Satellitenstadt

4,70 Stern(e) 3 Bewertungen

RoToll

Mitglied
Das Hochhaus war grau und stand in der Satellitenstadt. Manchmal war der Aufzug kaputt und in den Fluren, die von kaltem Kunstlicht erhellt wurden, roch es stets leicht muffig. Die Anonymität regierte in diesem Gebäude, dessen Türklingeln unten an der gläsernen Eingangstüre man kaum zu zählen vermochte, mit harter, eiserner Hand.

Mein dreißig Quadratmeter großes Apartment lag im zehnten Stockwerk. Ich verließ dieses, seit ich eine Stelle im Homeoffice gefunden hatte, lediglich noch zum Einkaufen. Warum sollte es auch anders sein? Außer grauen Beton, verschmutzen Plätzen, parkenden alten Autos und salafistischen Seelenfängern gab es hier nichts weiter zu entdecken. Ganz selten verbrachte ich mal ein paar Stunden mit Justin, der zwanzig Jahre jünger als ich war, bei McDonalds schaffte und in Etage zwölf lebte. Wir rauchten dann Marihuana zusammen, tranken Bier aus der Dose und Justin erzählte mir von seinen Träumen, eines Tages ein großer Star des Sprechgesangs zu sein, obgleich ihm vom Alter her langsam die Zeit dafür davonlief. Zudem fehlte ihm das Talent, was er auch wusste, denn Justin war nicht dumm, er hatte nur nie eine richtige Chance auf Bildung erhalten. Daher stand er im krassen Gegensatz zu mir, der sein von den Eltern finanziertes Studium krachend in den Sand gesetzt hatte.

Am Ende des Flurs hinter der Tür auf der rechten Seite lebte eine schwarzhaarige Frau von vielleicht vierzig Jahren. Sie war in meinen Augen sehr schön, jedoch lag immer ein äußerst trauriger Ausdruck des Weltschmerzes auf ihrem Gesicht, welches von zarten Zügen gezeichnet wurde. Bei den zufälligen Begegnungen in dieser trostlosen Welt trafen sich unsere Blicke für den kurzen Moment. Noch nie hatte ich sie lächeln sehen. Manchmal machte ich mir Gedanken über sie, was zumeist in den ruhigen Augenblicken vor dem Einschlafen geschah. Ich fragte mich, wer sie sein mochte, was sie liebte und was nicht, was ihr Angst und Sorgen bereitete oder sie zum Lachen bringen mochte. Nur ansprechen, das tat ich sie nie, obgleich ich es mir immer wieder vornahm.

Am Ende war sie es, die mich ansprach. Ich weiß es noch ganz genau. Denn es geschah an einem späten Montagnachmittag. Ich wollte nach der Arbeit in den Discounter gehen, um ein paar Einkäufe für die nächsten Tage zu erledigen. Auf dem Flur begegneten wir uns, als ich auf dem Weg zum muffigen Aufzug war und sie sich von selbigem zurück befand. Heute schaute sie nicht missmutig und traurig drein. Heute lächelte sie zauberhaft, wirkte entspannt sowie vollkommen mit sich und dieser Welt im Reinen. Mit freundlicher, beinahe melodischer Stimme sprach sie: „Hey, wie geht es dir denn so?“

Dann fingen wir das Reden an. Ich erfuhr, dass sie Songül hieß und im nahen Zentrallager einer Supermarktkette im Schichtdienst arbeitete. Sie sei einkaufen gewesen und wolle vor dem Nachtdienst sich nun noch für gute drei Stunden hinlegen. Ja, auch sie kenne kaum jemanden in diesem Haus. Einsamkeit und Depressionen seien Produkte solcher Orte. Studiert habe sie auch mal, BWL, das Studium aber genau wie ich in den Sand gesetzt. Einen Job gleich meinem könne sie im Leben nicht machen. Einfach so bei Leuten anrufen und fragen, ob sie denn eine Weiterbildung oder ein Coaching machen wollten. Herrje! Es lohne sich, mal in S-Bahn und Bus zu steigen und raus aus der Satellitenstadt zu fahren. Nach nur etwa vierzig Minuten Fahrt von hier erreiche man den Wald. Herrlich sei es dort zu spazieren. Sie habe das Deutschlandticket. Und wenn ich es wolle, könne man ja mal gemeinsam, eines Tages dem Plattenbau entfliehen.

Als wir sich unsere Wege im Korridor wieder trennten, sagte ich: „Es hat mich sehr gefreut, dich nach all der Zeit endlich kennenzulernen. Es war wirklich ein total nettes Gespräch, auch wenn es nur kurz gewesen ist. Es würde mich freuen, wenn wir bald wieder sprechen oder, wie du es vorgeschlagen hast, dem Plattenbau entfliehen könnten.“

„Vielen Dank für deine lieben Worte. Das tut richtig gut. So nett habe ich schon lange nicht mehr mit jemanden gesprochen. Es wird sicherlich eine Welt kommen, in der wir das immer wieder tun werden. Ich freue mich auch total. Leb wohl! Bis bald!“, lautete ihre beinahe mystische Antwort. Dann ging sie selbstbewussten Schrittes den Korridor hinauf und ich blickte ihr nach, bis sie in ihrem Apartment verschwunden war. Bevor sie über die Schwelle trat, blickte sie noch einmal zu mir hinüber und lächelte derartig, dass mich Wärme vom kleinen Zeh bis hinauf in die Spitzen meiner Haare erfasste.

Die Tage vergingen, ohne dass ich Songül wiedersah. Aber was bedeutete das schon in diesem Hochhaus? Der Russe aus dem Apartment gegenüber war mir seit gut zwei Monaten nicht mehr unter die Augen gekommen. Vielleicht wohnte er nicht mehr hier. Nach einer Woche klopfte ich jedoch vorsichtig an ihre Tür, worauf niemand öffnete. Ich tat es öfters. Das Ergebnis blieb immer dasselbe. Die Idee, die Hausverwaltung zu verständigen, damit jemand in der Wohnung nach dem Rechten sah, kam mir nicht wirklich. Lethargie war ein weiteres Produkt der Satellitenstadt.

An einem Donnerstag, an dem meine Arbeit erst um 10:30 Uhr anfing, weckte mich eine ungewohnte Geräuschkulisse auf dem Flur jenseits der Wohnungstüre. Sanitäter und uniformierte Polizisten befanden sich dort. Ich sah einen der Hausmeister und zwei Angestellte der Immobilienfirma, welcher dieser Plattenbau gehörte. Sie alle standen vor dem Zugang zur Wohnung am Ende des Flurs. Was ich noch von Songül sehen sollte, waren die angedeuteten Konturen ihres Körpers unter der schwarzen Plane auf einer Bahre, die von zwei Männern der Gerichtsmedizin aus dem Apartment und an mir vorbeigetragen wurde. Mir kam das Ganze so surreal vor, dass ich zunächst nicht hundertprozentig wusste, ob es nun Wirklichkeit oder Traum war. Ich empfand gar nichts, nur eine seltsame, ziemlich vertraute Leere. Die Leere erschien des Öfteren an einem Ort wie diesen und ich wusste von Justin, dass es nicht nur mir so damit erging.

Von Justin erfuhr ich auch, was ich bereits vermutete. Weil mein einziger Freund in dieser Welt eine Affäre mit einer Büroangestellten der Immobiliengesellschaft unterhielt, galt diese Quelle als eine äußerst zuverlässige. Songül hatte sich umgebracht in ihrer Bleibe unter zur Hilfenahme von Alkohol und eines Cocktails aus verschreibungspflichtigen Psychopharmaka, Schlaf- und Schmerztabletten. Als man sie gefunden hatte, war sie bereits fast vierzehn Tagen tot gewesen. Ich, der inzwischen eine mutierte Form der Verzweiflung verspürte, fragte mich, warum das geschehen war. Songül hatte kurz vor ihrem Tode entspannt und gar fröhlich gewirkt. Doch dann gingen mir die Worte eines Professors für psychosomatische Medizin durch den Kopf, die ich irgendwann mal in einem Beitrag auf YouTube gehört hatte: „Viele Menschen, die sich endgültig entschließen, Suizid zu begehen, wirken kurz vor ihrem Tode äußerst entspannt und zufrieden. Ist die Entscheidung erstmal gefallen, wirkt es auf viele wie eine Befreiung, ja fast wie eine Erlösung.“

Als ich am selben Abend alleine auf dem Balkon stand, um eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen zu rauchen, sprach ich leise vor mich hin: „Was muss das Leben mit dir gemacht haben, dass du dein Ende an einem solchen Ort als eine Erlösung gesehen hast? Wie verzweifelt musst du gewesen sein, Songül?“

Die Lichter der anderen Plattenbauten überall vor meinem Blickfeld schimmerten träge vor sich hin. Ich erhielt keine Antwort auf meine Frage. Ich erinnerte mich an das letzte Lächeln ihrerseits und an die letzten Sätze.

Vielen Dank für deine lieben Worte. Das tut richtig gut. So nett habe ich schon lange nicht mehr mit jemanden gesprochen. Es wird sicherlich eine Welt kommen, in der wir das immer wieder tun werden. Ich freue mich auch total. Leb wohl! Bis bald!

So blieb ich alleine zurück; hier in der Satellitenstadt.
 

RoToll

Mitglied
Hallo, Doc Schneider,

vielen, vielen Dank für die Empfehlung. Diese macht mich sehr stolz und motiviert mich selbstredend, weiter die Feder über das Papier zu führen oder die Finger über die Tastatur fliegen zu lassen.

Beste Grüße

Robert
 



 
Oben Unten