Schein und Sein

Verschwommene Bilder

“Hurensohn! DU VERDAMMTER HURENSOHN!!!“,
rufe ich und versuche dabei sowohl bitterböse  als auch bedrohlich zu wirken. Wütend mit dem Kopf abwechselnd nach vorne und hinten wippend starre ich meinen Kontrahenten möglichst maskulin an und halte wacker den Blickkontakt. Auf gar keinen Fall jetzt blinzeln mit den Augen. Herr der Lage sein.
Der Busfahrer, der mich vor weniger als einer Sekunde von der provisorischen aber vor allem viel zu engen Fahrspur auf den Fußweg abgedrängt hat, reagiert.
Und er reagiert schnell. Unmittelbar. Er kommt, womöglich aus dem Affekt heraus, in Bewegung - und ich nicht. Ich kann nicht, bin mehr oder weniger eingekesselt zwischen dem Bus, der sogar teils den Bordstein überragt, und den angrenzenden, beachtlich nahestehenden Gartenzäunen. Eigentlich würde auch das kein Problem für mich darstellen, denn es bleibt immerhin eine schmale Gasse, durch die ich hindurchschlüpfen könnte. Könnte, eben nur könnte. Denn direkt vor meinem Vorderreifen steht ein gewaltiger Baum, der mich dazu zwingt, mühselig, immer wieder den Blick nach hinten werfend, mich durch die nun wirklich sehr schmale Lücke, die mir noch bleibt, langsam hindurchzuzwängen. All dies mit bedrohlicher Ungewissheit im Rücken, wie ein Stück Wild auf der Flucht. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich zu Beginn, maximal zwei Sekunden zuvor, noch selbst eindeutig als Jäger und nicht als Beute kategorisiert hätte. Der Mensch ist wohl das einzige Tier, welches dazu in der Lage ist, innerhalb eines Augenblickes den Verfolgten zum Verfolger werden zu lassen - oder, wie bei mir jetzt gerade, dasselbe nur umgekehrt. Aus welchem Jugendroman ist mir diese Lehre in Erinnerung geblieben? Warum habe ich hieraus nicht gelernt, Konfliktsituationen tendenziell aus dem Weg zu gehen? Und warum verfange ich mich ausgerechnet jetzt in einem derart stupiden Gedankenkarussell? Mit der Einsicht, dass mir all dies ad hoc nicht weiter nutzen kann, setze ich nun zielstrebiger meinen Kampf in Richtung meiner persönlichen Rettungsgasse fort. Eine Stimme ertönt hinter mir, die nicht gerade freundlich klingt. “Das wirst du wohl noch mit meiner Mutter besprechen!“, oder so etwas in der Art vernehme ich aus einer Distanz von nur wenigen Metern. Vor meinem geistigen Auge taucht das Bild des Fahrers auf, dass sich mir wie glühendes Eisen in mein inneres Auge gebrannt zu haben scheint. Ein schlanker, aber nicht hagerer Mann in seinen Endvierzigern mit schmalem Gesicht, in dessen Mitte unheimlich stechende Augen mit martialischer Nuance wachen. Sein Haar bildet eine Kombination aus dunklem Braunton und grauen Ansätzen, wobei verwunderlicher Weise nahezu an jeder Partie des Kopfes beide Farbtöne gleichernaßen vertreten sind. Endlich habe ich die Engstelle passiert und kann Fahrt aufnehmen. Ich beschleunige, ohne noch einmal nach hinten zu blicken.
Erst mehrere hundert Meter weiter kann ich durchatmen und das Passierte kurz rekapitulieren lassen. Ich hatte es eilig gehabt und habe es immer noch eilig. Ich bin etwas zu spät aufgestanden, heute Morgen. Noch etwas liegenbleiben und faulenzen... So hatte der Tag begonnen.

Ich wache auf und merke, dass ich ins Bett genässt haben muss. Wann ist mir das denn zum letzten Mal passiert?! Immerhin hatte ich erst letzte Woche einen Schonbezug unter das Laken angebracht. So ist die Matratze wohl noch zu retten. Nun rege ich mich. Will aufstehen. Dabei fällt mir auf, dass mein gesamter Körper nass ist. Ich betaste meine Stirn und tauche ab in ein Meer aus Schweiß. Gleiches ist am restlichen Körper der Fall: Kein Urin, dafür Schweiß, Tranpirationssekret oder was weiß ich! Endlich erhebe ich mich ächzend und betrachte nass fröstelnd alles im Rahmen meines Bettgestells. Am Ende des Tages werde ich wohl nicht drumherum kommen, alles einmal zu waschen.
Nach diesem Erkenntnisgewinn schaue ich routiniert auf die alte Armeeuhr meines Vaters, welche ich für gewöhnlich auf der Kommode neben meinem Nachttisch platziere, wie auch gestern Abend. Schon sieben! Warum hat mein Wecker nicht geklingelt?! Wie ein Roboter vollführt meine Person die wichtigsten Bestandteile eines nervenaufreibenden Morgenrituals. Aber was sein muss, muss sein. Schon seit Jahren. Nach meiner ersten Dosis für heute - 2 gut gefüllte Gläser von einem billigen Rum - verlasse ich das Haus. Aber nicht ohne den silbernen Flachmann im Gepäck, den mir mein Vater zu meinem achtzehnten Geburtstag schenkte. Bevor ich das Auto starte, schmeiß ich mir zwei Pillen.

Wenig später schaue ich noch kurz in meiner Stammbäckerei vorbei, in der ich jeden Angestellten namentlich kenne. Ich betrete das Geschäft. Auf den ersten Blick suche ich Kunden vergeblich. Auch auf den zweiten. Hinter dem Tresen ist kein Personal zu sehen. Hat mein Bäcker heute zu? Andererseits ist die Auslage voller Backwaren wie sonst auch. “Halloo?“, höre ich mich rufen. “Einen Moment, bitte“, schallt es von irgendwo hinter der Theke zurück. Nach wenigen Augenblicken höre ich sich nähernde Schritte. “Guten Morgen! Ich hätte gerne ein Roggenbrot. Ungeschni...“, setze ich an. Doch da sehe ich ihn schon. Einen mittelgroßen Mann, schlank, Ende vierzig und er schaut mich an. Ich schaue zurück, obwohl ich mich gerne wegdrehen würde. Ich würde gerne fortfahren, doch das ist mir nicht möglich. Ein Zittern durchfährt meinen Körper, während ich Wortfetzen meines Kontrahenten vernehme: “Schneiden..., schnell... Lecker, frisch!“ Ich muss einfach nur das tun, was er sagt. Natürlich! Er hat Recht! Somit greife ich mir ein Brotmesser von der Ladentheke, presse meine linke Hand auf die selbe und steche und schneide, raspel und säge, bis meine linke Hand abfällt. Ich werfe sie zu meinem Gebieter, der sie mit dem Mund auffängt.
“Fein, ja fein“, ertönt ein Nuscheln, bevor ein Knacken das endgültige Nachgeben meines Mittelhandknochens verkündet. Ich sprinte aus dem Laden und steige in mein Auto. Ich bin ohnehin immer gerne einhändig gefahren.
Gas geben, Preschen auf die Autobahn, 200 Sachen. Was für ein Gefühl. Ich überhole jedes Auto, das sich mit mir die Fahrspur teilen muss. Aus Langeweile steigere ich die Waghalsigkeit in meinen Überholmanövern. Bis dieser alte Cadillac auftaucht, schwarz. Das Modell, das mein Vater Zeit seines Lebens fuhr. Ich drücke das Gaspedal durch und mache einiges an Abstandt wett, bleibe fest entschlossen auf der Überholspur. Von einer Sekunde auf die andere legt der schwarze Wagen eine Vollbremsung hin. Und dann wird alles schwarz.

Ich wache auf und wünsche, ich hätte es mir anders überlegt. Mein ganzer Körper schmerzt. Besonders mein linker Unterarm, der steril verbunden wurde. Außerdem ist dieses Zittern da, welches nach dem gewissen etwas verlangt.
Eine schwarze Gardine hüpft notgedrungen über den senfgelben Boden. Der Jäger ist der Wind.
Mit einem Mal schiebt sich ebendiese Gardine beiseite und Macht Platz für den Herrscher. Meine Zeit ist gekommen.
 



 
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