Scherbengericht

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Walther

Mitglied
Scherbengericht


Der Bruch geht durch die Zeit hindurch, der Tag
Zerbricht in viele Splitter, die nicht passen.
Zerstört Gewesenes. Das Ende Fassen:
Versagen wird, der sich nicht fügen mag

In das, was nicht zu ändern ist. Verlassen,
Alleine wird er an den Rändern stehn.
Es nützt nichts, um Vergebung jetzt zu flehn.
Er wird es dennoch tun und sich dann hassen.

Am Boden liegen bunte Lebensscherben,
Verteilt nach dem Prinzip der bösen Tat.
Man kann sich guten Willen schnell verderben.

Gewinnen wird der nichts und wenig erben,
Wer seinen klaren Blick verloren hat:
Das Glück ist nur im Ausgleich zu erwerben.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther,

dieses Gedicht hat mich gleich beeindruckt. Hier einige Gedanken dazu:

Der Bruch geht durch die Zeit hindurch, der Tag
Zerbricht in viele Splitter, die nicht passen.
Dieser Einstieg ist klasse.


Zerstört Gewesenes. Das Ende Fassen:
Hier hat mich das Abgehackte zunächst leicht irritiert. Aber es ist die gelungene sprachliche Umsetzung der Splitter.

Versagen wird, der sich nicht fügen mag
In das, was nicht zu ändern ist. Verlassen,
Alleine wird er an den Rändern stehn.
Es nützt nichts, um Vergebung jetzt zu flehn.
Er wird es dennoch tun und sich dann hassen.
Das LyrI steht vor einem Scherbenhaufen, allein und verzweifelt. Die Situation ist auswegslos, keine Vergebung trotz Flehen ist möglich, und dennoch wird es flehen und sich danach dafür verachten. (Schöner Binnenreim, gelungene Enjambements)


Am Boden liegen bunte Lebensscherben,
Verteilt nach dem Prinzip der bösen Tat.
Man kann sich guten Willen schnell verderben.
Das LyrI hat große Fehler gemacht und damit seine Beziehungen, sein soziales Umfeld, seinen Lebensansatz selbst vernichtet.

Gewinnen wird der nichts und wenig erben,
Wer seinen klaren Blick verloren hat:
Das Glück ist nur im Ausgleich zu erwerben.
Das LyrI sieht jetzt wieder klarer, dass nur Nehmen auf die Dauer nicht gut gehen kann, nur der Ausgleich von Geben und Nehmen. Aber die Einsicht kommt zu spät. (Sprachlich gefiele mir ein "Der" statt "Wer" hier etwas besser).

Ein sehr schönes Gedicht, in dem eine ungute Situation aufgearbeitet wird. Der Titel Scherbengericht passt genau.

Liebe Grüße

Herbert
 

Walther

Mitglied
lb. herbert,

danke für deinen freundlichen eintrag. die frage ist: kann man scherben kitten? das tragische ist, daß man nicht nur alle splitter finden und richtig zusammenfügen müßte. des weiteren wäre der richtige leim oder klebschaft nötig. und letztens wäre das frühere ganze zwar repariert, aber nicht wirklich wieder "ganz".

es gibt bei scherben ein davor und ein danach. meist gibt es aber mehr als das. die zeit, also der gerade fortgang der ereignisse, wird unterbrochen. auch sie zerbricht.

so ist der ausgangspunkt zu diesem text, der weitere aspekte eines bruchs des kontinuums beleuchtet.

ich danke dir sehr für die feinfühligen aufarbeitung.

lg w.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther,

das Kitten ist in meinem Kommentar zu wenig thematisiert worden. Du hast natürlich recht, dass der Wunsch danach zentral ist. Ob es geht, bleibt natürlich offen.

Liebe Grüße und viele Leser für dieses Sonett :)

Herbert
 

Label

Mitglied
SUPER!

ich bin von der Aufbereitung dieser Lebensweisheit ganz angetan.
Glückwunsch Walther

lieber Gruß
Label
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Fraglos ein perfekt geformtes Sonett.
Ganz leicht läßt sich der Gedanke nicht fassen. Ich verstehe nicht gut, wie "der Tag Gewesenes zerstört". Gewesenes ist (in meinem Verständnis) unabänderlich, mag sich einer darein fügen oder nicht (wie das lyrische Ich). Oder sollen diese logischen Inkonzinnitäten den Scherbensalat mitabbilden? In klarem Widerspruch zu eben der ebenmäßigen Symmetrie der reinen, stabilen, geradezu kristallinen Sonettform?
 

Label

Mitglied
Gewesenes könnte eine Vorstellung gewesen sein, die nun revidiert ist oder z.B. ein Vase deren Scherben man immer noch als Vase bezeichnet, oder das Königreich Mitanni z.B. wird immer noch als solches bezeichnet obwohl das vor 2500 Jahren gewesen ist
 

Walther

Mitglied
hi mondnein,

danke für deinen eintrag. was "gewesen" ist, ist eine frage des blickwinkels und der sich verändernden kenntnis dessen, was wirklich war. der historiker kennt dieses phänomen, ebenso der seelenheilkundler. und natürlich jeder aufmerksame beobachter.

das bild ist also korrekt. ein radikales ereignis verändert den blick auf die dinge. mit der zukunft wird auch die vergangenheit beschädigt - oder gar, wie hier beschrieben, zerstört.

danke für deine freundlichen worte zur form.

lg w.
 

Walther

Mitglied
hi label,

in der tat, darum geht es. ich erwarte durchaus auch von der aktuellen nsa-affäre eine neubewertung der vergangenheit. es werden illusionen zerstört und neue sichtweisen und zusammenhänge entstehen. das verändert das gewesene.

lg w.
 

Walther

Mitglied
hi herbert,

leser sind wichtiger. ;) und käufer, wenn es um meinen lyrikband geht. :)

danke und lieber gruß w.
 



 
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