ahorn
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Vorwort
Wer meinen Roman-Versuch ‚Flucht über die Nordsee‘ bis dato gelesen hat wird sich wundern.
Ja! Der folgende Text ist ein Auszug, eine Verknüpfung von Textstellen, die Toni in dem Roman liest. Aber aufgrund der mehrfachen tragischen Ironie oder ironischen Tragik, bis hin zu einem gewissen schwarzen Humor - das muss ich zugeben ihm Rahmen des Werkes von mir nicht angestrebt - habe ich mich entschlossen, diese Zeilen den Lesern zugänglich zu machen. Lesern, die sich nicht durch mein teilweise verqueres Werk durchkämpfen wollen.
Schande
Paul trottete seinem Vater hinterher, der zielstrebige die Straße entlang marschierte. Vater war das falsche Wort eher Erzeuger. Sein Papa hieß Franz und wurde vor drei Jahren hingerichtet, von dem Mann, hinter dem er sich herschleppte. Herbert seines Zeichen SS-Standartenführer, hager mit pfaden Gesicht und kaum größer als sein oberster Vorgesetzter, dafür stramm im Schritt. Selbst hatte er nicht handangelegt an Franz Tod, trotzdem war er verantwortlich. Aber eins nach dem anderen.
Herbert, Franz und Hildegard, Pauls Mutter, waren in der guten alten Zeit, wie man sagte, mehr als enge Freunde. Kampfgenossen. Verbrüdert für bessere soziale Verhältnisse am Ende der wilden Zwanziger. Sie waren Kommunisten und für ihre Epoche eher freizügig. Hilmgard erwartete eine ansprechende Mitgift und Franz ein Mann von Welt der charmantere Schwiegersohn. Das er sich nichts aus Frauen machte, spielte dabei keine Rolle. Der Rest ergabt sich.
Das dreier Bündnis plus eins lebten weiter in ihrem Dunstkreis, bis Herbert der Auffassung war, dass die Botschaft des Mannes aus Österreich in eher überzeugte als die des Herrn aus Trier.
Eine Zeit lang gab es keine Probleme. Erst 1933 zerbrach der Pakt.
Herbert verschwand aus Pauls Leben. Paul zog mit den Eltern nach Hamburg, das Tor zu Welt. Abhauen wollte seine Mutter, aber Franz Optimist von Beruf fest davon überzeugt, dass es sich mit den Braunen bald erledigt hätte.
1939 bekamen sie einen netten Brief, unterzeichnet von Herbert – Franz Einberufung. Das letzte Mal sah er ihn, dann verschwand er. Hildegard heiratete erneut. Herbert! Im Gefolge der Truppen marschierte er samt Familie in die befreiten Gebiete ein, um den armen frankofonen Belgiern in Charleroi die Segnungen des Deutschtums nahezubringen.
Die Arbeit, die er vollzog, musste ordentlich gewesen sein, denn nach kurzer Zeit wurde er nicht nur befördert, sondern auch nach Antwerpen versetzt, um eine weitere Gruppe, die jüdischen Glaubens, von Hab und Gut zu befreien. Eine Tätigkeit die sowohl sein ansehen, sowie das eigene Vermögen steigerte.
Dieser arme Herr hatte einen strukturierten Tagesablauf. Zudem nicht nur der mittägliche Braten - jeden Tag gab es Braten, gehörte. Auch der Nachtisch wiederholte sich, wie der Sonnenaufgang. Paul bekam seine Lektüre, die Bibel des deutschen Mannes und die Mutter, nachdem ihr Gatte sie mit der Gärte liebkoste, die Aufgabe ihrer ehelichen Pflichten nachzugehen. Dann wurde es familiär. Vater und Sohn kontrollierten ihr Revier.
An diesem Tag kehrten sie nicht gemeinsam heim. Eine Gruppe Soldaten zogen eine Frau und ein Kind aus einem Hauseingang auf den Bürgersteig. Dienstbewusst marschierte Herbert auf sie zu. Nach Austausch der militärischen Begrüßung, um genau zu sein, die Vaterlandsverteidiger erwiesen die Ehrenbezeigung, Herbert hob nur seine Nase höher, als er sie bereits zuvor trug.
»Was geht hier vor?«, donnerte er knapp ihnen entgegen.
Der Hauptmann der Wehrmacht, salutierte abermals, ergriff erneut den Schopf der Frau. »Verräter am deutschen Volke!«
Pauls Vater sah kurz auf die am Boden liegende herab. »Juden?«
»Schlimmer«, entgegnete der Offizier. »Blutschändler!«
Herbert wandte sein Gesicht dem Sohne zu. »Paul was ist schlimmer als ein Tier zu sein?«, fragte er wie ein Oberlehrer.
Der Junge schaute zu ihm herauf. »Blutschande mit einem Tier?«, stotterte er.
Das Familienoberhaupt strich zustimmend über den Schopf des Knaben, zog die Walter PP aus dem Halfter, nahm zur Ehrerbietung nicht einmal seine Mütze mit dem silbrigen Totenkopfabzeichen ab, legte die Mündung an die Schläfe der Festgehaltenen und krümmte den Zeigefinger. Einfach so!
Die Frau brach zusammen, Blut spritze auf die Uniform des Landsers. Herbert nahm die Waffe in seine Linke, drückte sie Paul in die Hand. Wortlos zeigte er auf das Mädchen, welches sich schreiend auf ihre Mutter warf.
Sein Sohn starrte auf den Leichnam, auf das Kind, schrie, schleuderte das Todeswerkzeug aufs Pflaster, rannte davon.
Er war der Ort, an dem er Zuflucht fand, die einzige Zeit an der alles vergaß. An zwei kurzweilige Nachmittage in der Woche am Dienstag, am Donnerstag ging er zu ihr, Catherine, seiner Ballettlehrerin. Getanzt hatte er bereits in Hamburg, mehr noch, hart trainiert, jede freie Minute. Die Mutter förderte sein Talent, wo es ging und über die wenigen Stunden bei Catherine hielt sie schützend ihre Hand, dem Vater das treiben unbekannt.
An diesem Dienstag erwartete sie ihn wie immer in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in einem oberen Geschoss eines stattlichen Gebäudes, indem sonst betuchte Bürger lebten. Mit einem Unterschied, sie empfang ihn nicht in ihrem Ballettanzug, sondern in einem schwingenden Sommerkleid.
Ihm war an diesem Tag nicht nach tanzen zu Mute, die Nachricht des Vaters hatte ihn niedergeschlagen.
»Paul, Cherry, drauschen Sonne, du Gesicht wie Regen«, begrüßte sie ihn.
Er setzte sich zu ihr auf das Chaiselongue. Sie nahm seine zierlichen Finger, schaute ihn in die Augen.
Zur Wehrmacht gehen, berichtete er ihr. Sein Vater hatte ihn an eine Militärschule im Reich angemeldet. Am Wochenende würde er reisen. Sie erbost darüber, dass Herbert ihm dies antat.
Dem nicht genug, sie hatte gleichfalls eine Nachricht. »Esch isch Kriesch!«, zischte sie.
Er runzelte die Stirn. Sie sprach in Rätzeln. Es war Krieg!
Sie senkte den Kopf, schwank ihn wie ein Elefant ohne, dass ein Rüssel pendelte, und erklärte ihm auf Französisch was geschehen. Sie sprach meist in ihrer Muttersprache, die er verstand, sich in ihr nicht ausreichend auszudrücken konnte. Bei ihr der Sachverhalt entgegengesetzt ausgeprägt. Die Japaner hatten Perl Habor angegriffen. Es war eine Frage der Zeit, wann die Vereinigten Staaten in den Krieg, der über Europa tobte eingriffen. Die Nachricht machte im Angst, denn sie wusste, was sie sagte. Ihr Freund war Ingenieur bei den Fordwerken in Deutschland und Amerikaner. »Du willst mit deinen Freund abhauen. Wie? Ihr seit nicht verheiratet.«, murmelte er.
Sie atmete tief ein. John, das war sein Name, hatte von seiner Firma die Aufforderung erhalten, ohne Zeitverzug das Land zu verlassen. Am kommenden Tag erwartete sie ihn, um mit ihm das Konsulat in Brüssel aufzusuchen. Sie bedeckte ihren Mund. Catherine harre ein Arrangement in London bekommen. Ihr fehlte der Passierschein für die Botschaft, sie als Französin in Belgien.
Er zuckte die Achseln. »Wie willst du ohne gültige Papiere auf die Insel?«
Sie berührte mit ihren Lippen seine Ohrmuschel. »John hat einen SS-Offizier kennengelernt.« Sie wandte ihren Kopf. Dieser Offizier hatte sich vorgenommen mit seiner Familie zu desertieren, seine – wie sie es nannte – Beute vor dem Untergang in Sicherheit zu bringen. »Er braucht Reputation in Staaten et je Papier!« Sie zwinkerte. »Comprendre!«
Sie scheuchte ihn. »Rapide, rapide dernier prob. Musch au Vortanzen von Mademoiselle deux kommen mit que Ballerinettes.«
Er zog den Kopf zurück, starrte sie an. »Zwei fremde Mädchen nimmst du mit! Mich läss du hier?«, schnaufte er.
Catherine strich über seine Wange. »Ballerinette nischt petit Tanzer. Du Garçon«, hauchte sie.
Paul verschränkte die Arme, stampfte mit den rechten Fuß auf. »Du hast immer gesagt, dass ich die Odette perfekt beherrsche, besser als manch eine große Ballerina.«, schnarrte er.
Sie schloss die Augen. »Du perfect mais« Sie schüttelte den Kopf. »Non Femme!«
Er bandagierte seine Zehen, stülpte die Tanzschuhe über die Füße, schlang die Bändchen um die Fersen und band eine Schleife. Die rechte Hand auf der Brust richtete er sich auf. Den Kopf gesengt, die Knie bebend, atmete er mehrmals tief ein. Die Lippen verdeckt, schlich er zur Tür, drückte mit zitternden Fingern die Klinke herab.
Wie bei einem Tribunal saßen drei ergraute Herren in ihren Sesseln. Die Arme verschränkt, die Beine überschlagen, wandte sie ihre mumienhaften Gesichter der Tänzerin zu, die den Salon betrat. Nur eine Dame in wallenden cremfarbenden Kleid zwinkerte ihr zu. Stach ab von den temperamentlos Herren in ihren steingrauen Anzügen.
Ein Bursche kaum älter als er, drehte an der Kurbel des Grammophons, brachte die Scheibe zum Rotieren. Auf einen Wink des Gentleman in der Mitte senkte er die Schalldose herab.
Paul stellte sich in Grundposition Cinquième auf.
Scene Finale schwebte durch den Raum, ergriff die Ballerina, lies sie kreisen, beugen, springen. Sie verschmolz mit der Musik, wurde eins mit den Tönen, bis die letzten Takte nahe sie in Spagat ging, ihren Oberkörper krümmte, ihre Zehen berührte, ihren Kopf zwischen den Oberarmen begrub.
Sein Tanz hatte auf die alten Männer die Wirkung eines Jungbrunnens gehabt. Sie sprangen auf, applaudierten, huldigten ihn. Catherine verharrte, sah in an. Erst als die Herren den Salon verlassen hatten, klatsche sie mit ihren zarten Fingern. Sie reichte ihm die Hand und nahm ihn mütterlich in die Arme.
Paul strich über das Blümchenkleid, trat zum wiederholten Mal gegen den Bordstein. Die Scham in Mädchenkleidern, um die Häuser zu ziehen, hatte er abgelegt und Langeweile keimte in ihm auf. Catherine hatte ihn gebeten, angefleht vor ihrer Flucht sie allein zu lassen.
Wie der Vorbote des Unheils verfinsterte der Himmel. Regenschwangere, tief hängende bleigraue Wolken zogen über die Stadt, hüllten die Straße in ein halbdunkel. Die ersten Böen rissen am Saum des Kleides, die ersten Tropfen benetzten sein Haupt. Nass konnte der Schopf nicht werden. Pauls Haar bedeckte eine blonde Perücke mit Korkenzieherlocken, die vom Wind umspielt gegen die Ohren schlugen. Eine Hand an der Schürze des Kleides, die andere auf dem Kunsthaar lief er die Straße entlang, bog rechts ab und rannte bis zum Eingang des Hauses seiner Ballettlehrerin.
Ein hochgewachsenen Herr zog den Kragen seines pechschwarzen Ledermantels herauf und warf, eine blaue Wolke aus dem Mund hauchend, seine Zigarette auf das nasse Kopfsteinpflaster. Er schob den Homburger über die fliehende Stirn und presste den Oberkörper, die Hände in die Manteltaschen vergrabend, an einen anthrazitfarbenen Citroen 11 CV.
Paul flüchtete unter das Eingangsportal des Hauses, drückte sein Gesäß gegen die Tür und schritt den Rock schüttelnd über den mit Jugendstilornamenten verzierten Boden des Flures. Kaum die Etage erreicht, auf der Catherine wohnte, drangen angsterfüllte Schreie an sein Ohr.
Catherine lag rücklings auf dem Chaiselongue ein Bein über der Seitenlehne den Fuß des anderen auf dem Beistelltisch. Ein Mann mitten ihrer Schenkel, seine Hände um ihren Hals. Sie schrie, sie stöhnte, flehte um Hilfe, Erleichterung, seine Gabe. Paul blickte sich um, sprang zum Kaffeehausstuhl, auf dem die Lehrerin gerne ruhte, eine Tasse Bohnenkaffee gegriffen mit Ringfinger und Daumen, schlürfend aus dem Fenster sah. Die zitternden Finger glitten an der tiefschwarzen Uniformjacke mit dem Doppelblitzabzeichen am Revers vorbei, zogen die Walter PP aus dem ledernen Halfter. Die Schirmmütze mit dem Totenkopf fiel von der Rückenlehne. Paul legte mit beiden Händen an und krümmte den Zeigefinger – Einfach so!
Wer meinen Roman-Versuch ‚Flucht über die Nordsee‘ bis dato gelesen hat wird sich wundern.
Ja! Der folgende Text ist ein Auszug, eine Verknüpfung von Textstellen, die Toni in dem Roman liest. Aber aufgrund der mehrfachen tragischen Ironie oder ironischen Tragik, bis hin zu einem gewissen schwarzen Humor - das muss ich zugeben ihm Rahmen des Werkes von mir nicht angestrebt - habe ich mich entschlossen, diese Zeilen den Lesern zugänglich zu machen. Lesern, die sich nicht durch mein teilweise verqueres Werk durchkämpfen wollen.
Schande
Paul trottete seinem Vater hinterher, der zielstrebige die Straße entlang marschierte. Vater war das falsche Wort eher Erzeuger. Sein Papa hieß Franz und wurde vor drei Jahren hingerichtet, von dem Mann, hinter dem er sich herschleppte. Herbert seines Zeichen SS-Standartenführer, hager mit pfaden Gesicht und kaum größer als sein oberster Vorgesetzter, dafür stramm im Schritt. Selbst hatte er nicht handangelegt an Franz Tod, trotzdem war er verantwortlich. Aber eins nach dem anderen.
Herbert, Franz und Hildegard, Pauls Mutter, waren in der guten alten Zeit, wie man sagte, mehr als enge Freunde. Kampfgenossen. Verbrüdert für bessere soziale Verhältnisse am Ende der wilden Zwanziger. Sie waren Kommunisten und für ihre Epoche eher freizügig. Hilmgard erwartete eine ansprechende Mitgift und Franz ein Mann von Welt der charmantere Schwiegersohn. Das er sich nichts aus Frauen machte, spielte dabei keine Rolle. Der Rest ergabt sich.
Das dreier Bündnis plus eins lebten weiter in ihrem Dunstkreis, bis Herbert der Auffassung war, dass die Botschaft des Mannes aus Österreich in eher überzeugte als die des Herrn aus Trier.
Eine Zeit lang gab es keine Probleme. Erst 1933 zerbrach der Pakt.
Herbert verschwand aus Pauls Leben. Paul zog mit den Eltern nach Hamburg, das Tor zu Welt. Abhauen wollte seine Mutter, aber Franz Optimist von Beruf fest davon überzeugt, dass es sich mit den Braunen bald erledigt hätte.
1939 bekamen sie einen netten Brief, unterzeichnet von Herbert – Franz Einberufung. Das letzte Mal sah er ihn, dann verschwand er. Hildegard heiratete erneut. Herbert! Im Gefolge der Truppen marschierte er samt Familie in die befreiten Gebiete ein, um den armen frankofonen Belgiern in Charleroi die Segnungen des Deutschtums nahezubringen.
Die Arbeit, die er vollzog, musste ordentlich gewesen sein, denn nach kurzer Zeit wurde er nicht nur befördert, sondern auch nach Antwerpen versetzt, um eine weitere Gruppe, die jüdischen Glaubens, von Hab und Gut zu befreien. Eine Tätigkeit die sowohl sein ansehen, sowie das eigene Vermögen steigerte.
Dieser arme Herr hatte einen strukturierten Tagesablauf. Zudem nicht nur der mittägliche Braten - jeden Tag gab es Braten, gehörte. Auch der Nachtisch wiederholte sich, wie der Sonnenaufgang. Paul bekam seine Lektüre, die Bibel des deutschen Mannes und die Mutter, nachdem ihr Gatte sie mit der Gärte liebkoste, die Aufgabe ihrer ehelichen Pflichten nachzugehen. Dann wurde es familiär. Vater und Sohn kontrollierten ihr Revier.
An diesem Tag kehrten sie nicht gemeinsam heim. Eine Gruppe Soldaten zogen eine Frau und ein Kind aus einem Hauseingang auf den Bürgersteig. Dienstbewusst marschierte Herbert auf sie zu. Nach Austausch der militärischen Begrüßung, um genau zu sein, die Vaterlandsverteidiger erwiesen die Ehrenbezeigung, Herbert hob nur seine Nase höher, als er sie bereits zuvor trug.
»Was geht hier vor?«, donnerte er knapp ihnen entgegen.
Der Hauptmann der Wehrmacht, salutierte abermals, ergriff erneut den Schopf der Frau. »Verräter am deutschen Volke!«
Pauls Vater sah kurz auf die am Boden liegende herab. »Juden?«
»Schlimmer«, entgegnete der Offizier. »Blutschändler!«
Herbert wandte sein Gesicht dem Sohne zu. »Paul was ist schlimmer als ein Tier zu sein?«, fragte er wie ein Oberlehrer.
Der Junge schaute zu ihm herauf. »Blutschande mit einem Tier?«, stotterte er.
Das Familienoberhaupt strich zustimmend über den Schopf des Knaben, zog die Walter PP aus dem Halfter, nahm zur Ehrerbietung nicht einmal seine Mütze mit dem silbrigen Totenkopfabzeichen ab, legte die Mündung an die Schläfe der Festgehaltenen und krümmte den Zeigefinger. Einfach so!
Die Frau brach zusammen, Blut spritze auf die Uniform des Landsers. Herbert nahm die Waffe in seine Linke, drückte sie Paul in die Hand. Wortlos zeigte er auf das Mädchen, welches sich schreiend auf ihre Mutter warf.
Sein Sohn starrte auf den Leichnam, auf das Kind, schrie, schleuderte das Todeswerkzeug aufs Pflaster, rannte davon.
Er war der Ort, an dem er Zuflucht fand, die einzige Zeit an der alles vergaß. An zwei kurzweilige Nachmittage in der Woche am Dienstag, am Donnerstag ging er zu ihr, Catherine, seiner Ballettlehrerin. Getanzt hatte er bereits in Hamburg, mehr noch, hart trainiert, jede freie Minute. Die Mutter förderte sein Talent, wo es ging und über die wenigen Stunden bei Catherine hielt sie schützend ihre Hand, dem Vater das treiben unbekannt.
An diesem Dienstag erwartete sie ihn wie immer in ihrer winzigen Zweizimmerwohnung in einem oberen Geschoss eines stattlichen Gebäudes, indem sonst betuchte Bürger lebten. Mit einem Unterschied, sie empfang ihn nicht in ihrem Ballettanzug, sondern in einem schwingenden Sommerkleid.
Ihm war an diesem Tag nicht nach tanzen zu Mute, die Nachricht des Vaters hatte ihn niedergeschlagen.
»Paul, Cherry, drauschen Sonne, du Gesicht wie Regen«, begrüßte sie ihn.
Er setzte sich zu ihr auf das Chaiselongue. Sie nahm seine zierlichen Finger, schaute ihn in die Augen.
Zur Wehrmacht gehen, berichtete er ihr. Sein Vater hatte ihn an eine Militärschule im Reich angemeldet. Am Wochenende würde er reisen. Sie erbost darüber, dass Herbert ihm dies antat.
Dem nicht genug, sie hatte gleichfalls eine Nachricht. »Esch isch Kriesch!«, zischte sie.
Er runzelte die Stirn. Sie sprach in Rätzeln. Es war Krieg!
Sie senkte den Kopf, schwank ihn wie ein Elefant ohne, dass ein Rüssel pendelte, und erklärte ihm auf Französisch was geschehen. Sie sprach meist in ihrer Muttersprache, die er verstand, sich in ihr nicht ausreichend auszudrücken konnte. Bei ihr der Sachverhalt entgegengesetzt ausgeprägt. Die Japaner hatten Perl Habor angegriffen. Es war eine Frage der Zeit, wann die Vereinigten Staaten in den Krieg, der über Europa tobte eingriffen. Die Nachricht machte im Angst, denn sie wusste, was sie sagte. Ihr Freund war Ingenieur bei den Fordwerken in Deutschland und Amerikaner. »Du willst mit deinen Freund abhauen. Wie? Ihr seit nicht verheiratet.«, murmelte er.
Sie atmete tief ein. John, das war sein Name, hatte von seiner Firma die Aufforderung erhalten, ohne Zeitverzug das Land zu verlassen. Am kommenden Tag erwartete sie ihn, um mit ihm das Konsulat in Brüssel aufzusuchen. Sie bedeckte ihren Mund. Catherine harre ein Arrangement in London bekommen. Ihr fehlte der Passierschein für die Botschaft, sie als Französin in Belgien.
Er zuckte die Achseln. »Wie willst du ohne gültige Papiere auf die Insel?«
Sie berührte mit ihren Lippen seine Ohrmuschel. »John hat einen SS-Offizier kennengelernt.« Sie wandte ihren Kopf. Dieser Offizier hatte sich vorgenommen mit seiner Familie zu desertieren, seine – wie sie es nannte – Beute vor dem Untergang in Sicherheit zu bringen. »Er braucht Reputation in Staaten et je Papier!« Sie zwinkerte. »Comprendre!«
Sie scheuchte ihn. »Rapide, rapide dernier prob. Musch au Vortanzen von Mademoiselle deux kommen mit que Ballerinettes.«
Er zog den Kopf zurück, starrte sie an. »Zwei fremde Mädchen nimmst du mit! Mich läss du hier?«, schnaufte er.
Catherine strich über seine Wange. »Ballerinette nischt petit Tanzer. Du Garçon«, hauchte sie.
Paul verschränkte die Arme, stampfte mit den rechten Fuß auf. »Du hast immer gesagt, dass ich die Odette perfekt beherrsche, besser als manch eine große Ballerina.«, schnarrte er.
Sie schloss die Augen. »Du perfect mais« Sie schüttelte den Kopf. »Non Femme!«
Er bandagierte seine Zehen, stülpte die Tanzschuhe über die Füße, schlang die Bändchen um die Fersen und band eine Schleife. Die rechte Hand auf der Brust richtete er sich auf. Den Kopf gesengt, die Knie bebend, atmete er mehrmals tief ein. Die Lippen verdeckt, schlich er zur Tür, drückte mit zitternden Fingern die Klinke herab.
Wie bei einem Tribunal saßen drei ergraute Herren in ihren Sesseln. Die Arme verschränkt, die Beine überschlagen, wandte sie ihre mumienhaften Gesichter der Tänzerin zu, die den Salon betrat. Nur eine Dame in wallenden cremfarbenden Kleid zwinkerte ihr zu. Stach ab von den temperamentlos Herren in ihren steingrauen Anzügen.
Ein Bursche kaum älter als er, drehte an der Kurbel des Grammophons, brachte die Scheibe zum Rotieren. Auf einen Wink des Gentleman in der Mitte senkte er die Schalldose herab.
Paul stellte sich in Grundposition Cinquième auf.
Scene Finale schwebte durch den Raum, ergriff die Ballerina, lies sie kreisen, beugen, springen. Sie verschmolz mit der Musik, wurde eins mit den Tönen, bis die letzten Takte nahe sie in Spagat ging, ihren Oberkörper krümmte, ihre Zehen berührte, ihren Kopf zwischen den Oberarmen begrub.
Sein Tanz hatte auf die alten Männer die Wirkung eines Jungbrunnens gehabt. Sie sprangen auf, applaudierten, huldigten ihn. Catherine verharrte, sah in an. Erst als die Herren den Salon verlassen hatten, klatsche sie mit ihren zarten Fingern. Sie reichte ihm die Hand und nahm ihn mütterlich in die Arme.
Paul strich über das Blümchenkleid, trat zum wiederholten Mal gegen den Bordstein. Die Scham in Mädchenkleidern, um die Häuser zu ziehen, hatte er abgelegt und Langeweile keimte in ihm auf. Catherine hatte ihn gebeten, angefleht vor ihrer Flucht sie allein zu lassen.
Wie der Vorbote des Unheils verfinsterte der Himmel. Regenschwangere, tief hängende bleigraue Wolken zogen über die Stadt, hüllten die Straße in ein halbdunkel. Die ersten Böen rissen am Saum des Kleides, die ersten Tropfen benetzten sein Haupt. Nass konnte der Schopf nicht werden. Pauls Haar bedeckte eine blonde Perücke mit Korkenzieherlocken, die vom Wind umspielt gegen die Ohren schlugen. Eine Hand an der Schürze des Kleides, die andere auf dem Kunsthaar lief er die Straße entlang, bog rechts ab und rannte bis zum Eingang des Hauses seiner Ballettlehrerin.
Ein hochgewachsenen Herr zog den Kragen seines pechschwarzen Ledermantels herauf und warf, eine blaue Wolke aus dem Mund hauchend, seine Zigarette auf das nasse Kopfsteinpflaster. Er schob den Homburger über die fliehende Stirn und presste den Oberkörper, die Hände in die Manteltaschen vergrabend, an einen anthrazitfarbenen Citroen 11 CV.
Paul flüchtete unter das Eingangsportal des Hauses, drückte sein Gesäß gegen die Tür und schritt den Rock schüttelnd über den mit Jugendstilornamenten verzierten Boden des Flures. Kaum die Etage erreicht, auf der Catherine wohnte, drangen angsterfüllte Schreie an sein Ohr.
Catherine lag rücklings auf dem Chaiselongue ein Bein über der Seitenlehne den Fuß des anderen auf dem Beistelltisch. Ein Mann mitten ihrer Schenkel, seine Hände um ihren Hals. Sie schrie, sie stöhnte, flehte um Hilfe, Erleichterung, seine Gabe. Paul blickte sich um, sprang zum Kaffeehausstuhl, auf dem die Lehrerin gerne ruhte, eine Tasse Bohnenkaffee gegriffen mit Ringfinger und Daumen, schlürfend aus dem Fenster sah. Die zitternden Finger glitten an der tiefschwarzen Uniformjacke mit dem Doppelblitzabzeichen am Revers vorbei, zogen die Walter PP aus dem ledernen Halfter. Die Schirmmütze mit dem Totenkopf fiel von der Rückenlehne. Paul legte mit beiden Händen an und krümmte den Zeigefinger – Einfach so!