Scheinbare Inkonsequenz

Beim ersten Mal stutzte ich nur. Ich saß Ende April in einem von Berlin nach Frankfurt / Oder fahrenden Regionalexpress. Der Zug war, mitten am Vormittag, kaum frequentiert, um mich herum nur freie Plätze. Dass die Universität dort an der Grenze geschlossen ist, macht sich bemerkbar. Meine Aufmachung entsprach den neuesten Vorgaben: Mund- und Nasenschutz in Dunkelblau, bei einem asiatischen Schneider erworben.

Erkner ist die erste Station nach dem Ostkreuz, auf dem Bahnsteig kaum Zusteigende. Eine kommt durch die nächste Tür herein, steuert die leere Vierergruppe schräg gegenüber an, auch sie mit Halbmaske. Doch kaum sitzt die junge Frau, da nimmt sie sie auch schon ab, um Mitgebrachtes in aller Ruhe zu verzehren. Ich steige in Hangelsberg aus, zwei Stationen weiter. Ihre Mahlzeit dauert noch an. Not kennt kein Gebot? Oder: Ich esse, also bin ich. Was bin ich? Ein mündiger Bürger, ein freier Mensch …

Anfang Mai: derselbe dünn besetzte Zug, wieder Halt in Erkner. Hereinkommt ein Paar in mittlerem Alter, beide maskiert, und lässt sich auf der Vierergruppe vor mir nieder. Die zwei unterhalten sich auf Polnisch. Nach kurzer Zeit wird ihr die Bedeckung lästig, sie streift sie herunter und redet nun freier auf den Partner ein, der seinerseits nichts abnimmt.

Inzwischen weiß ich, dass in diesen Zügen so gut wie nie kontrolliert wird. Die scheinbare Inkonsequenz – einen Zug mit Maske zu betreten, um sich drinnen zügig davon zu befreien – ist gar keine. Sie wollen beim Einsteigen, falls sie vom Personal gesehen werden, korrektes Verhalten vortäuschen. Nachher kann man sich’s dann richten. Wie sie sich nonverbal im öffentlichen Raum geben, es verrät schon etwas vom Geist und Charakter von Fremden.

Ich stand auf, sah der Mitbürgerin in die Augen und placierte mich weiter entfernt neu.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Was willste machen, Arno. So sind wir Menschen. Belehrbar, unbelehrbar. Oftmals allwissend. Wenn ich lese, dass Dr. Drosten und seine Familie Morddrohungen erhalten, wird mir so manch menschlicher klar und klarer. Bleib gesund!
 
Danke, Otto, für deine Reaktion. Mich beschäftigte weniger eine mehr oder weniger richtige oder falsche Ansicht als vielmehr der scheinbare Widerspruch im Verhalten. Er spiegelt eine Doppelmoral, eine gegenüber der Obrigkeit (Anpassung) und eine private für den Eigengebrauch, ohne Rücksicht auf den Mitmenschen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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