seinem 50. Geburtstag unmöglich ausschlagen. Und alle anderen aus der Firma auch nicht. Glaub mir, die haben alle keine Lust.“
„Aber sie werden alle kommen?“
„Klar. Warum muss der Typ ausgerechnet an Silvester Geburtstag haben? Ich wäre viel lieber heute mit dir zu Hause. Statt dessen müssen wir in ein überfülltes Restaurant, wo außer uns wahrscheinlich noch hundert Leute sind.“
„Ich dachte, das wäre eine geschlossene Gesellschaft?“
„Ja, wir haben einen Raum für uns, aber das heißt ja nicht, dass im übrigen Restaurant nichts los ist. Da ist auch Silvesterparty, und es darf getanzt werden …“ Wolfgang zog ein Gesicht, und Saskia musste lachen. „Keiner zwingt dich zum Tanzen“, versprach sie. Auf einmal war sie gut gelaunt. Dieses Silvester würde ihr zumindest keine Arbeit machen. Sie musste weder kochen noch aufräumen.
„Wird schon nicht so schlimm werden“, sagte sie laut.
Wolfgang warf ihr einen Blick zu. „Weißt du, dass du wunderschön aussiehst?“, fragte er unvermittelt, und Saskia lächelte. „Die anderen werden mich um meine hübsche Frau beneiden.“
Drei Stunden später hatten sie, wie Wolfgang es ausdrückte, „das Schlimmste hinter sich“, womit er nicht das vorzügliche Essen, sondern die Gratulationen und vor allem die Ansprache seines Vorgesetzten meinte. Jetzt kam man zum angenehmeren Teil des Abends. Eine Musikkapelle begann damit, im Saal ihre Instrumente aufzubauen. Saskia schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich muss mal meinen Lippenstift nachziehen.“
Im Waschraum blickte sie in den Spiegel. Eigentlich ist es ein schöner Abend, dachte sie. Warum war sie auf einmal so traurig?
Die Tür ging auf, und ein Schatten fiel in den Raum. Saskia drehte den Kopf und glaubte zunächst, in einen gegenüberliegenden Spiegel zu sehen. Die Frau, die eintrat, hatte dunkle schulterlange Haare, genau wie sie und die gleiche schlanke Statur. Auffällig waren die blauen Augen in dem blassen Gesicht, von der gleichen Farbe wie Saskias. Sie sah aus wie Saskias Spiegelbild, was nicht verwunderlich war, denn Beate und sie waren eineiige Zwillinge. Aber am merkwürdigsten war, dass die Frau sie ansah und lächelte.
„Beate?" Das war nicht möglich.
Die Frau nickte.
Saskia wollte vieles fragen, doch sie brachte kein Wort heraus. Sie starrte die Frau nur an.
Das Klappern hoher Absätze und zwei weibliche Stimmen waren zu hören. Und im gleichen Moment, als die Tür zum Waschraum wieder aufging und zwei fremde Frauen ihn betraten, löste Beates Gestalt sich auf.
Die beiden Frauen verschwanden in den Kabinen, und Saskia schaute verwirrt in den Spiegel. Später fragte sie sich, warum sie sich nicht erschreckt hatte, doch in dem Moment kam ihr alles vollkommen logisch vor.
Auf dem Spiegel erschienen Worte, wie mit rotem Lippenstift geschrieben:
„Gruß aus einem anderen Land
Den Lebenden wohl unbekannt
Den Liebenden ein Hoffnungsschimmer
Hoffnung, Liebe bleibt - für immer."
Sie las den Text zweimal durch, dann kramte sie in der Handtasche nach ihrem Handy, weil sie ihn abfotografieren wollte.
Als sie es herausgezogen hatte und wieder in den Spiegel blickte, war der Text verschwunden.
„Wo warst du so lange?", fragte Wolfgang. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Geht es dir nicht gut?"
„Doch, Liebling." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Mir geht es sogar sehr gut."
Denn Hoffnung und Liebe bleibt für immer, dachte sie.
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