Schallschutzmauern

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Max Neumann

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Isabelle warf die roten Haare, die ihr bis auf die Hüfte fielen, zurück und lachte. Auf dem faltenfreien Gesicht trug sie eine Brille mit silbernem Gestell, einen weinroten Blazer, enganliegende Bluejeans und Sneakers.
Drei Jahrzehnte hatte sie als Staatsanwältin gearbeitet. Aus dieser Zeit war ihr nicht bloß eine Geschichte in Erinnerung geblieben.
Davon erzählte sie Schulte.

Es war mein letzter Dienstmonat, begann Isabelle. In einem ungewöhnlich kühlen August. Der Monat, bevor ich in Rente gehen sollte. Danach sollte ich keine existenziellen Zwänge mehr auf meinen Schultern spüren und ein Leben leben, in dem eine Uhrzeit keinen Druck mehr auslösen würde. So glaubte ich es.

Mein letztes Gerichtsverfahren, an dem ich mitarbeitete, drehte sich um einen Prozess zwischen einem Hersteller von Schallschutzmauern und dessen Auftraggeber. Der Hersteller hieß Oz, ein Bulle von Mann. Oz trat auf als selbstständiger Gewerbetreibender; er war mindestens zwei Meter groß, dazu massig und dick; Oz' Kopf glühte in rubinrotem Farbenspiel, an den Backen hätte man eine Zigarette entzünden können.
Beim Betreten des Gerichtssaals flackerten seine Pupillen, die Augenbrauen bogen sich unterm Gewicht seiner Stirnrunzeln. Kurzum: Oz war zornig.

Oz.' Auftraggeber war einer der größten Konzerne Deutschlands, die Deutsche Bahn. Sie wurde vertreten durch einen Juristen, der mittelgroß und hager war. Er hatte einen Igelschnitt, erschien beherrscht und konzentriert. Das glatte Gegenteil von Oz.

Der Rechtsstreit zwischen Oz und der Deutschen Bahn fußte auf einem gängigen Konflikt: Der Auftraggeber klagte, dass der Hersteller den Auftrag anders erfüllte, als vertraglich fixiert wurde. Der Hersteller stellte dagegen, der Auftraggeber wolle ihm weniger Geld zahlen als vereinbart.
Wer hatte denn letztlich Recht? fragte Schulte.
Recht haben, sagte Isabelle nachdenklich. Recht zu haben ist wie eine Unterschrift. Ungeheuer subjektiv. Ich habe sogar das Gefühl, dass es Recht gar nicht gibt: Es gibt Haltungen und Menschen, die daraus Vereinbarungen ableiten. Aber, zugegeben, nahm ich das nicht philosophisch, als ich zu arbeiten aufhörte.
Weil es dein letzter Monat war.
Das stimmt. Isabelle seufzte.
Hast du Oz nach dem Verfahren mal wieder gesehen?
Nein. Und eigentlich ist das schade. Denn rückwirkend betrachtet kann ich mich über den Hersteller der Schallschutzmauern königlich amüsieren. Ein paar Jährchen später. Ab und zu muss ich an ihn denken, denn er war so auffällig. Er hatte eine abenteuerliche Aura.
Wie hat sich das genau gezeigt? wollte Schulte wissen.

Na ja, Oz kam aus der Baubranche, fuhr Isabelle fort. Er war ein Mann, der beruflich mit schweren Gegenständen, Stahlstreben, Betonmischmaschinen, solcherlei eben, zu tun hatte. Und als großer, schwerer Kerl passte da alles. Auf den ersten Blick verkörperte Oz deshalb einen Stereotyp. Was das komplettierte, war sein archaisches, wenn man so will: primitives Auftreten. Das lag nicht alleine an seiner Gesichtsfarbe oder der aufgeheizten Stimmung, die er verbreitete. In den Gerichtssaal schleppte er, zur Anschauung für die Verhandlung, den Betonbrocken einer Schallschutzmauer, aus dem scharfe Stahlstreben herausragten, und mit jedem der Schritte von Oz rieselten feine Staubspuren vom Brocken herab.

Indessen erzeugten Oz' Füße einen gewaltigen Hall auf dem Parkettboden des Gerichtssaales. Auf der roten Stirn Schweiß, den Oz, offenbar wütend über einen Juckreiz, den der Schweiß hervor rief, mit unachtsamer Rückhand fort wischte, dabei mit schmutzigem Staub sein Gesicht besudelte. Und Oz' Mund stand weit offen, in etwa wie Scheunentore aus massiver Schweizer Rottanne gefertigt, solche, die von Bauern zum Einsperren von Stieren eingebaut werden.
So weit, so gut. Keine wirklichen Brüche in der Persönlichkeit von Oz. Was ich aber ungewöhnlich an ihm finde, ist, was er dann vollführte.

Denn trotz der Rage, die Oz kaum einhegen konnte, justierte er den Betonbrocken graziös durch die Türe des Gerichtssaales hindurch. Diese Tür nämlich war äußerst kostspielig. Kirschbaumfarbenes Mahagoniholz, im Zentrum rechteckige Glasscheiben eingefasst, an deren Rändern, zur Zierde, Ornamente aus Milchglas entlang liefen. Obschon lange Stahlstreben in alle Richtungen von Oz' Betonblock abstanden, vermochte der Schallschutzmauernhersteller es, die Tür weder zu berühren, zu streifen oder anderweitig ihr nahe zu geraten. Ganz im Gegenteil ließ er zwischen seinem Bullenkörper, Tür und Betonbrocken einen Meter Freiraum, was er, während er ballerinenhaft hindurch schwebte, mit selbstherrlichem Gesichtsausdruck verbuchte.

Hiernach schritt er wort- und grußlos in den Saal hinein. Schnaufend würdigte er keinen der Anwesenden eines Blickes, spähte aus, wo sich sein Verteidiger befand, schüttelte dessen Hand, baute sich neben ihm auf und ließ den Brocken auf ein Holzpult gleiten. Ohne Umschweife setzte Oz zu sprechen an. Aus dem Stegreif hielt er eine vierzigminütige Rede mit staatsmännischer Zungenfertigkeit. Allerdings schmälerte diesen Auftritt, dass Oz einen derb schwäbischen Dialekt schwatzte.
Schulte amüsierte das, er kicherte. Nützte ihm die Rede denn für den weiteren Verlauf der Verhandlung? fragte er.
Na ja, zumindest beschäftigte sie den Richter. Die Rede von Oz war so vielschichtig, dass der Richter sich für einen Monat mit einer eigens für den Fall der Schallschutzmauern eingerichteten Expertenkommission zur Beratung zurückzog.

Als der Richter vier Wochen später zurück kehrte, stand Oz wie einen Monat zuvor am Holzpult neben dem Betonbrocken, aus dem Staub in Schlieren hernieder rieselte, und, wenn Oz ausatmete, bisweilen auf die Schuhspitze des Verteidigers wehte, auf der, bei genauerem Hinsehen, ein grauweißer Pulverhügel entstanden war. Aber nach einem Monat bewegten die Füße des Verteidigers sich nicht mehr; er war gestorben. Oz, jedenfalls, stand unverändert, mit derselben Empörung wie eh und je dort, lediglich hatte er den rechten Ellenbogen ausruhend auf die Gerichtsbank gelehnt.

Mit einem für mich nicht nachvollziehbaren Gesichtsausdruck trat der Richter ans Richterpult. Er hob den Kopf und sah Oz an, fragte, wie es ihm ginge.
Immr Dadendrang, entgegnete Oz. I will raus ond weidr schaffe. Vo nix kommd nix, Herr Richdr. I will Schallschudzmauern errichda. Schduddgard, Deidschland, Euroba, die Weld. Nix kann mi ufhalda – i baue Mauern.

Ihr Verteidiger, fragte der Richter mit Unbehagen im Blick und wies auf den Mann, ohne selbst herüberzusehen, er – hat die Verhandlung wohl nicht durchgestanden.
Oz schnalzte mit der Zunge. Vielleichd machd er a Nickercha.
Eine Weile starrte der Richter grüblerisch den Toten an, bis er dahin schaute, wo der Verteidiger der Deutschen Bahn hätte sitzen müssen. Aber der war verschwunden. Rätselnd sah der Richter zu mir herüber; schließlich hatte ich den Monat über die Stellung gehalten und wusste somit über den Verbleib des Anwalts Bescheid.


Der Anwalt der Deutschen Bahn, klärte Isabelle auf, wollte die Verhandlung nicht fortführen. Dies bezeugt sein Verschwinden, auf das keine Wiederkehr erfolgte.
Wann ging er? fragte der Richter sie.
Vor über drei Wochen, gab Isabelle zurück, und zu ihrem Befremden hörte sie aus ihrer Stimme einen Anflug von Kälte heraus, bemerkte jene Gleichgültigkeit, mit der Oz den Tod seines Verteidigers kommentiert hatte.

Und wie ist das Verfahren nun ausgegangen? fragte Schulte.
 

ChinoNF

Mitglied
Hallo Tissop,

die Geschichte ist klasse, besonders die Schilderung der Person "Oz" ist Dir sehr gelungen. Das beginnt mit der Wahl des Namens und gipfelt in der zu dieser "Erscheinung" Oz eher gegenläufigen Beobachtung, dass Oz "...schwäbisch schwatzte...". Dieses Paket (welches Du ja zusätzlich durch viele andere Details abrundest) lässt Oz vor meinem geistigen Auge regelrecht erscheinen.

Formulierungen wie:

Auf der roten Stirn Schweiß, den Oz, offenbar wütend über einen Juckreiz, den der Schweiß hervor rief, mit unachtsamer Rückhand fort wischte, dabei mit schmutzigem Staub sein Gesicht besudelte.
finde ich prima. Und solche Umschreibungen nutzt Du mehrfach, so dass es ein Genuss ist, diese zu lesen.

Toll ist auch, wie Du an dieser Stelle den Begriff "Rente" umschreibst:
Der Monat, bevor ich in Rente gehen sollte. Danach sollte ich keine existenziellen Zwänge mehr auf meinen Schultern spüren und ein Leben leben, in dem eine Uhrzeit keinen Druck mehr auslösen würde.
Interessant sind Deine Ideen, die Charaktere lebendig werden zu lassen - ich finde es super, dass Du Oz schließlich einen riesigen, schweren Betonbrocken in den Gerichtssaal schleppen lässt. Auch hier baust Du wiederum einen prima Gegensatz ein, indem Du schreibst:

Denn trotz der Rage, die Oz kaum einhegen konnte, justierte er den Betonbrocken graziös durch die Türe des Gerichtssaales hindurch.
... ließ den Brocken auf ein Holzpult gleiten
Sowohl die Tatsache, dass Oz überhaupt den Betonbrocken in den Saal schleppt als auch, dass er dabei sehr vorsichtig vorgeht, machen sowohl die Geschichte als auch Oz als Person sehr lebendig.

Was mich ein wenig gewundert hat, ist, dass Du die wörtliche Rede gänzlich ohne Anführungszeichen verwendest. Ist das ein Stilmittel, also beabsichtigt? Ich persönlich finde, dass die Geschichte dadurch an der einen oder anderen Stelle etwas schwierig lesbar ist.

Der Schluss kam für mich dann sehr überraschend und ich musste ihn tatsächlich mehrfach lesen, da er auf mich etwas verwirrend wirkte. Aber das mag eine subjektive Empfindung sein, tatsächlich ist es natürlich eine (wenn auch krasse) Pointe als Finale der Story...

Ich finde die Geschichte wirklich lesenswert und ich denke, ich kann aus Deiner Art, Charakteren und Ereignissen Leben einzuhauchen noch einiges lernen. Ich werde mir ganz sicher noch einige Deiner anderen Geschichten durchlesen.

LG
ChinoNF
 

Max Neumann

Mitglied
Hallo ChinoNF,

herzlich danke ich dir für dein ausführliches Feedback.

Das mit den Anführungszeichen wird öfters genannt, ich werde dies mal ändern.

Ansonsten freut mich, dass die Geschichte dich so anspricht.

Einen schönen Abend noch.

Tissop
 



 
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