Schäl Sick

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Anders Tell

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Schäl Sick

Ich bin kein Mundartforscher. Vielmehr ein Sammler verschiedenster Kuriositäten. Dabei muss ich manchmal hartnäckig forschen, um auf den Grund bestimmter Erscheinungen vorzustoßen.
Der Landkreis Kleve ist der flächenmäßig größte und unfallträchtigste Kreis in Deutschland. Der größere Teil und die Kreisstadt liegen auf der linken Rheinseite. Auf der rechten Seite befinden sich Emmerich und Rees. Ich musste jeden Tag die Rheinseite wechseln, weil ich in Rees wohne und in Kleve arbeitete. Wenn in Kleve die Rede darauf kam, dass ich in Rees wohne, kamem immer die Begriffe »Schäle Sick« oder »Gönne Kant« auf.
Wenn Menschen bestimmte Termini verinnerlicht haben, können sie sich oft die genaue Bedeutung nicht erklären oder haben sich nie gefragt, was es damit auf sich hat. Ich fragte bisweilen nach, ob ich es als Herabsetzung der anderen Rheinseite auffassen müsse. Nein, versicherten alle, es hieße einfach nur die andere Seite. Wer meine Geschichten schon einmal gelesen hat, weiß, dass ich bei oberflächlichen Erklärungen nicht stehen bleiben kann. Ich frage mich dann eher, wieso es sonst kaum jemanden interessiert. Vielleicht fange ich ja auch gerade an, den Leser zu langweilen. Das muss ich riskieren.
Meine Recherchen ergaben, dass »Gönne Kant« tatsächlich nur die gegenüberliegende Seite bedeutet. »Schäle Sick« wird hingegen auch in Bonn, Köln, Krefeld und Neuss verwendet. In anderen Städten, die links-:und rechtsrheinische Stadtteile haben, wie z. B. Duisburg, ist der Begriff unbekannt. Verbreitet ist die Ansicht, dass es auf die Treidelschiffahrt zurückgeht, bei der Pferde die Lastkähne stromauf zogen. Damit sie nicht von den Sonnenreflektionen geblendet wurden, hat man den Pferden einseitig Scheuklappen aufgesetzt. Dadurch würden sie “schäl”, also in der Sicht eingeschränkt.
Eine andere Quelle sagt, dass der Rhein im Römischen Reich praktisch den Limes darstellte und die rechtsrheinischen Bewohner die Barbaren und Heiden waren bzw. dem fehlsichtigen Wotan huldigten.
Die Abneigung, den Rhein zu überqueren, ist bei den linksrheinischen Bürgern immer noch tief verwurzelt. Immer, wenn ich vorschlug, eine Lehrstelle oder Arbeitsstelle in Kleve, Emmerich oder Wesel anzunehmen oder eine günstige Einkaufsquelle dort benannte, erntete ich empörte Reaktionen: “Wo? In Emmerich?”, als hätte ich sie gebeten, auf eine Bohrinsel nach Grönland zu reisen. Auch kulturelle Veranstaltungen auf der falschen Rheinseite werden ignoriert. Es erinnert mich an England, wo ich einmal fragte, warum sie nicht auf der rechten Straßenseite fahren würden. Die Antwort war: “We are driving on the right side”.
 
Was ich mich nun frage: Ist das Ressentiment dort nur auf der linken Stromseite vorhanden oder hat es seine Entsprechung nicht auch auf der rechten? In diesem Fall würde sich eine solche Tendenz gerade auch in "Schäle Sick" vermuten lassen. Der an sich schön tiefschürfende Beitrag könnte hier noch etwas nachbohren.

Mir sind noch mehr Beispiele von herablassender Einschätzung einer Stromseite durch die andere bekannt. Wenn sie nur in einer Richtung vorhanden ist, drückt sich darin meist ein soziales Gefälle aus, etwa im Fall von Hamburg.

Immer auf der "richtigen" Seite
Arno Abendschön
 

Anders Tell

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Vielen Dank für Kommentar und Bewertung.

Stromab hat es, glaube ich, keine Treidelpfade gegeben. Da hat wohl die Strömung das Schiff bewegt. In Emmerich und Rees habe ich nie eine Bezeichnung für die andere Rheinseite gehört. Es gibt von dieser Seite auch keine Scheu, den Strom zu überqueren. Ein weiteres Indiz ist der geringere Mistwertspiegel und die günstigeren Grundstückspreise auf der rechten Seite. Lagenachteile sind nicht vorhanden. Vielleicht sogar im Gegenteil: Emmerich und Rees haben gut ausgebaute Rheinpromenaden mit Restaurants und Cafés. Emmerich hat einen Fracht- und Sportboothafen, zudem sehr viel Gewerbeansiedlungen. Die linke Seite ist hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt. Als Herabwürdigung durch die linksrheinischen Bürger habe ich es aber nicht empfunden. Es ist mehr wie ein Reflex.
 



 
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