Schaurig!

Bo-ehd

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Auszug aus einem Kurs über Volksmärchen, gehalten im Verein für Erwachsenenbildung:


„Zum Schluss nun die wichtigsten Merkmale unserer Volks- und Kindermärchen. Jeder von Ihnen kennt sie, jeder erkennt sie auf den ersten Blick. Trotzdem möchte ich sie noch einmal ins Gedächtnis rufen und kurz erläutern.
Volksmärchen kennen weder Zeit noch Ort noch bestimmte Personen. Das Märchen ist aus heutiger Sicht anonym, die entsprechenden Beschreibungen in den Texten lassen keine Hinweise auf bestimmte Zeiten, Orte, Regionen und Personen zu, die real existiert haben. Die häufig gebrauchte Formel „Es war einmal“ bestätigt das. Die Hauptfiguren tragen zwar Namen, diese dienen jedoch nur dem Verständnis des Textes und der Vermeidung von Verwechslungen.
Das zweite Merkmal ist das Dualitätsprinzip. Es bedeutet, dass die Inhalte stets von gegensätzlichen Merkmalen gekennzeichnet sind. In den meisten Fällen handelt es sich um Eigenschaften von Personen. So zum Beispiel bei „Frau Holle“ die lebensfrohe, fleißige, hilfsbereite Tochter auf der einen Seite und als Gegenstück die verbissene, faule, gleichgültige Schwester auf der anderen. Andere Gegensätze sind schön/hässlich, arm/reich, gesund/krank und mutig/feige.
Das wichtigste Merkmal von allen aber ist das Vorhandensein eines Wunders. Kein Volksmärchen ohne Wunder, mag es auch noch so klein oder im Text versteckt sein. Die Gründe dafür liegen in der Mythologie. Es waren die Götter, die belohnten und straften, über Leben und Tod entschieden oder über Trockenheit und Dürre der Ackerböden. Sie lenkten die Geschicke der Menschen und lieferten so riesige Mengen an Stoff für Geschichten resp. Märchen.“

*

„Damit schließe ich diese erste Stunde, möchte aber noch auf eine Eigenheit hinweisen, die Ihnen vielleicht einen Augenblick lang eine Gänsehaut auf die Arme zaubert. Wer von Ihnen ist denn Mutter oder Großmutter?“
Alle Anwesenden nickten oder gaben Handzeichen.
„Ich gehe mal davon aus, dass Sie alle ihren Kleinen zum Einschlafen ein Märchen vorlesen. Ein Volks- und Kindermärchen, wie es bei den Gebrüdern Grimm heißt?“
Alle nickten ein wenig unsicher, weil sie ahnten, dass da noch etwas kommt. Misstrauen in ihren Blicken.
„Dann sollte Ihnen auch bewusst sein, dass ebendiese Kindermärchen die brutalsten Geschichten sind, die es in der Weltliteratur gibt. Alte Frauen, die in Backöfen geschoben werden, Mädchen, die sich die Zehen und Fersen abschneiden, damit sie in zu kleine Schuhe passen, Verwandlungen von Menschen in Tiere, aufgeschlitzte Tierleiber etc. Die Grimmsche Märchenschatulle ist voll davon. Also: Horrorgeschichten für die Kids zum Einschlafen. Nehmen die Kinder Schaden davon? Nein, seien Sie beruhigt.
Warum die Geschichten unschädlich sind, das ist eines unserer Themen für die nächste Stunde.
 



 
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