Scherben

Ich hatte das ursprünglich für die Fingerübung KW50 geschrieben, bin allerdings zu spät fertig geworden. Würde mich trotzdem über Verbesserungsorschläge für diese Kurzgeschichte freuen!:)

Scherben

Es klopfte an der Tür und Ruth zuckte leicht zusammen, als ihr Vater das helle Krankenzimmer betrat und sich wortlos auf den Stuhl neben ihrem Bett setzte. Auf dem Gang hörte sie schnelle Schritte der vorbeieilenden Schwestern und die gedämpften Stimmen sich unterhaltender Patienten oder Besucher, gelegentlich drang auch ein Lachen zu ihr durch. Ruth hatte darauf bestanden in ein Einzelzimmer verlegt zu werden.

"Alles mal herhören, Leute! Ich hab bestanden!"
"Super, wieder eine weniger, die den Bus nehmen muss! Meinen Glückwunsch, Ruth!"
"Willkommen im Club, Kleine! Und, war’s schwer?"
"Nein, eigentlich nicht. Nur beim seitwärts Einparken hätte ich beinahe Scheiße gebaut, hab’s gerade noch irgendwie hinbiegen können. Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich jetzt endlich allein fahren darf! Ein tolles Gefühl!"
"Also, heut’ Abend is erstmal Party..."


Er fragte nicht nach ihrem Befinden; die Ärzte setzten ihn täglich über ihren Zustand und den Verlauf ihrer Genesung in Kenntnis. Sie hatte einen komplizierten Oberschenkelbruch, diverse Rippenbrüche, unzählige Prellungen und ihr Gesicht war von tiefen Kratzern und Schnitten entstellt. Womöglich würden Narben zurückbleiben. Sie war neunzehn Jahre alt.

"He, ihr sogenannten Redaktionsmitglieder! Gesoffen wird erst, wenn die ABI-Zeitung fertig hier vor mir auf dem Tisch liegt, klar? Überlegt euch lieber noch ein Paar Fragen für die Mitschüler-Statistik!"
"Nicht so knauserig, Mann! Es ist genug Bier für alle da..."
"‘Mit wem würdest du gern mal eine Nacht verbringen?’"
"‘Wer hat den knackigsten Hintern der Stufe?’ Wobei ich da natürlich ganz klar vorn liegen würde.."
"Träum’ weiter, Thomas! Ich wäre noch für ‘Wer stirbt als erstes an Lungenkrebs?’ und ‘Wer wird zuerst seinen Führerschein los?’"
"Beim Letzteren würde Ruth garantiert an die 90 % kassieren!"
"Danke, Witzbold."
"Aber irgendwo hat er schon recht, Kleine. Du bist 'ne geschickte Fahrerin, Ruth, das muss man dir lassen, aber halsbrecherisch wie ein Kamikaze. Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du noch nie 'nen Unfall hattest, prophezeit hätte es dir wohl jeder."


Die Tür öffnete sich wieder und ein Pfleger kam mit einem Speisewagen hereingefahren. Ruths Vater verfolgte die Bewegungen des Pflegers mit undurchschaubarer Miene, während dieser eine Schüssel mit Hühnersuppe und einen frischen Salat zusammen mit einem Glas Wasser vor Ruth plazierte. Sie starrte müde auf das Telefon auf ihrem Nachttisch, das in letzter Zeit immer seltener klingelte.

"Hallo Liebes, ich bin’s!"
"Hey, nett dich wieder im Lande zu haben, Mum! War euer Urlaub schön?"
"Ja, es war einfach wunderbar, Anna und ich hatten so viel Spaß! Portugal ist aber auch ein wirklich phantastisches Land! Das Wetter war auch herrlich, ein Traum! Hör mal, Liebes, ich fahre jetzt gleich vom Flughafen nach Hause. Könntest du währenddessen losfahren und nach den Brautjungfernkleidern sehen? Die Hochzeit ist schon übermorgen und sie sind immer noch nicht fertig, da muss man ein bisschen Druck machen!"
"Soll ich dich nicht lieber vom Flughafen abholen, Mum? Du bist doch sicher erschöpft von der langen Reise."
"Lass mal, Liebes, mir geht es hervorragend. Kümmere du dich lieber um die Vorbereitungen. Wir wollen doch, das für Rebeccas Hochzeit alles perfekt ist, nicht wahr?"
"Warum? Es werden sicher noch zahlreiche folgen..."
"Tzz, Ruth! Sie ist deine Cousine, vergiss das bitte nicht! Ich hoffe nur, dass sich die Situation auf den Straßen bis übermorgen gebessert hat, sonst müssen wir garantiert mit Verspätungen rechnen."
"Okay, ich fahre dann gleich los. Bis später, Mum!"


Sie hatte plötzlich das Gefühl unter der bedrückenden Stille zu ersticken. Wenn er doch nur wütend werden, nur ein einziges Mal schreien würde! Stattdessen blieb er kalt und verschlossen, zog sich in eine Welt zurück, zu der sie keinen Zugang hatte. Seine leblose Ruhe provozierte sie und ließ sie verzweifeln. Manchmal wollte sie ihn am liebsten ohrfeigen und ihn dazu zwingen sich ihr, dem Feind, zu stellen; einen Augenblick später wünschte sie sich nichts mehr, als sich wie ein kleines Mädchen an seine Brust schmiegen und sich trösten zu lassen. Die Polizei hatte gesagt, sie treffe keine Schuld, der Unfall sei durch das Glatteis kaum zu verhindern gewesen.

"Gehst du, Christine?"
"Ja, meine Schicht hier ist gleich um. Weisst du wie es dem Mädchen aus OP 4 geht?"
"Sie sagen, sie kommt durch. Hatte aber auch verdammt viel Glück, die Kleine! Nur einige oberflächliche Verletzungen und Brüche - nach so einem Zusammenstoß, stell’ dir das mal vor! Der Fahrer des anderen Wagens ist angeblich tot."
"Ja, das habe ich auch mitbekommen."
"Ich hab gehört, dass sie nach ihrer Genesung für einige Zeit in die Psychatrie eingewiesen werden soll. Hast du eine Ahnung, warum?"
"Im anderen Wagen saß ihre eigene Mutter. Damit wird das arme Mädchen nicht so schnell fertig werden."
"Schlimme Geschichte."
"Ja, kann man wohl sagen. Naja, dann bis morgen."
"Bis morgen."


Ruths Vater erhob sich wieder und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Es gab nichts mehr zu sagen. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel erfüllte ein schmerzverzerrter Schrei das Zimmer.
 

sturmwind

Mitglied
Hallo!

Ich mag vielleicht noch nicht so viel davon verstehen, wie man was macht und so weiter... aber ich für mich finde das an der Geschichte nichts verbessert werden muss oder dergleichen, zumindest nicht nach einmaligem Lesen.
Ich finde sie ist schön geschrieben und vor allem das mit den Dialogen zwischendurch, die einen über die Hintergründe aufklären, finde ich sehr gut gelöst.

freundlich grüßend und ein schönes Fest wünschend
~sturmwind~
 

Magic Magor

Mitglied
Dem kann ich mich nur anschließen

Dieser Wechsel zwischen Krankenhaus und Vergangenheit ist fantastisch. Die bedrückende Stimmung kommt sehr gut rüber. Also wie gesagt in der Schreibwerkstatt hat er meiner Meinung nach nichts zu suchen. Ab ins Kurzgeschichten Forum damit.
 

ex-mact

Mitglied
Moin,

es ist "nie zu spät" :)

In anderen Übungen sind ja Beiträge auch erst sehr viel später eingegangen - wenn ich Zeit und Muße habe, gucke ich natürlich auch neue "Einsendungen" gerne an.
Ich muss auch hier wiederholen, was ich schon oft schrieb: all meine Kritik ist nur Gelächter im Wind - was der Autor daraus macht, bleibt ihm überlassen und ich stelle nur eine ganz spezielle Meinung dar, keinesfalls etwas "Absolutes".

- ein schöner, glatter Anfang
- was ist "seitwärts einparken"? (Rückwärts und Vorwärts kenne ich...)
- ein paar Stellen in wörtlichen Reden sind "gestelzt"/unnatürlich (z.B. "Warum? Es werden sicher noch zahlreiche folgen..")
- die Wendung am Schluss ist unvorhersehbar und daher nahezu "perfekt", allerdings macht dieser Höhepunkt eine mögliche Fortsetzung schwierig, ich würde die Story sogar hier enden lassen
- falls die Story weitergehen sollte müsste spätestens auf der nächsten Seite Ruth näher charakterisiert werden: sie ist "Viewpoint", wird aber fast nur durch die Beobachtungen anderer beschrieben
- ansonsten schließe ich mich gerne dem Lob hier an: sehr eingängig geschrieben und - bis auf wenige Rechtschreib/Grammatikfehlerchen - kaum wirklich zu verbessern. Die Übungen wollen aber eine Basis für eine längere Story legen, und dazu ist hier zu wenig Plotmaterial vorhanden
 

Magic Magor

Mitglied
Zu wenig Plot?

Nun das kommt darauf an. Man kann die Geschichte sicher so wie sie ist stehen lassen. Aber es ist dennoch möglich daraus einen längeren Plot zu kreieren. Vielleicht geht es um die Erlebnisse von Ruth in der Anstalt oder um ihren Versuch danach wieder ein normales Leben zu führen, sie aber von allen Seiten (außer der Famillie) angefeindet wird.

Ich denke schon daß es möglich ist hier etwas mehr daraus zu machen. wir haben hier schließlich einen ziemlich interessanten Charakter.
 
Danke...

... für die schnellen Antworten und natürlich für eure Vorschläge! Ich war ebenfalls der Meinung, dass es am wirkungsvollsten sei die Geschichte an dieser Stelle enden zu lassen. Ich weiss, dass die Fingerübungen eigentlich dazu diehnen sollten, den Anfang für eine längere Story zu legen, aber ich habe die Regeln an dieser Stelle mal ein wenig "abgewandelt" ;) weil ich das Gefühl hatte, meine Idee würde als geschlossene Kurzgeschichte eher eine Chance haben. Mact, hättest du Verbesserungsvorschläge für die wörtl. Rede? Ich war heute morgen schon dabei hier und dort an einigen Stellen zu kürzen weil mir einige Aussagen nach nochmaligem Durchlesen etwas übertrieben und nicht ganz "authentisch" vorkamen, aber ganz sicher war ich mir noch nicht. Ansonsten bleibt nur noch zu sagen, dass ich mich sehr über euer Lob gefreut habe und die Story dann bald ins Kurzgeschichtenforum verfrachten werde! :)

Salut,
D. Rialto
 

ex-mact

Mitglied
Moin, Deanna,

für die wörtliche Rede gibt es einen banalen Trick: lies die Texte laut vor und spüre, ob Du selbst so reden würdest - dann hast Du EINE Sprechweise gefunden. Die anderen Charaktere sollten ihrer jeweiligen Anlage gemäß sprechen - Schüler zum Beispiel haben vielleicht sehr viele Anglizismen im Text (oder auch nicht?), benutzen lieber kurze Worte mit wenigen Silben, reden hauptsächlich im Imperfekt (selten im Perfekt, weil es "so schwer ist, sich die richtige Vergangenheitsform für so viele Worte zu merken").

Wenn ich in den nächsten Tagen noch etwas Zeit habe, versuche ich, Dir noch ein paar konkrete Vorschläge zu machen. Generell ist die wörtliche Rede sehr wichtig für die Charakterisierung: sie kann unter Umständen mehr über eine Person aussagen als eine halbe Seite Behauptungen vom Autor.
 
A

annabelle g.

Gast
ich finde das auch eine gute geschichte.
nur zwei sachen - das "mum" schafft distanz zwischen mutter und tochter, weil man auf die amerikanische variante ausweicht - abgesehen davon dass es nicht zu "ruth" passt, ruth, die "mum" sagt - nein.
das zweite ist der vater, das entsetzen ist gut zu sehen, aber ich meine, man müsste auch dieser zweiten figur gerecht werden, ihn nicht so sehr in die "du hast schuld, du hast schuld!"-ecke schieben, sondern eher sein gelähmtsein angesichts der situation zu zeigen, er KANN nicht sprechen, beide können es nicht.
der schrei ist mir auch zu stark für den schluss, natürlich ein sehr einprägsames wort, aber für das dumpfe der situation? warum lässt du es nicht offen, was aus den beiden wird und gestehst dem vater seine sprachlosigkeit nicht zu? gruß a.g.
 



 
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